Prof. Nicola Cuomo mit dunkler Brille sitzt vor dem Laptop und überlegt angestrengt. Foto Stefan Meyer

Nicola Cuomo (1946–2016) war ein unermüdlicher Forschergeist.

Foto: Stefan Mayer
aus Heft 3/2019 – Spuren, die Nicola Cuomo hinterlassen hat
Stefan Meyer, Erik Weber, Alice Imola, Elisabetta Bacciaglia

Begegnungen mit Nicola Cuomo

Stefan Meyer, Erik Weber, Alice Imola und Elisabetta Bacciaglia: Sie alle sind in ihrem Leben Nicola Cuomo begegnet und haben mit seinem Konzept „l’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere“ (EDC) – Empathie und Verstehen und die Sehnsucht zu existieren – gearbeitet. Eine Zusammenarbeit, die Spuren hinterlassen und verändert hat. In den folgenden Beiträgen schreiben sie darüber und bringen uns so einen großen Menschen und Wissenschaftler näher.

Stefan Meyer

Nicola Cuomo (1946–2016)

Nicola Cuomo wurde 1946 in Andria, Provinz Bari, geboren. Im Geschäft seines Vaters lernte er den Beruf des Uhrmachers, den er bis zu seiner völligen Erblindung im Alter von 20 Jahren ausführte. Er gestaltete sein Leben radikal um, begab sich nach Bologna und studierte Pädagogik. Früh erhielt er eine Anstellung als Professor an der Universität. 

Das Hauptinteresse galt der konsequenten Erforschung und Entwicklung von Formen der Bildung in Autonomie und des autonomen Lebens. Feldforschungen mit Franco Basaglia hatten den jungen Forscher gelehrt, was die Klinik, die Vorurteile und die Bevormundung mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung bewirken. Sie bauen auf Defizite und Brandmarkung, sie erzeugen Abhängigkeit, Invalidität, Demütigung sowie Entmündigung. Basaglia konstituierte dynamische Therapiegemeinschaften mit dem Ziel, „ein Klima zu schaffen, das die gegenseitige Annäherung in einer menschlichen Beziehung ermöglicht, die gerade insofern, als sie spontan, unmittelbar und gegenseitig ist, therapeutisch wird“ (Basaglia (Hrsg.): Was ist Psychiatrie? S. 24, Frankfurt a. M. 1974).

Diese Erfahrungen führten Cuomo dazu, dass sich sein Konzept der Pädagogik im Sinn einer Bildungsgemeinschaft rigoros auf die Ressourcen und die Emotionen der von Behinderung Betroffenen und der Beteiligten abstützte. Er hinterfragte die Defizitorientierung auf Schritt und Tritt, indem er deren Logik herausstellte: Die Namen (Down-Syndrom, geistige Behinderung, Autismus, Fragiles-X-Syndrom, Verhaltensstörung, Blindheit, Taubheit, u.v.a.) sind es, die permanent Defizite vorschlagen und den Vorurteilen „Natürlichkeit“ verleihen.Cuomo wollte Namen für die Ressourcen und die Bedeutsamkeit! Seit der Einführung der italienischen Integrationsgesetze anfangs der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts bezog Cuomo die Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf das Thema der Integration. Er betonte immer wieder, dass Pädagogik von der Aktion sowie dem Studium der Erfahrungen lebe. 

Cuomo verstand unter Universität ein Mittel und eine Form zu leben. Diese versuche durch Forschung, durch Entwicklung und durch die Lehre, bedeutsame Themen der Sonderpädagogik zum Nutzen der Betroffenen und deren Umfeld voranzubringen. So entstand aus tausenden von interdisziplinären Fallstudien und Projekten ein einzigartiger Erfahrungsschatz bezüglich der Überwindung von Lern- und Verhaltensstörungen, bezüglich der Menschen mit Trisomie 21, mit Fragilem-X-Syndrom oder mit Autismus. Die Projekte erfassen die ganze Lebensspanne.

Cuomos Arbeit war geprägt von der Systemtheorie. In seinen Augen komponiert Pädagogik Kontexte auf poetische Weise, sie ist Relation und Empathie, sie interessiert sich für das Verstehen, sie ist verantwortlich für die Autonomie, die Sozialisation und die Handlungskompetenz der Lernenden. Cuomos Methodenkonzept „l’emozione di conoscere e il desiderio di esistere“ (Empathie und Verstehen und die Sehnsucht zu existieren) ist eine pragmatische, dialektische Formel, welche Ansätze von Wygotski, Lurija, Wertheimer und Husserl integriert. Das Referenzschema ist Programm und Ethos von Entwicklung, Ethos der Systeme und ihrer Gestalten als Bildungsgemeinschaft sowie Ethos der Weltsicht der Menschen. 

Seine Erkenntnistheorie ist konvergent. Das bedeutet, dass die Forschungen und die Entwicklungsprojekte immer in Zusammenarbeit mit pädagogischen (Eltern, Lehrpersonen), psychologischen und medizinischen Fachpersonen durchgeführt werden. Auf Kongressen integrierte Cuomo alle Fachkreise in die Diskurse. Seine Erkenntnistheorie ist pragmatisch in dem Sinn, dass die Wahrheit der gewählten Ansätze an den Entwicklungsschritten und Kompetenzen bei den Betroffenen und den Beteiligten abgelesen werden sollten. Positives Feedback und Applaus am Ende von Vorträgen lenkte er weiter: „Die Fortschritte der Menschen mit Behinderung sind unser Applaus, nicht das Geklatsche.“

Seine Erkenntnistheorie ist kritisch. Idealisierende Diskussionen über empirische Studien relativierte er mit dem Satz: „Ich sehe Variablen, aber keine Menschen. Die EDC baut auf … und baut mit Menschen.“

In den rund 40 Jahren seines Wirkens gewannen Cuomos Methodenkonzept und seine Entwicklungsarbeiten nationales und internationales Interesse und Anerkennung. 

 

 

Stefan Meyer ist Senior Lecturer an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich. 

 

Stefan Meyer

Vorurteile sind wie Gefängnisse

Im Februar 2014 interviewte ich Nicola Cuomo. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass ihn eine schwere Krankheit heimsuchen würde. Nicola Cuomo hatte bis drei Wochen vor seinem Tod im Mai 2016 Vorträge gehalten.

Was hat dich in deiner Kindheit geprägt?

Mein Vater hat mich die konkreten Dinge unterrichtet, ich lernte durch und dank der Arbeit in der Uhrenmacherwerkstatt. Ich erinnere mich an alle Objekte in der Werkstatt, sie waren zuerst meine Spielzeuge, wie zum Beispiel die Zahnrädchen, mit denen ich wie mit einem Kreisel spielte. So wie die Kinder Legos haben, konnte ich mit alten Uhren spielen und mit den Teilen neue Funktionen und Gegenstände erfinden. Die Werkstatt war ein Universum. Und daneben hat er uns mit Fabeln und Anekdoten gebildet, in denen immer etwas Konkretes passiert ist, aus dem wir eine Lehre ziehen konnten. Wir waren drei Geschwister und ich spürte, dass uns die Mutter sehr mochte, aber sie lehrte uns immer, in die Welt hinaus zu gehen. Sie wollte uns nicht an sich binden. Es gab auch nichts daran zu rütteln, dass wir pünktlich am Esstisch erscheinen mussten. Ja, meine Mutter schätzte das Ungestörtsein auch sehr.

 

Ist die Uhrenmacherkunst eine Metapher für die Lehre? 

Was nicht existiert, kann man erfinden, wie die Zeit oder die Begriffe. Alles ist relativ. In der Mechanik der Uhr sehe ich das System und dessen Teile. Aber ich sehe auch die unendlichen Möglichkeiten des Gehirns. Das wissenschaftliche Denken arbeitet mit Daten als Spuren, welche einen zu Einsichten über die Objekte führt. Darum sind die Handlungen so wichtig, die man mit Gedanken verstehen und verändern kann. Unsere Methode „l’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere (EDC)“ (Empathie und Verstehen und die Sehnsucht zu existieren) ist systemisch, pragmatisch und relational, nicht einfach isoliert und spekulativ.

Ich bilde die Studentinnen und Studenten sehr gern weiter, wenn ich spüre, dass sie gern lernen, wenn sie gegenüber dem Lernen Sympathie empfinden. Dann lohnen sich die Strenge, die Sorgfalt, der Humor und der Ernst in der Sache und in den Beziehungen. 

 

Wie hat dich die Zusammenarbeit mit Franco Basaglia beeinflusst? 

Basaglias Methode war ganz einfach: Zerstöre und überwinde die Vorurteile, wo immer sie auftauchen. Das hat er überall rigoros umgesetzt. Ich erinnere mich auch, dass er die Personen so akzeptierte, wie sie waren, nicht wie er sie sich vorstellte oder wünschte. Thomas S. Kuhn hatte gesagt, dass die Vorurteile wie Gefängnisse sind, in die uns die Paradigmen einsperren und keine Veränderungen mehr zulassen.

 

Was zeichnet eine gute Lehrperson aus?

Handlungskompetenzen sind basal, aber sie sind bloß die Spitze des Eisberges. Die Lehrpersonen sind unendlich, wie die Eismasse unterhalb der Wasseroberfläche, sie sind die Regisseure der Winde. Die größten Lehrer hatten keine Kompetenzregister, sie waren erfüllt von pädagogischem Eros.

 

Deine schönste Erfahrung als Pädagoge?

Als ich gegenüber meinen eigenen Kindern am Ende meines Lateins angekommen bin. Wenn sie krank waren und Bauchschmerzen und später Ohrenschmerzen hatten, dann wieder Hunger und Durst bekamen oder mich auszufragen begannen. Dieser Alltag, reich an Überraschungen von morgens bis nachts, hat mich glücklich gemacht und mich herausgefordert. Ja, es war schön, als ich spürte, wie sich die Kinder entwickeln konnten.

 

Was macht dich traurig?

Wenn ich allein gelassen werde von meinem Umfeld. Wenn ich keine Zeit habe, in der ich an nichts denken muss, keine Zeit, um einfach Klavier oder Gitarre zu spielen, dann bin ich ziemlich niedergeschlagen.

 

Und dein Blindsein?

Wer blind ist, muss sich die Bilder vorstellen, daran muss er immer wieder denken. Das Blindsein ist, so ist es, eine sehr harte Lebensbedingung. Ich muss vergessen, indem ich mir die Dinge vorstelle. Da ist die Angst vor dem Eingeschlossensein, welche wie in der Nahtoderfahrung, in der man sich in einem dunklen Tunnel befindet, durchbrochen wird und man plötzlich Licht erblickt. Das geschieht, wenn ich nicht denken muss, sondern einfach musizieren kann.

 

Was sollen deine Nachfolger tun?

Ich gehe davon aus, dass noch Spuren von mir da sind und nicht einfach eine Leere. Dann geht es vielleicht allen besser (lacht). Ich wünsche mir, dass sie sich an die guten Momente erinnern. Manchmal sage ich ihnen: „Passt auf, denn ich bin auch nach meinem Ableben noch da“ (lacht). Ich gehe davon aus, dass sie mit der Methode „Empathie und Verstehen“ noch mehr entwickeln können, als es mir möglich gewesen ist.

 

 

Erik Weber

„Vincere la paura“ – „die Angst besiegen“

„Sognare di volare, di parlare, ascoltare e vedere gli altri a grande distanza attraverso le proiezioni dell’immaginario non possono che essere i presupposti dello sviluppo scientifico e tecnologico“ (Cuomo 2009, 7). [In etwa zu übersetzen mit: „Träumen zu fliegen, andere durch imaginäre Projektionen über große Distanzen hinweg zu sprechen, zu hören und zu sehen, kann nichts anderes als die Voraussetzung für wissenschaftliche und technologische Entwicklung sein“, Übersetzungsversuch e.w.].

Die Keimzelle des Cuomo’schen Denkens in einem Satz abgebildet, könnte in etwa so lauten, wie es das vorangestellte Zitat erkennen lässt. Ich durfte eine ganze Zeit meiner Berufs- und Wissenschaftsbiographie mit Nicola Cuomo verbringen: angefangen von Cuomos für mich damals sehr seltsam anmutenden Vorträgen an der Universität zu Köln in den 1990er Jahren über das Erasmus-Stipendium in Bologna im akademischen Jahr 1995/96 bis hin zu gemeinsamen internationalen Projekten in der Zeit danach. Dieser Kontakt hielt bis zu seinem Tod. Ich habe viel von ihm gelernt.

Das eigentlich unübersetzbare Motto „l’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere“ – also in etwa die Emotion (auch: Aufregung) der Erkenntnis und das Verlangen zu existieren“ – war und bleibt auf positive Art und Weise irritierend, verstößt es doch auf den ersten Blick gegen überkommene Vorstellungen „echter“ Wissenschaft. Hier hat das Träumen keinen Platz, Emotionen besser auch nicht. Cuomos unverrückbare Erkenntnis war es aber, dass ohne Emotion und ohne den damit verbundenen Wunsch, auf dieser Welt existieren zu wollen, keine menschliche Erkenntnis möglich ist. Diese zunächst als harmlos anmutende gedankliche Zelle hat m.E. immer noch erhebliches innovatives, ja revolutionäres Potenzial. Das konnte man immer dann merken, wenn Cuomo nicht bereit war, von seiner Überzeugung abzuweichen und zu spüren war, dass seine insistierende Überzeugung andere in große erkenntnissuchende Verlegenheit brachte.

Das ist m.E. eng verbunden mit einem weiteren Motto aus einem Werk, welches sich in einem seiner frühen Buchtitel aus den 1980er Jahren wiederfindet: „Vincere la paura“ – „die Angst besiegen“. Es ist die Angst, etwas Falsches zu sagen, zu denken oder zu tun. Nicht nur im Kontext von Schule, Universität oder Bildung im Allgemeinen, sondern auch auf zwischenmenschlicher Ebene.

Ist diese Angst besiegt, kann die „Lust an der Erkenntnis und das Verlangen zu existieren“ zu menschheitsverändernden Erkenntnissen, Innovationen und Veränderungen führen. Dies geschieht grundsätzlich, um eine weiterführende Denkfolie zu nutzen, in einem relationalen Raum, d.h. dort, wo sich Menschen begegnen (können). Dort herrschen auch (im besten Falle) positive Emotionen (aber auch das Gegenteil). Dieser relationale Raum kann (auch pädagogisch) gestaltet werden, mit dem Ziel, die Angst (auch vor der Begegnung mit dem Anderen) zu besiegen und diesen Raum einen „emotionalen Erkenntnisraum“ werden zu lassen. Das erfordert Begegnung, Dialog, ungeteilten Einbezug. Ich finde, dass dies sehr nahe an Jantzens Überzeugung liegt, wenn dieser bspw. schreibt: „Menschliche Natur ist immer soziale Natur, das Gehirn als soziales Organ ist auf humane Weltbedingungen angewiesen, die es öffnen“ (Jantzen 2003, o.S.). Humane Weltbedingungen können nur auf positiven Emotionen aufbauen und nur dies führt zu Erkenntnis, die Veränderung ermöglicht.

Cuomos Denken birgt noch eine Reihe weiterer „Quellen der Erkenntnis“, die im deutschen Sprachraum nie breit rezipiert wurden (ausgenommen seine immer noch lesenswerten „‚schweren Behinderungen‘ in der Schule“ von 1999). Vielleicht sind diese meine kurzen und fragmentarischen Gedanken dazu geeignet, in der nahen Zukunft Nicola Cuomos Spuren wieder gezielter aufzunehmen, weiter zu entwickeln und auch im deutschen Sprachraum in den Diskurs zu bringen – es hätte ihm sehr gefallen.

Literatur

Cuomo, Nicola (1981): Vincere la paura. Bologna: Edizioni Dehoniana.

Cuomo, Nicola (1999): „Schwere Behinderungen“ in der Schule. Unsere Fragen an die Erfahrung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Cuomo, Nicola (2009): Una collana per interrogare e riflettere sulle esperienze e le prassi dell’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere. In: De Pellegrin, Cinzia: Verso una vita autonoma ed indipendente con l’emozione di conoscere ed il desiderio di esistere (7–8). Pisa: Edizioni ETS.

Jantzen, Wolfgang (2003): Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung. In: vds-Fachverband für Behindertenpädagogik, LV Bremen, Mitteilungen 27 (2003)1, 18-45. URL: http://www.basaglia.de/Artikel/Olten%202002.htm#_ftn1 (Abruf am 10.05.2019).

 

Prof. Dr. Erik Weber, Erasmus-Stipendiat an der Universität Bologna bei Prof. Cuomo, mehrjährige Tätigkeit in der Behindertenhilfe, seit 2011 Professor für „Integrative Heilpädagogik/Inclusive Education“ an der Evangelischen Hochschule Darmstadt.

 

Stefan Meyer

EDC – Ein rigoroser Bildungsprozess

Federica Staffolani schloss ihr Studium Pädagogik und Heilpädagogik im Nebenfach 2015 mit dem Lizentiat ab. Ihre Diplomarbeit ist eingebettet in ein Projekt mit Prof. Nicola Cuomo und Dr. Alice Imola. Sie arbeitet zurzeit an einer Doktorarbeit. Immer deutlicher fallen ihr die Unterschiede auf zwischen der partizipativen Aktionsforschung und erklärenden Forschungsstrategien, welche mehr erklären als entwickeln und verändern.

Wie könnte ich den Umgang mit den Prinzipien von EDC praktisch feststellen?

Nun, zuerst versuche ich zu verstehen, was das Kind ausdrücken möchte, auch wenn es nicht spricht. Ich warte bewusst, damit ich sehen kann, was Antonio macht. Bei Antonio (Name geändert; vier Jahre alt) wurde eine autistische Entwicklungsstörung in Verbindung mit Hyperaktivität diagnostiziert. Wir arbeiten mit Antonio und dessen Familie an der Förderung der kognitiven und emotionalen Entwicklung. Die Interventionen zielen vor allem auf den Kontext der Familie ab. Ich agiere nicht als persönlicher Trainer des Kindes allein. 

Ich versuche, mit ihm zu kommunizieren, auch nonverbal. Antonio bewegt sich viel. Dabei möchte ich ihm Halt geben, ohne ihn einzusperren. Ich möchte ihn ohne Zwang in Tätigkeiten einbeziehen. Ich achte sehr auf das Klima im Umfeld und bei den Eltern. Ich versuche zu verstehen, welche Gefühle im Raum vorkommen. Das ist eine spezielle Aufmerksamkeit. Diese erwerbe ich mit Hilfe der Videoaufnahmen. Sie sind dazu geschaffen, dass man lernt, sich auf verschiedene Arten und Weisen auszudrücken. 

 

Wo kommen die Prinzipien der EDC zum Tragen?

Ich sehe diese Methode als ein Ensemble von verschiedenen kohärenten Bezugspunkten. Diese sind sehr dynamisch und solide. Ich kann mich zwischen ihnen bewegen. Ich spüre keine Rigidität, sondern Energie. Ich kann autonom nachdenken, Vermutungen anstellen und argumentieren. Dabei beziehe ich mich auf verschiedene bedeutsame Prinzipien. Ich befinde mich mit einem Kind in einer Situation. Dann fordert die Methode zu Auseinandersetzungen mit anderen Operatori zur Supervision und zur wissenschaftlichen Begleitung heraus. 

Wenn ich eine Intervention durchführe, wird alles auf Video aufgenommen. Das ist ein grundlegendes Element der Methode. Auf der einen Seite hat mich das am Anfang terrorisiert. Ich betrachtete mich wieder und wieder und sah all meine Fehler. Doch dann fand ich Neues mit Hilfe anderer und kritischer Augen und anderen Perspektiven und anderer Prinzipien. Ich lernte, nicht mehr bloß Fehler zu erkennen, sondern auch Ressourcen und Möglichkeiten.

 

Heißt das, dass Sie sich tiefer verstehen gelernt haben?

Dank der Videoanalysen mit anderen zusammen lerne ich Perspektiven kennen, die ich ohne sie nie begriffen hätte. Die stärksten Momente der systemischen Anwendung der Methode sind die Möglichkeit der Auseinandersetzungen mit jemandem, der dich geduldig korrigiert, der dir Sachen erklärt und der wissen möchte, wie du denkst. Dann lassen sich meine Verhaltensweisen neu orientieren. Dieses Vorgehen gibt mir das Gefühl von Professionalität. Ich fühle mich als Forscherin. Mit der EDC-Methode glaube ich nicht bloß an etwas, sondern ich lerne etwas zu untersuchen, um es gut verstehen zu lernen. 

Ein weiterer interessanter Aspekt der Methode ist die Tatsache, dass ich gelernt habe, die Intelligenz anderer Personen zu verstehen. Früher habe ich bestimmte Verhaltensweisen gar nicht wahrgenommen oder beachtet. Heute verstehe ich sie als Welt von Kompetenzen, die wie in einem Spiegel auftauchen. Früher dachte ich, dass die Fähigkeit zu sprechen sich vor allem darin äußert, ein Wort korrekt zu sagen. In Wirklichkeit ist das Denken wie ein Fluss, der sich einen Weg bahnt. Einerseits geht es um das Studium dieser Sachen, andererseits geht es um deren Wahrnehmung in der Praxis. Erst jetzt erkenne ich das Denken im Kind, mit dem ich arbeite. Erst jetzt kann ich das Denken über diese Sachen öffnen und verstehen sowie als Lernwege gestalten. Ich kann meine Ideen einbringen. Auch wenn ich weiß, dass sie kritisiert und überarbeitet werden. Sehr schön ist weiter, dass Fehler eben nicht als Sackgassen angesehen werden. Man fragt nach dem Warum und dem Wozu, um zuerst überhaupt zu forschen und zu verstehen.

Während meiner Schulzeit waren die Fehler Leerstellen, Endpunkte. Mit der EDC sind Fehler keine Argumente, um jemanden zu stigmatisieren, sie sind Erfahrungen. Es ist die Angst vor dem Fehler, welche dich in eine Abhängigkeit treibt. Sie ist es auch, die einen nach Rezepten fragen lässt. Wenn ich hingegen in einem Projekt Sachen vorschlagen und ausprobieren kann, dann habe ich keine Angst. Ich weiß, dass mir die anderen ein Feedback geben werden.

 

 

Alice Imola, Elisabetta Bacciaglia 

Leben als Projekt (Progetto di vita)

Neun Familien mit Kindern mit einer Behinderung führen den Laden für Bioprodukte in Faenza unter dem Motto „Progetto di vita“. Während der Öffnungszeiten bedienen jeweils eine Person mit einer Behinderung und eine Heilpädagogin die Kunden gemeinsam.

Seit dem Tod von Nicola Cuomo 2016 führt die Vereinigung AEMOCON die Aktions- und Bildungsforschung im Sinn der EDC weiter. Sie verbindet die Verantwortung der Forscher mit den Erfahrungen der Familien. Gemeinsam schaffen sie ein ständiges Labor für das Studium, die Bewertung und den Austausch bewährter Praktiken. So werden im Laufe der Zeit nach Maß Lebensprojekte geschneidert, die autonomes und unabhängiges Leben unter besonderer Berücksichtigung des integrativen Aspekts ermöglichen. 

Die Erfahrungen werden zwischen Familien, Betreuern und Lehrern aus verschiedenen Regionen Italiens verglichen. Das betrifft die fallbezogenen Hypothesen, Strategien und bewährten Interventionspraktiken. Spezifische Themen werden aufgegriffen und vertieft (Frühförderung, Schuleinbindung, Arbeit, Freizeit, Sexualität, Beziehung zu Geschwistern...). 

 

Die Reaktion der Familien auf dieses Engagement pädagogischer Praxis und Forschung bestand darin, dass sie ihre eigenen Ressourcen zu investieren begannen – ob menschlich und emotional oder wirtschaftlich/finanziell. Sie gründeten Stiftungen, Genossenschaften und Verbände, um einen „radikalen Paradigmenwechsel“ herbeizuführen. Sie wollten weg von einer bloßen Wohlfahrtsvision hin zu einer alternativen Vision. In ihr investieren die Protagonisten auf kultureller und auf wirtschaftlicher Ebene in die Lebensqualität ihrer Kinder. 

Die konsequente Ausrichtung auf die Stärkung der Autonomie, Sozialisation und der Kompetenzen ihrer Kinder hat im Laufe der Zeit Betriebe geschaffen, welche Wesenszüge des sozialen Unternehmertums angenommen haben. Es geht um eine Perspektive, die über das Subjektive und das auf den Bereich der einzelnen Familien Beschränkte hinausgehen will und ihren Handlungsspielraum auf das gesamte soziale Gefüge ausdehnt.

 

Info: www.emozionediconoscere.com 

 

Übersetzung: Concita Filippini Steinemann. Sie ist Dozentin an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. 

Alice Imola ist ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin von Nicola Cuomo. 

Elisabetta Bacciaglia ist die Präsidentin von AEMOCON.

 

 

 

Stefan Meyer

Rita, la Mamma di Giovanni

Mütter, Väter, Heilpädagoginnen und Jugendliche treffen sich im Büro eines Spezialitätenladens für Bioprodukte in Faenza: in der La Bottega della Loggetta. Rita, die Mutter von Giovanni, entdeckte durch die Mitarbeit an diesem Projekt wieder Ressourcen, welche zuvor durch ihre Ängste verdeckt geblieben waren.

Giovanni ist 43 Jahre und hatte viele Jahre epileptische Anfälle und Zöliakie. Giovanni wurde jedoch bloß mit Medikamenten gegen die Anfälle behandelt. Die Diagnostik bei Nicola Cuomo beinhaltete auch eine genetische Abklärung in einer Spezialklinik. Erst da wurde entdeckt, dass die leichte geistige Behinderung auf das X-fragile-Syndrom zurückzuführen ist. Das ist eine genetische Veränderung auf dem X-Chromosom, die zu unterschiedlich starken kognitiven Beeinträchtigungen führt.

Giovanni reagierte sehr gut auf die Diät, schildert seine Mutter Rita glücklich, die Anfälle seien verschwunden. Nachdem Giovanni gelernt hatte, selbstständig mit dem Geld umzugehen, gönnte er sich in einer Bar viele gute Sachen, von denen ihm schlecht wurde. In der Supervision und in Briefwechseln mit Nicola Cuomo wurde dieser vermeintliche Fehltritt analysiert. Doch Cuomo ermutigte Giovanni, alles Geld auszugeben. Das Essen sei ein erster Versuch gewesen, der weitergeführt werden müsse, der neue Möglichkeiten des Konsumierens eröffne.

Ihr Sohn hatte in Faenza keine Zukunft mehr, dies umso mehr, als die Stadtverwaltung die sozialen Zentren geschlossen hatte. Der Protest der Eltern nützte wenig, deshalb ergriffen sie die Initiative selbst. Rita hatte sich in der Folge mit anderen Eltern in Faenza zusammengeschlossen und auf eigene Initiative ein Zentrum gegründet. Rita ist zufrieden, dass sie gelernt hat, die Abhängigkeiten zugunsten der Initiativen und Projekte zu überwinden. So hätten die Eltern Zukunftsperspektiven gewonnen, mit denen sie bereits Arbeitgeber der Region überzeugen konnten. Der Spezialitätenladen „La Bottega della Loggetta“ ist nicht bloß eine isolierte Beschäftigung, sondern Knotenpunkt für Kontakte und Kooperationen mit den Produzenten im Hintergrund.

Das Schlüsselerlebnis für die Mutter bildete die Einsicht, dass sie vor der Mitarbeit in Projekten immer für Giovanni dagewesen war. Rita hatte gelernt, den Alltag mit Giovanni zu gestalten. So lernte Giovanni zu entscheiden und mutig voranzuschreiten. Rita entdeckte Ressourcen, welche zuvor durch ihre Ängste verdeckt geblieben waren.

 

 

Stefan Meyer

Gemeinsam mit Ricardo

Die Eltern und Ricardo ließen sich auf die Forschungs- und Bildungsangebote der EDC ein, nachdem sie erfahren hatten, dass es Möglichkeiten gibt, wie Behinderungen durch das Fragile-X-Syndrom überwunden werden können. 

Die EDC operiert auch hier mit einem multi- und interdisziplinären Ansatz, den Nicola Cuomo in Zusammenarbeit mit Gianni Biondi und Giorgio Albertini entwickelt hatte. Die Autoren hatten sich auf die Sage von Ariadne bezogen. Der Ariadnefaden verweist auf die pädagogische Beziehung zu Menschen mit Behinderungen. Sie sind wie in der griechischen Sage in einem Labyrinth gefangen, welches durch Behinderungen und Vorurteile erzeugt wird.

 

Sara, welches sind Ihre Erfahrungen und Beweggründe gewesen, sich auf das Projekt EDC einzulassen?

Ich begann am Projekt teilzunehmen, nachdem ich im Forum der Website „Filo di Arianna“ die Schilderungen anderer Familien gelesen hatte (siehe http://xfragile.forumattivo.com/). Im Forum wurden die Erfahrungen der Eltern mit ihren Kindern, die Schwierigkeiten und Wege zu deren Überwindung minutiös beschrieben. Diese Schwierigkeiten waren auch die meinen. Der einzige Unterschied war jedoch, dass Prof. Cuomo diesen Eltern konkrete Antworten gegeben hatte. Er hatte auch Vorschläge für Interventionen gemacht, die mir bis zu diesem Tag nicht gegeben worden waren.

 

Wie haben sich die Projekte auf Sie als Mutter ausgewirkt?

Zu Beginn empfand ich einfach Freude, weil ich sah, wie mein Sohn mit mir Sachen unternahm. Er war es gewohnt, dass er Handlungen einfach erdulden musste. So wurde er angezogen, er konnte bloß darauf warten, dass ihm die Mutter einen Kuchen buk. Ich erinnere mich noch an seinen glücklichen Ausdruck und gleichzeitig an das Staunen, als ich ihn eingeladen hatte, gemeinsam einen Kuchen für seinen Vater zu backen. Die anfängliche Freude hat sich inzwischen zum Bewusstsein entwickelt, dass Ricardo viel machen und geben kann, wenn die Umstände korrekt aufgebaut sind.

 

Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Nicola Cuomo ausgewirkt?

Nicola Cuomo gelang es immer, Mitteilungen zu vernetzen. Wenn ich sehe, wie andere handeln, gibt mir das Denkanstöße, um Neues auf andere Art und Weise auszuprobieren. Ich bin immer mehr davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, wenn ich mich mit anderen Müttern auseinandersetze; wenn ich sehe, wie weit es die anderen Jugendlichen gebracht haben; wenn ich wahrnehme, wie die kleinen Kinder Ziele erreichen, wenn sie ganz früh mit der Methode gefördert worden sind. Der Weg ist oft steil und schwierig, aber überwindbar. Die Methode sollte etwas Alltägliches werden.