Auf der flachen Hand sitzt ein Insekt und kann wegfliegen, wann es will. Foto Cattari Pons / photocase.de

Foto: Cattari Pons / photocase.de
aus Heft 3/2019 – Gedanken einer Mutter
Cornelia Weber

Loslassen und warum das so schwer ist

Das Handy klingelt und schweigt gleich nach zwei kurzen Tönen wieder. Der Fahrdienst. Das ist ihr Zeichen, wenn sie im Anflug mit dir sind und ich nach draußen kommen soll, um dich in Empfang zu nehmen. Ich werfe mir schnell eine Jacke gegen die Kälte über und renne nach draußen. Der kleine Transporter-Bus mit dem großen Rollstuhlzeichen darauf und einem weiteren daneben für Kinder hat bereits ein kleines Verkehrschaos angerichtet, indem er verkehrt herum an unserem Fußweg parkt und schon die Rampe aus dem Heck ausklappt. Hupend und wild gestikulierend warten die Autofahrer, dass du herausgerollt wirst und der Bus weiterfährt. Und da kommst du. Dick eingepackt – so, dass keiner erahnen könnte, was für ein zartes Wesen da unter all den wärmenden Schichten verborgen ist. Blonde Locken quellen unter der dicken Mütze hervor und der Mann vom Fahrdienst schaut mich achselzuckend und gleichzeitig hilflos entschuldigend an, als du kurz aufschreist. „Macht sie schon die ganze Fahrt“, sagt er knapp. Schnell das Gefälle der Rampe hinunter, immer noch begleitet von einem Hupkonzert, drückt er mir die Griffe deines Rollstuhls in die Hand. Festhalten.

Ich schiebe dich in Richtung unserer kleinen Wohnung. Dein Gepäck – der Schulrucksack und eine große Tasche mit deinen Beinschienen, die bis zu deinen Oberschenkeln gehen, mit denen du aber nicht sitzen kannst – behindert meinen schnellen Schritt. Du ignorierst meine Begrüßung und mein Lachen, das über meine innerliche Aufgewühltheit hinwegtäuschen soll, und schreist immer wieder. Kurz aber laut. Durchdringend. In der Wohnung wickle ich dich, so schnell es mir möglich ist, aus all deinen Schichten. „Suchen!“, denke ich. „Such die Ursache.“ Was ist los mit dir? Das sieht dir nicht ähnlich! Du bist ein fröhliches, lächelndes, meist ausgeglichenes Kind ohne chronische Schmerzen. „Such!“, denn du kannst es mir nicht sagen. Sprechen kannst du nicht. Genauso wenig wie laufen. Du kannst nur durch Schreien verständlich machen, dass etwas nicht stimmt. Und das tust du ja gerade. „Such!“ Ich schwitze, ziehe dir keuchend vor Panik die Schuhe aus und reiße dir die Orthesen darunter förmlich von den Füßen. Die Orthesen, die deine winzigen Füße in eine Trittfußstellung zwingen sollen, damit du gehängt in eine große Apparatur mit unzähligen Klettverschlüssen, die wir „Stehständer“ nennen, wenigstens kurzzeitig stehen kannst. Sie sind aus hartem Plastik – vielleicht stören sie dich? Es wäre nicht das erste Mal. Doch du schreist weiter. Kurz aber immer wieder. Wirkst panisch. Und ich werde es auch. Trotzdem lache ich dich an, bemühe mich um eine fröhliche Intonation beim „Hallo, meine Hübsche!“ und um eine beruhigende bei dem „Was hast du denn? Alles wird gut“, das ich mantraartig wiederhole. Förmlich reiße ich dir dein Korsett vom Leib. Das hat dich schon so oft geärgert. Es behindert dich beim Atmen, schneidet sicher auch ein und hilft dir doch gleichzeitig, dich aufrecht zu halten und deine Wirbelsäule vor noch mehr Verkrümmung zu bewahren. „Such!“ Ich schwitze. Du schreist. Ich rede mit dir, versuche, beruhigend zu klingen. Ich schiebe dich in dein Zimmer, wuchte dich auf dein Bett. Kurz verziehe ich bei dem Stich im Rücken, den es mir zusetzt, das Gesicht. Du wirst schwer, mein Floh. Bald werden wir einen Lifter brauchen. Flugs wechsle ich deine Windel. Ist sie voll? Das magst du nicht. Schreist du deshalb? „Such!“, schreist du wieder und wirst noch energischer, als ich auch noch Fieber messe. Das hasst du. „Bist du krank, meine Sonne?“ Nein, kein Fieber, das ist es nicht. Ich hieve dich zurück in den Rollstuhl und wir eilen in die Küche. „Schnell ein Glas Apfelmus warm machen“, denke ich. Vielleicht hast du ja Hunger! Während die Mikrowelle das selbstgemachte Mus erwärmt, frage ich dich wieder. „Was hast du, meine Große? Tut dir was weh? Hast du Hunger? Gleich ist das Essen so weit“, versuche ich uns beide zu beruhigen und streichle, streichle dich. Du isst nur pürierte Kost. Du hast gute Zähne, aber weißt sie nicht zu benutzen. Ich schlinge dir den riesigen Latz um, den wir groteskerweise bei einem Altenpflegeausstatter kaufen mussten und los geht’s. Du isst das Mus schnell. Und greifst dabei den kleinen hölzernen Maulwurf – eines deiner Lieblingsspielzeuge – und hältst ihn fest. 

Einen winzigen Moment driften meine Gedanken ab zu deinen ersten Lebensjahren, in denen du nicht essen wolltest und jedes Löffelchen ein Kampf war. Für dich und für mich. Wie alle von PEG (künstlicher Zugang durch die Bauchdecke in den Magen) gesprochen haben. Wie ich mich gewehrt habe! Kein Plastik sollte dauerhaft in dich gestopft werden. Lieber haben wir Jahre der Gratwanderung hingenommen, tapfer dem Schlafrhythmus mit zweistündiger Unterbrechung zum Fütterversuch auch nachts getrotzt. Es hat mich alt gemacht. Es hat dich vor einer PEG bewahrt. „Such!“, schreist du wieder, zwischen den Schlucken. „Verschluck dich bloß nicht!“, denke ich. Apfelmus in der Lunge. Pneumonie. Krankenhaus. Sauerstoff. So wie wir deine ersten beiden Lebensjahre mit einem Tank mit Flüssigsauerstoff in der Wohnung gelebt haben. Und einem 15-Meter-Schlauch, der durch alle Räume lag. 15 Meter, an deren anderem Ende du lebtest. Kränklich, blass und blau aussahst. Aber lebtest! Auch den Sauerstoff haben wir abtrainiert. Keine PEG. Kein Plastikschlauch. Du hast es geschafft. Das Atmen. Du kannst es allein. Genauso wie das Essen. Dennoch. Die Angst bleibt. „Verschluck dich nicht!“ Noch immer schlingst du. Mein Herz rast. Wieder schreist du „Such!“. War es nicht der Hunger? Oder braucht das Sättigungsgefühl ein bisschen, ehe es in deinem Kopf angekommen ist? Oder hast du Durst? Schnell mache ich dir Tee warm, der schon auf dich gewartet hat. In großen Schlucken trinkst du. „Wie kann das sein?“, denke ich. Du bist gerade aus der Schule gekommen. Bis vor einer halben Stunde warst du von Menschen betreut, die dich seit sieben Jahren kennen. Genauso lange, wie du schon in diese Förderschule gehst. Hätten sie nicht merken können, dass du durstig bist? Hungrig? Latenter Zorn steigt in mir auf. Und grenzenlose Hilflosigkeit. Wenn sie es nicht merken, die dich so lange schon kennen und deren Personalschlüssel von nahezu 1 : 1 es zulassen würde, genau auf deine Bedürfnisse zu schauen, wie soll es später einmal werden? Was soll nach der Schule kommen? Du bist 13 Jahre alt. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Sprechen zu lernen. Wenigstens Ja und Nein. Dass man dich fragen kann, was dir fehlt. Abfragen. Doch so groß auch deine Sensibilität für die Melodie meiner Stimme ist – du weißt genau, ob ich schimpfe oder lobe –, so egal scheint dir doch der Inhalt meiner Sätze. Würdest du ihn wenigstens verstehen! Du könntest auch auf einer Taste der unterstützten Kommunikation ein Ja oder ein Nein drücken, wenn du es nicht sprechen magst. Du drückst jeden Tag so eine Taste, die im Morgenkreis in der Schule von deinem Nachmittag erzählt, mit meiner Stimme, und mir nachmittags mit der Stimme einer Betreuerin in der Schule von deinem Tag. Aber weiter sind wir nicht gekommen. Lern, mein Kind! Du kannst das schaffen! Du hast schon so vieles geschafft! So ziemlich alles, was dir zum Beispiel keiner deiner vielen Ärzte jemals zugetraut hätte! Als du geboren wurdest, mit Kaiserschnitt bei Vollnarkose, bin ich aufgewacht und du warst weg. Sie hatten versprochen, dich bei mir zu lassen, wenn alles gut ist, bis ich wach bin. Es war also nicht alles gut? Du, die du bis soeben noch in meinem Bauch um jeden weiteren Tag darinnen gekämpft hast, warst weg. Ich war auf einer Intensivstation. Allein. Ich konnte mich nicht bewegen. Bis eine Schwester kam und mir sagte, dass du es auch bist. Auf einer Intensivstation in einem anderen Gebäude. Ich zu viel Blut verloren hätte und nicht zu dir dürfe. In ihrer Hand hatte sie eine Polaroid. Sie hielt sie mir verkehrt herum hin und sagte, ich solle es mir nicht ansehen. Du sähst nicht schön aus. Und ehe ich zu dir dürfe, würdest du ohnehin tot sein. Festhalten. 

Wir haben gekämpft. Wir alle. Du am meisten. Und nun schau dich an. Du bist ein wunderschönes, blond gelocktes Mädchen geworden, zart und feingliedrig, das außer einer Brille keinerlei Plastik mehr an sich hat. Zumindest nicht dauerhaft. Du lächelst viel. Du brauchst bis auf ein bisschen Blutverdünnung keine Medikamente mehr. Du bist frech und charmant. Du hast so vieler Menschen Sicht auf das Leben verändert. Ihre Wertigkeiten neu ordnen lassen. Kleine Dinge großgemacht. Du freust dich darüber, wenn man dir einen Grashalm in die Hand gibt, während Freundinnen ratlos werden, welches Smartphone sie ihren Kindern zum Geburtstag schenken. Du bist ein Kunstwerk, angetreten, um die Welt zu verändern. Zu verbessern. Und doch schlägt mein Herz in größter Panik, wenn ich an deine Zukunft denke. Vertrauen. Ich muss vertrauen. Anderen Menschen. Dass sie es gut mit dir meinen. Dass sie sich um dich kümmern. Vielleicht nicht wie ich, aber anders gut. Dass sie deine Händchen fühlen, ob dir kalt oder warm ist und dir nicht deine Fleecejacke ausziehen, weil ihnen selbst warm ist. Dass sie das Essen mit den Lippen probieren, bevor sie es dir in den Mund geben. Dass sie wissen, dass du ihnen manchmal vor Freude oder als Aufforderung zur Interaktion auf die Hand schlägst, die dir mit dem Brei entgegenkommt und das nicht heißt, dass du nicht essen willst. Dass sie deine Windel wechseln. Manchmal auch nach zehn Minuten schon wieder, denn du liebst es, in eine frische Windel zu machen. Dass sie nachts auf dein Wimmern hören und zu dir gehen. Und dich trösten. Oder schon wieder wickeln. Oder Fieber messen. Einfach suchen. Was dir fehlt. Was du willst. Dich festhalten. 

Ich lerne Vertrauen, seit du in den Kindergarten gekommen bist. Und doch stehe ich nun hier und ertappe mich bei dem Gedanken, ob sie es heute hätten merken müssen. Die Schule. Dass du Durst hast. Und Hunger. Dabei leisten sie einen so tollen Job. Sie sind kreativ und machen so viel mit euch. Versuchen euch die Welt auf andere Weise zu erklären. So, wie ihr sie erfassen könnt. 

„Such!“, schreist du mich aus meinen fliegenden Sekunden-Gedanken und unterbrichst damit deine hastigen Schlucke. „Das ist es nicht!“, denke ich. Liegt es weder an Hunger noch an Durst? Du schreist noch immer, schreist mir tief ins Herz, in dem sich vor allem eine grenzenlose Hilflosigkeit ausbreitet. Keine 15 Minuten sind seit deiner Ankunft vergangen. So schnell ich konnte, bin ich alles Naheliegende durchgegangen. Ich finde es nicht! Mein Kind, nicht mal deine Mutter findet es! Ich rolle dich zu unserer großen Liegecouch und hieve dich auf die Kante. Du machst dich schwer, willst nicht gehoben werden. Ich lege mich auf den Rücken und ziehe dich mit mir. Meine Hand wieder fühlend in deinem Nacken. Fieber? Nein, kein Fieber. Meine Lendenwirbelsäule sticht und schmerzt und lässt mich den Atem anhalten, während ich deine 33 kg auf mich wuchte – bäuchlings. Dein Bauch auf meinem. Dein Atem geht schnell, meiner schwach wegen des Gewichts, der Schweiß rinnt. „Such!“, schreist du wieder und meine Hand zwingt dein Köpfchen in meine Halsbeuge. Ich summe. Du schreist. Du zappelst herum. Ich halte dich fest. 

Ich singe. Ich summe. Tränen laufen meine Wangen hinab. Was soll ich tun? Was ist mit dir? Ist es das Herz? Müssen wir ins Krankenhaus? Hast du andere Schmerzen? Ich habe doch alles abgebaut, was dir weh tun könnte. Auf was komme ich nicht? „Denk“, sage ich zu mir selbst, „denk!“. Du bist 13. Hast du Frauenschmerzen? Passieren gerade dir neue, schmerzende Dinge mit deinem Körperchen? Ich summe. Und summe. Langsam wirst du ruhiger. Dein Gesicht ruckelst du an meinem Hals möglichst so zurecht, dass du viel Hautkontakt hast. Du bist schwer, ich kann dich kaum auf mir halten. Mein Atem summt stoßweise. Aber ich summe. Alle Lieder, die mir einfallen. Doppelt. Dreifach. Und du lauschst. Einmal kurz schreist du noch. Dann bist du still. Etwa eine Stunde nach deiner Heimkehr bist du nun ruhig. Warum und was es war, weiß ich immer noch nicht. Ich merke, wie dein Körper sich entspannt. Du liegst still, das Gesicht an meinem Hals vergraben. Ab und zu ruckelst du es zurecht, sodass ich weiß, dass du es genießt. Etwa eine weitere Stunde liegen wir so. Du lässt los. 

Man hat mich gefragt, warum es eigentlich so schwer für uns Eltern von Kindern mit Behinderung ist, loszulassen. Warum es so schwer ist loszulassen? Was heißt loslassen? Man kann einen Luftballon loslassen und er wird davonschweben. Man kann auf einer Brücke eine Blüte loslassen und sie aufs Wasser fallen sehen. Loslassen ist dann immer gefolgt davon, dass etwas weg ist. Können Eltern ihre Kinder jemals loslassen? Die Schwiegermutter einer Freundin kommt jeden Tag zu ihrem Sohn, da sie nur ein paar Häuser weiter wohnt. Sie legt ihm auch die von ihr neu für ihn gekaufte Unterwäsche in die Schublade. Niemand von ihnen hat eine Behinderung. Man könnte denken, dass das ja nicht normal ist. Was ist denn normal? Wer definiert normal? Die Mutter einer anderen Freundin wäscht deren sämtliche Wäsche und putzt deren Haus und obwohl sie im Nachbarort wohnt, geht sie bei der Freundin und ihrer Familie mindestens täglich ein und aus. Auch hier hat niemand eine Behinderung. 

Haben diese Mütter losgelassen? Und wann ist der Punkt dafür? Mir scheint es so, dass Eltern beginnen, ihre Kinder ein eigenständigeres Leben führen zu lassen, sobald und wenn diese es initiieren. Würde der Mann meiner Freundin sich dagegen wehren, dass seine Mutter ihm die Unterwäsche kauft, würde sie es vielleicht lassen. Kinder ohne Behinderung werden selbstständig. Bei allem, was sie allein können, müssen Mütter nicht mehr unterstützen. Mein Kind kann selbstständig atmen. Darum haben wir lange gekämpft. Sie kann die pürierte Nahrung schlucken, die man ihr in den Mund gibt. Sie kann ein Spielzeug hinter sich schmeißen, das sie nicht mehr will. Außerdem kann sie noch lachen und jauchzen, vor Vergnügen glucksen und mich in den Arm zwicken, bis man schimpft, um dann loszukichern. Sie kann sich die Decke vom Kopf wegziehen oder drüber, um das Kuschelfleece zu fühlen. Aber sie kann nicht sprechen. Sie kann nicht laufen. Sie kann nicht auf die Toilette gehen. Sie wird niemals selbstständig sein. Sie wird abhängig sein von der Hilfe anderer Menschen. Menschen, die sie kennen bzw. sich bemühen, sie so genau kennenzulernen, dass sie an Nuancen ihres Verhaltens ihre Bedürfnisse ablesen können. Menschen, die so lange suchen wie ich gerade. Mit dem Ziel, ihr Wohlbefinden zu erhalten oder wieder herzustellen. Auch wenn das heißt, dass man manchmal die Ursache gar nicht findet. 

Der Zeitpunkt, an dem mein Kind von sich aus initiieren wird, sich von mir abzunabeln, wird nicht kommen. Ihr sprecht immer von Ablöseprozess. Ich übe die Ablösung, seit ich beginnen musste, euch zu vertrauen, als mein Kind in den Kindergarten kam. Und dann in die Schule. Ich übe. Sie ist viele Stunden am Tag nicht bei mir. Ich finde, ich mache das schon ganz tapfer. Ich habe gelernt, dass ihr viele Dinge anders macht als ich und dass sie dennoch gut sind. Ich habe gelernt, dass ihr auch wollt, dass es meiner Tochter gut geht. Ich habe aufgehört, alles wissen zu wollen, denn ihr empfindet es als Kontrolle. Aber es war und ist nicht leicht. Sie ist noch so klein. Sie wird irgendwie auch immer „klein“ bleiben. Nicht unabhängig werden. Sie kann nicht erzählen. Ich muss euch alles glauben. Und damit leben, dass ich nicht alles erfahre. Sie ist 13. Würde ich das bei einem gleichaltrigen Kind ohne Behinderung sonst nicht? Ihr sprecht immer von altersgerecht. Was meint ihr damit? Beinhaltet der Ablöseprozess, dass ich jetzt die Türen ihres Zimmers zuschlage, weil sie es nicht kann? Und ich für sie Poster an ihre Wand klebe von Boy-Bands? Dass ich mit ihr über Jungs diskutiere und über Make-up? Meine Tochter hat eine riesige, stetig wachsende Auswahl verschiedener Babyklappern bzw. Musikinstrumente, wie wir sie nennen. Sie liebt sie. Wäre es altersgerecht, sie ihr wegzunehmen? Sie will sie bewegen und festhalten

Wann kommt der Zeitpunkt, an dem sie das nicht eigenständige – da auf 24 Stunden Unterstützung angewiesene, aber abgenabelte – Leben führen soll, das ihr meint? Es ist mir bewusst, dass sie eines Tages in einer anderen Konstellation als mit mir wird leben müssen. Vielleicht, wenn sie 20 ist. Oder 25. In einer Einrichtung. Oder in einer WG, die ich für sie erschaffen könnte. Damit sie noch mehr als in der Schule lernt, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Damit sie selbstbestimmt sein kann, sagt ihr immer wieder. Sie kann nicht sprechen. Sie versteht nicht, was man ihr sagt. Zumindest kann man an ihren Reaktionen nicht unbedingt ablesen, dass sie uns versteht. Was also meint dieses Wort Selbstbestimmung in ihrem Falle? Versteht mich nicht falsch, ich bin ein absoluter Verfechter der Selbstbestimmung, aber genau hier, bei meiner Tochter, bin ich hilflos, was es meint. Wir erschaffen ihr Leben. Wir konstruieren ihren Tagesablauf. Wir entscheiden, wann sie spazieren geht und wann schwimmen, ob sie kurze oder lange Hosen angezogen bekommt und was sie isst. Wir können allenfalls anhand heftiger Reaktionen wie Lachen zum einen oder Schreien zum anderen ablesen, wenn etwas genau richtig oder total falsch war. Zu allermeist aber merken wir nichts. Mein Kind ist ausgeglichen. Man könnte auch sagen, was Entscheidungen angeht, findet sie sich mit vielem ab. Nur in seltenen Situationen wie jetzt werden wir mit der Begrenztheit unseres Verständnisses für sie und ihre Sichtweise der Welt konfrontiert sein, wenn sie zum Beispiel schreit. Und wir den Grund nicht finden. Auch ich den Grund nicht finde. Ich möchte euch so gern vertrauen. 

Ihr besucht Kurse, die „Kommunikation mit Eltern“ heißen. Müsst ihr lernen, wie ihr mit uns sprechen sollt? Sind wir besonders sensibel zu behandeln? Wir Eltern mit behinderten Kindern? Sind wir anders? Können wir per se alle nicht loslassen und ihr versucht, in Schulungen zu lernen, wie man uns das beibringt? Gibt es ein „Ihr“ und ein „Wir“? Ziehen wir nicht alle am selben Strang? Wollen wir nicht alle, dass es Menschen mit Behinderung gut geht? Ihr gebt eure Arbeitskraft, Energie und Empathie dafür. Ihr hättet auch Tischler werden können oder Bauingenieur. Ich bin so dankbar, dass ihr das nicht geworden seid. Ihr wollt euch um Menschen kümmern, die Hilfe brauchen. Ich danke euch dafür! Aber bitte versteht, dass ich ein Mensch bin wie ihr, ein Mensch, der sein Kind über alles liebt. Das ist es, was ich einbringe. Liebe. Manchmal gepaart mit einer ohnmächtigen Angst um mein Kind in einer Welt, die immer schneller wird und in der man nicht dazu gehört, wenn man nicht gewisse Kriterien erfüllt. Denn meine Tochter erfüllt sie nicht. Es tut mir von Herzen leid, wenn das manchmal wie ein großes „Nicht-Loslassen-Können“ wirkt. Oder wie Kontrolle. Aber eigentlich wollen wir doch dasselbe! Bitte seht uns auf derselben Seite! Lasst uns sprechen! Lasst uns einander verstehen! Habt ihr auch ab und zu Angst? Angst, etwas falsch zu machen? Seid ihr auch unsicher manchmal im Umgang mit meiner Tochter? Weil sie sich doch nicht verbal äußern kann! Ergeht es uns nicht manchmal ganz ähnlich – in unserer Hilflosigkeit genauso wie in unserer Freude über kleinste Fortschritte? Und sicher seht ihr manche Dinge einfach anders als ich. Weil ihr andere Menschen seid. Vielleicht auch einiges etwas unemotionaler sehen könnt als ich. Und das auch müsst. Aber sagt es mir! Berichtet mir von euren anderen Eindrücken, anderen Ideen! Lasst uns gemeinsam überlegen! 

Ich möchte euch so gern vertrauen! Vertrauen, dass ihr, wenn meine Tochter zum Beispiel schreit, dann genauso sucht und verschiedene Dinge versucht, bis es ihr wieder gut geht. Nicht, weil es euer Job ist. Eure Aufgabe. Sondern weil ihr auf derselben Seite kämpft wie ich! Weil ihr wirklich WOLLT, dass sie wieder lächelt. Ich möchte euch vertrauen können, dass es euch um SIE geht. IHR Wohlbefinden. Weil ihr sehen könnt, dass sie ein toller, ein wunderbarer Mensch ist. Eine Bereicherung. Keine Last. Sondern wertvoll. Ich will euch so gern vertrauen. Vertrauen, dass ihr natürlich den Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellt. Und dass ihr vielleicht manchmal auch Überlegungen für den behinderten Menschen im Zentrum anders verteidigt oder Meinungen, die von denen der Angehörigen abweichen. Besonders bei Themen wie Sexualität, die Eltern schwerer fallen als euch. Aber ich möchte so gern sicher sein, dass ihr dennoch mich, mich als Mutter, als nah und nahest zu meiner Tochter gehörig empfindet, genauso nicht als Last! Sondern als Teampartner. Als auf derselben Seite! 

Dann könnte ich vielleicht besser LOSLASSEN.

 

Cornelia Weber ist 40 Jahre alt und hat Kunstgeschichte studiert. Als sie Mutter einer Tochter mit Behinderung wurde, hat sich ihr Leben insgesamt und auch beruflich etwas geändert. Sie arbeitet nun in der Lebenshilfe Dresden e.V. Fröhlich und nachdenklich, kreativ, aktiv und auch manchmal melancholisch leben beide in Dresden und gestalten mit Rollstuhl ihren (Lebens-)Weg ganz bunt.

Cornelia Weber widmet diesen Text Sabine Stahl.