Thema der Ausgabe 3/2019:

Wissbegierde und Lebensfreude

Was behindert, wurde schonungslos entlarvt.
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Wissbegierde und Lebensfreude

Wissbegierde und Lebensfreude |Die inklusive Pädagogik von Nicola Cuomo

L’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere“, das Motto von Nicola Cuomo ist schwer zu übersetzen: Empathie und Verstehen, Freude am Verstehen und die Sehnsucht zu existieren, die Lust an der Erkenntnis und das Verlangen zu existieren, sind nur Annäherungen. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ohne Emotion und ohne den damit verbundenen Wunsch, auf dieser Welt existieren zu wollen, keine menschliche Erkenntnis möglich ist. 

Dieser „emotionale Erkenntnisraum“, wie es Erik Weber ausdrückt, hat immer noch innovatives, ja revolutionäres Potenzial. „Emozione e collaborazione“ – Gefühl und Zusammenarbeit – waren für ihn die Grundpfeiler eines positiven Zusammenlebens.

Jutta Schöler, die Doyenne der deutschen Integrationsbewegung, machte Nicola Cuomo bei uns bekannt. Sein Buch „Schwere Behinderungen in der Schule“, von ihr ins Deutsche übersetzt, hatte für viele von uns Kultstatus. Hier nahm jemand die Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes ernst und baute auf den Erfahrungen aller Beteiligten auf. Wir zeigen Ihnen in verdichteten Sequenzen, die Suche nach einem gemeinsamen Weg mit Sergio, Daniela und Renzo.

Die Idee zu diesem Schwerpunktthema liegt schon einige Zeit zurück, leider ist Nicola Cuomo zu früh verstorben. Dabei hat uns Stefan Meyer immer tatkräftig unterstützt. Gemeinsam mit Alice Imola, Elisabetta Bacciaglia und Concita Filippini schildert er die Methode von Nicola Cuomo: Empathie und Verstehen. „Der Freund bietet uns seine Erfahrungen an, damit wir bei der Arbeit und in Beziehungen erfolgreicher sind.“ 

Diese Freundschaft durfte auch Miguel López Melero erfahren. Er schildert Nicola Cuomo als großen Pädagogen, der ein Leben lang für eine öffentliche Schule kämpfte, die niemanden ausschließt. 

Walther Dreher wagt den mächtigen Versuch, aus der Zukunft her (dal avvenire) die Kraft der Anregungen Nicola Cuomos weiter zu entfalten. Der Schmetterling ist dabei ein Symbol für diese Impulse. Es ist nicht nur das Sprengen eines festen Kokons, sondern auch der lautlose Flügelschlag, der woanders unter Umständen einen Wirbelsturm zu entfachen vermag. Er fügt dem Denken Nicola Cuomos die Kernstücke von Otto Scharmers „Theorie U“, die drei „Sensorien“, hinzu: das Öffnen des Kopfdenkens, des Herzdenkens und der Willenskapazitäten. „Lasst euch wachrütteln von der Zukunft her – esistere dal avvenire!“

Die beeindruckende Persönlichkeit von Nicola Cuomo hat uns, die wir das Glück hatten, ihm zu begegnen oder mit ihm zu arbeiten, die Augen geöffnet. Er selbst konnte mit seinen Augen nicht sehen, er war uns Sehenden aber in vielem weit überlegen. Das fing bei der räumlichen Orientierung an, er hatte ganze Städte im Kopf, deshalb wahrscheinlich sein unübertroffenes Sensorium, wie sich sensible Kinder ihren Raum wohnlich machen müssen. Die Vernachlässigung des Raumes in der Pädagogik schreit noch immer zum Himmel! Die Verflechtungen von Raum und Zeit beachtete er bis in die kleinsten Bewegungen des Körpers. Die feinste Qualität der Dinge, das diffizile Geflecht der Beziehungen erkannte er in allen Einzelheiten. So achtete er bei einem Gespräch nicht nur auf dessen Inhalt, sondern auch auf die Stimmen im Raum, auf Verzögerungen oder Unsicherheiten und auf die subjektiven Bedeutungen der Beteiligten, da er sich deren Sicht schildern lassen musste. Und immer wieder beachtete er bei der Verständigung auf die konstitutive und entscheidende Rolle der Gefühle. 

Bei Franco Basaglia erlebte er, was institutionelle wie persönliche Vorurteile bei einem Menschen anrichten können, deshalb konnte ihn nichts zurückhalten, die Ressourcen behinderter Menschen und deren Angehörigen zum Vorschein zu bringen. Was behindert, wurde von ihm schonungslos entlarvt.

Die Wahrheit stand für Nicola Cuomo, im Gegensatz zu derzeitigen ideologischen Debatten zur Inklusion, nicht von vornherein fest, sie war eher eine gemeinsame Frage, die auf konkreten Erfahrungen beruhte. Es wäre sicherlich in seinem Sinne, wenn wir in seinen Spuren nicht nur nach Antworten suchten, sondern wieder vermehrt Fragen stellten. 

Nicola Cuomo würde uns nach einem gemeinsamen, anregenden Disput über Inklusion fragen, ob wir nicht dadurch Lust bekommen hätten, auf einen Cappuccino in die nächste Bar zu gehen, oder auf ein Eis im besten Eissalon von Bologna, sogar noch um Mitternacht.

Josef Fragner, Chefredakteur

josef.fragner@behindertemenschen.at

 

Leseproben:

Textiles, bedrucktes Gewebe, das mit Fäden in mehreren Farben bestickt ist. Raffaella Niederkoffler
Porträtfoto von Prof. Dr. Jutta Schöler, der Doyenne der deutschen Integrationsbewegung
Fachthema
Jutta Schöler

Schwere Behinderungen in der Schule

1982 habe ich Nicola Cuomo in Bologna kennen gelernt. Zuvor war ich in Florenz. Ludwig Otto Roser hatte mir die ersten Kontakte vermittelt. Damals konnte ich mich in Schulen von Florenz davon überzeugen: Das ist möglich! Gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, ohne Ausnahme.1 Bei einem meiner Besuche in einer Schule in Florenz wurde mir von den Lehrerinnen empfohlen: „Wenn Sie mehr wissen wollen über die Integration von Kindern mit Behinderung, dann müssen Sie nach Bologna fahren, zu Andrea Canevaro und Nicola Cuomo.“

Prof. Nicola Cuomo mit dunkler Brille sitzt vor dem Laptop und überlegt angestrengt. Foto Stefan Meyer
Prof. Nicola Cuomo mit dunkler Brille sitzt vor dem Laptop und überlegt angestrengt. Foto Stefan Meyer
Spuren, die Nicola Cuomo hinterlassen hat
Stefan Meyer, Erik Weber, Alice Imola, Elisabetta Bacciaglia

Begegnungen mit Nicola Cuomo

Stefan Meyer, Erik Weber, Alice Imola und Elisabetta Bacciaglia: Sie alle sind in ihrem Leben Nicola Cuomo begegnet und haben mit seinem Konzept „l’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere“ (EDC) – Empathie und Verstehen und die Sehnsucht zu existieren – gearbeitet. Eine Zusammenarbeit, die Spuren hinterlassen und verändert hat. In den folgenden Beiträgen schreiben sie darüber und bringen uns so einen großen Menschen und Wissenschaftler näher.

Auf der flachen Hand sitzt ein Insekt und kann wegfliegen, wann es will. Foto Cattari Pons / photocase.de
Auf der flachen Hand sitzt ein Insekt und kann wegfliegen, wann es will. Foto Cattari Pons / photocase.de
Gedanken einer Mutter
Cornelia Weber

Loslassen und warum das so schwer ist

Das Handy klingelt und schweigt gleich nach zwei kurzen Tönen wieder. Der Fahrdienst. Das ist ihr Zeichen, wenn sie im Anflug mit dir sind und ich nach draußen kommen soll, um dich in Empfang zu nehmen. Ich werfe mir schnell eine Jacke gegen die Kälte über und renne nach draußen. Der kleine Transporter-Bus mit dem großen Rollstuhlzeichen darauf und einem weiteren daneben für Kinder hat bereits ein kleines Verkehrschaos angerichtet, indem er verkehrt herum an unserem Fußweg parkt und schon die Rampe aus dem Heck ausklappt. Hupend und wild gestikulierend warten die Autofahrer, dass du herausgerollt wirst und der Bus weiterfährt. Und da kommst du. Dick eingepackt – so, dass keiner erahnen könnte, was für ein zartes Wesen da unter all den wärmenden Schichten verborgen ist. Blonde Locken quellen unter der dicken Mütze hervor und der Mann vom Fahrdienst schaut mich achselzuckend und gleichzeitig hilflos entschuldigend an, als du kurz aufschreist. „Macht sie schon die ganze Fahrt“, sagt er knapp. Schnell das Gefälle der Rampe hinunter, immer noch begleitet von einem Hupkonzert, drückt er mir die Griffe deines Rollstuhls in die Hand. Festhalten.

2 Schüler haben das Schuhwerk getauscht, sodass jeder zwei verschiedene Sandalen anhat.
Porträtfoto von Univ.-Prof. Dr. Hans Karl Peterlini
Inklusion in Südtirol
Hans Karl Peterlini

Inklusion ist (un)möglich

Der italienische Weg (fast) 100-prozentiger Inklusion am Beispiel Südtirol

Für ein derzeit vielseits gerühmtes ‚Modell‘ war der Anfang ziemlich chaotisch: In den 1980er Jahren herrschte in Südtirol ein dramatischer Mangel an Lehrkräften. Der südliche Teil des altösterreichischen Tirols war als Folge des 1. Weltkrieges 1919/20 von Italien annektiert worden, fast ein halbes Jahrhundert stagnierte das kulturelle Leben im Tauziehen zwischen Staat und Minderheit.

Wild wucherndes, langes Gras – mittendrin eine rote, kräftige Mohnblume.
Porträtfoto von Dr. Christel Manske
Vom sorgfältigen Blick in der Pädagogik
Christel Manske

„Dann wird auch das Wort Behinderung verschwinden“

Wir kennen alle die Augenblicke, die unser Leben verändert haben. Es war nur eine Geste, ein Wort, eine Erfahrung und nichts ist mehr, wie es war.

Die Daumen nach oben: Andreas Pröve mit einem motorbetriebenen Rollstuhl unterwegs in China. Foto Pröve
Die Daumen nach oben: Andreas Pröve mit einem motorbetriebenen Rollstuhl unterwegs in China. Foto Pröve
Anderswo
Andreas Pröve

China – von Shanghai nach Tibet

Unbändige Abenteuerlust treibt den querschnittsgelähmten Andreas Pröve immer wieder in die Welt hinaus. Auf seiner jüngsten Tour ist er dem Jangtsekiang über 6000 Kilometer gefolgt – von der Mündung bei Shanghai quer durch China bis zu seiner Quelle im tibetischen Hochland. In Behinderte Menschen schildert er, wie es ihm erging.

Inhalt:

Artikel
Schwere Behinderungen in der Schule
Empathie und Verstehen. Die Methode von Nicola Cuomo
Humanismus, Demokratie und Emanzipation: Ein lebenslanges Engagement für eine inklusive Schule
Mosaiksteine einer zukunfts-gegenwärtigen inklusiven Kultur von Nicola Cuomo und C. Otto Scharmer
Loslassen…
Begegnungen mit Nicola Cuomo
Nullschwellen: Was geschah seit 2017?
Glück lässt sich nicht testen!
Verstehen wir einander?
Kinder
„Dann wird auch das Wort Behinderung verschwinden“
Inklusion ist (un)möglich
China – von Shanghai nach Tibet
„Sonntagsruhe in Groß-Jedlersdorf“
Schnelle Manöver, spektakuläre Tore
Ein Buch, das Mut macht