2 Schüler haben das Schuhwerk getauscht, sodass jeder zwei verschiedene Sandalen anhat.

Sich austauschen … wie das Zusammenarbeiten Spaß machen kann.

Foto: Peterlini
aus Heft 3/2019 – Inklusion in Südtirol
Hans Karl Peterlini

Inklusion ist (un)möglich

Der italienische Weg (fast) 100-prozentiger Inklusion am Beispiel Südtirol

Für ein derzeit vielseits gerühmtes ‚Modell‘ war der Anfang ziemlich chaotisch: In den 1980er Jahren herrschte in Südtirol ein dramatischer Mangel an Lehrkräften. Der südliche Teil des altösterreichischen Tirols war als Folge des 1. Weltkrieges 1919/20 von Italien annektiert worden, fast ein halbes Jahrhundert stagnierte das kulturelle Leben im Tauziehen zwischen Staat und Minderheit.

Erst 1972 erhielt das Land den Sonderstatus einer autonomen Provinz – jahrzehntelange Bildungsversäumnisse und politische Benachteiligungen warfen ihre Schatten. So ergab es sich, dass ich im September 1980, 19-jährig und ohne jede didaktische Ausbildung, fast übergangslos von der Maturaprüfung in eine Abschlussklasse der Mittelschule stolperte, deren Klassenvorstand und Fachlehrer für Deutsch, Geschichte, Erdkunde ich nun war. Dass dies möglich war und durchaus interessante Lehr-Lern-Erfahrungen zur Folge hatte, die ich theoretisch viel später etwa als „Belehrbarkeit des Lehrenden durch den Lernenden“ (Meyer-Drawe 1987) oder als Glück eines unwissenden Lehrmeisters (Rancière 2009) nachvollziehen konnte, verdankt sich einer Schul- und Bildungskultur, die aus der Not eine Tugend, aus der Prekarität eine Kunst der Improvisation zu machen bereit war.

Eine Schule für alle

Zu diesem Zeitpunkt war in Italiens Schulen seit gut einem Jahrzehnt eine Revolution im Gange, die im europäischen Umfeld nahezu beispiellos war: War schon 1962 mit der Einführung der dreijährigen Einheitsmittelschule „als Gesamtschule für alle Kinder“ (Lemayr 2017, S. 59) ein Schritt gesetzt worden, der die sozialen Selektionsmechanismen bildungsschichtspezifischer Schultypen überwinden sollte, erfolgte ab 1971 ein noch kühnerer Schritt. Die Einheitsmittelschule sollte, wie Schule überhaupt, tatsächlich und ausnahmslos eine Schule für alle sein – also auch für jene Kinder und Jugendlichen, die bis dahin aufgrund von Behinderung, Beeinträchtigung oder problematisch befundenem Sozialverhalten in Sonderinstituten unterrichtet worden waren. Massive Proteste von Eltern, die sich im Zuge der 1968er-Bewegung ermutigt fühlten, erwirkten schrittweise die Öffnung der Einheitsmittelschule für alle und in der Folge die weitgehende Schließung der sonderpädagogischen Einrichtungen (vgl. Peterlini 2015, S. 94). 

Das bis dahin – und vielerorts immer noch – für unmöglich Gehaltene wurde gewissermaßen per Gesetz als möglich dekretiert und eingefordert. Die Umsetzung der normativen Vorgabe, dass die Schule prinzipiell alle aufzunehmen hatte, ohne jede Unterscheidung, war – in Italien wie in Südtirol – nur durch eine Schulkultur der Improvisation und des kreativen Umgangs mit institutionellen Notständen möglich. Trotz Verwaltungschaos und Rechtsunsicherheit gingen Schuldirektionen und Lehrkräfte pionierhaft daran, eine Idee umzusetzen, auf die sie weder durch Ausbildung noch durch Ausstattung vorbereitet waren. Es war – gegenwärtigen Vorstellungen der Plan- und Steuerbarbarkeit von Bildungsprozessen zuwiderlaufend – nicht erst lange überlegt worden, welche Strukturen es bräuchte und über welche Kompetenzen Lehrkräfte verfügen müssten, um inklusiven Unterricht gestalten zu können, sondern es wurde schlicht der inklusive Unterricht verordnet, auf den sich alle Beteiligten weitgehend unvorbereitet – damit aber auch lösungsorientiert – einzustellen hatten.

Sebastian* im Rollstuhl 

So war es an der Mittelschule, an der ich mein erstes pädagogisches Lehrjahr verbringen durfte, gar keine Frage, dass auch Platz für Sebastian sein musste. Er wurde mit dem Rollstuhl in die Klasse geschoben, von der Klasse in den Pausenhof und von dort wieder in die Klasse. Da er den Kopf schief hielt und seine Gesichtszüge, in den (womöglich trügerischen) Erinnerungsbildern, verzerrt wirkten, war es ohne diagnostische Kenntnisse gar nicht leicht einzuschätzen, inwieweit er hinter seinen dicken Brillen dem Unterricht folgen würde können. Er war nicht in meiner Klasse, sodass ich über keine spezifischen Informationen verfügte; ich weiß auch nicht, wie der Unterricht mit Sebastian gestaltet wurde. Sicher aber ist, dass er schlicht zum Bild der Schule dazugehörte: Hin- und herlaufende Kinder in den Gängen, das Toben, Schieben und Herumstehen im Pausenhof – und dazwischen der zusammengekrümmt und schief schauend wirkende Sebastian in seinem Rollstuhl.

Jahre später traf ich Sebastian bei einer Bildungsveranstaltung. Ich erkannte ihn sofort wieder, und erstaunlicherweise erkannte er mich auch, obwohl ich nur für ein Jahr an jener Schule unterrichtet hatte. Die Bilder, die ich von ihm in Erinnerung hatte, verlangten eine tiefgreifende Umgestaltung: Er sprach klar, hatte – trotz der schiefen Kopfhaltung und der dicken Brillengläser – einen festen sicheren Blick, war engagiert und mit spannenden Ideen bei der Veranstaltung dabei, sicher einer der Impulsgeber. Ob Sebastian dieselbe Entwicklung machen hätte können, wenn er in einer Sonderschule nach allen Regeln der (damaligen) Kunst betreut, gefördert, strukturell und didaktisch begleitet worden wäre, lässt sich schwer diskutieren. Wohl aber verwiesen seine lebensweltliche Eingebundenheit, sein berufliches Fortkommen und seine gesellschaftliche Teilhabe auf gelungene Lernwege in einer Schule, die ihm – ohne die Möglichkeiten und Ausstattungen der Sonderschule – nur begrenzte Sonderbehandlung zukommen ließ, die Schule und ihn dafür aber Prozessen einer inklusiven Normalisierung aussetzte. Vermutlich konnte daran nicht nur Sebastian, sondern auch die gesamte Schulgemeinschaft wachsen.

Von Elterninitiativen erzwungen

Der italienische Weg, auf dem Südtirol teils zögerlich hinterherhinkte, teils zukunftsorientiert vorausschritt (Holzinger et al. 2019, S. 82–84), ist ein Beispiel zwischen Erfolgsgeschichte und Notlösung. Schon die Einheitsmittelschule war nicht nur ein Kind fortschrittlichen Denkens gewesen, sondern die Antwort auf den dramatischen bildungspolitischen Rückstand Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ausdifferenzierung des Schulwesens in selektive Angebote, wie sie das europäische Bildungssystem prägen, war in Italien am Beginn der 1960er Jahre noch kaum umgesetzt. Die von der Volksschule weiterführende „Lateinmittelschule“ war einer Elite vorbehalten, sodass der Großteil der Schüler/innen mit der fünfjährigen Grundschule die Bildungslaufbahn beendete. Die Einführung der Einheitsmittelschule 1962 stellte somit nur spärlich bestehende Strukturen in Frage, was den Widerstand in Grenzen hielt. Der Rückstand erlaubte damit einen Fortschritt in Meilenstiefeln, der die gegenwärtigen Inklusionsdiskurse um Jahrzehnte vorwegnahm. Nicht ein rundum durchstudiertes und strukturell abgesichertes Projekt ermöglichte dies, sondern eine mutige – von Elterninitiativen erzwungene – Entscheidung, deren rechtliche Feinjustierung und praktische Umsetzung erst Schritt für Schritt ausgelotet, erprobt, nachgebessert werden mussten.

Öffnung des Inklusionsbegriffs

So ist auch derzeit – ein halbes Jahrhundert später – der mühsame Prozess tatsächlicher Inklusion nicht abgeschlossen. Ungeachtet der Gesetzeslage, die jede Sonderbeschulung schlicht ausschließt, gab es im Schuljahr 2005/2006 in Italien immer noch 83 Sonderschulen, an denen 2302 Schüler/innen unterrichtet wurden (vgl. Ianes/Demo/Zambotti 2010, S. 18). Eine Untersuchung der Freien Universität Bozen (Canevaro/d’Alonzo/Ianes 2009) über die Präsenz von Kindern mit Beeinträchtigung in den inklusiven Klassen ergab auch für die Regelschule ein nicht nur erfreuliches Bild: Kinder mit Beeinträchtigung verbrachten im Schnitt geschätzte 30 Prozent der Unterrichtszeit außerhalb der Klasse. Nur 39,5 Prozent der Kinder an den untersuchten Schulen verbrachten tatsächlich die gesamte Unterrichtszeit in der Klasse, während 5,7 Prozent die gesamte Unterrichtszeit außerhalb dieser verbrachten. „Diese Daten […] bestätigen, dass 54,8 Prozent der Schüler mit Behinderung, also der größere Teil, Inklusion als partielle Erfahrung erleben“ (ebd. S. 72). 

Ein Bild, das in Südtiroler Schulen häufig anzutreffen ist, zeigt Kinder mit den Stütz- und/oder Inklusionslehrkräften draußen auf dem Gang. Dabei handelt es sich mittlerweile in der Minderzahl um Kinder mit sichtbarer körperlicher Beeinträchtigung. Im Zug der ständigen Anpassung der Gesetzeslage an neue Bedürfnisse und veränderte wissenschaftliche Diskurse wurde auch in Italien das Inklusionskonzept erweitert und fortentwickelt. Der Förderbedarf wurde kontinuierlich offener definiert – von der Einschränkung auf Behinderung/Beeinträchtigung wurde er auf Lernstörungen und Lernschwächen erweitert, um schließlich auch auf soziale, herkunfts- und/oder sprachbedingte Benachteiligung ausgedehnt zu werden. Schließlich wurde 2013 per Ministerialrichtlinie festgehalten, dass neben diagnostizierbaren Defiziten auch unter psychologischen und sozialisatorischen Gesichtspunkten „die besonderen Bildungsbedürfnisse der Schüler und Schülerinnen zu ermitteln“ sind: „Schulische Benachteiligung bedeutet weit mehr als nur ausdrücklich das Vorhandensein von Defiziten. In jeder Klasse gibt es Schüler und Schülerinnen, die aus den verschiedensten Gründen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: soziale und kulturelle Benachteiligung, spezifische Lernstörungen und/oder spezifische Entwicklungsstörungen, Schwierigkeiten, die durch mangelhafte Kenntnis der italienischen Sprache und Kultur wegen Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur bedingt sind.“ Als Kategorien werden „Beeinträchtigung, spezifische Entwicklungsstörungen und sozioökonomische, sprachliche und kulturelle Benachteiligung“ genannt.

Neue Anforderungen

Eine solche Öffnung des Inklusionsbegriffs, durchaus im Einklang mit den jüngeren wissenschaftlichen Diskursen, stellt völlig neue Anforderungen an Schulpolitik, Lehrkräfteausbildung und Unterrichtsgestaltung. Das wichtigste Instrument für die daraus geforderte Individualisierung schulischen Lehrens und Lernens ist der „Individuelle Bildungsplan“, der die jeweils besonderen Bildungsbedürfnisse des einzelnen Kindes erfassen und mittels „zielgleicher“ oder „zieldifferenter“ Lernergebnisse operationalisieren soll. Dies bedeutet letztlich, dass körperliche Behinderung nicht mehr isoliert – in der Ambivalenz zwischen Aufmerksamkeit und Besonderung – betrachtet wird, sondern dass von einem Paradigma der grundsätzlichen Verschiedenheit von Menschen, Begabungen und (Bildungs-)Bedürfnissen ausgegangen wird. Behinderung oder Beeinträchtigung werden – zumindest auf dem Papier – nicht mehr als einerseits förderungswürdige, andererseits diskriminierungsgefährdete Abweichung von einer als ‚natürlich‘ vorausgesetzten Normalität betrachtet, sondern die Verschiedenheit der Vielen wird als Normalität gesetzt, auf die je spezifisch eingegangen werden muss.

Differenziertere pädagogische Wahrnehmung

Erneut geht die normative Vorgabe der tatsächlichen Umsetzung voraus, deren Möglichkeiten und Problematiken erst im Abgleich zwischen Theorie und Praxis ausgelotet werden müssen. Eine Sorge besteht darin, dass die Öffnung des Inklusionskonzeptes dieses auch diffuser werden lässt, sodass hinter der Inklusion aller die diagnostiziert Beeinträchtigten aus dem Blick geraten und ihrer spezifischen Förderungswürdigkeit verlustig gehen könnten. Umgekehrt erfordert ein um Kategorien wie soziale Benachteiligung, Sprache, Kultur, Herkunft, Geschlecht geöffnetes Inklusionsverständnis eine feinfühligere und differenziertere pädagogische Wahrnehmung von Verschiedenheit und daraus erwachsender Bedürfnisse, als sie eine klinische Diagnostik leisten kann (Peterlini 2018). Es bedarf eines Hinsehens, Hinhörens, Hin(ein)fühlens in den jeweiligen konkreten Menschen jenseits von Kategorisierungen und Zuschreibungen (vgl. Peterlini 2019). Das Modell des empathisch-relationalen Verstehens, wie es Nicola Cuomo (vgl. 2007) entworfen hat, ist ein wertvoller Ausgangspunkt für eine solche sensiblere Wahrnehmung von Verschiedenheit und des pädagogischen Eingehens darauf.

Literatur

Canevaro, A., d’Alonzo, L. & Ianes, D. (Hrsg.) (2009): L’integrazione scolastica di alunni con disabilità dal 1977 al 2007: Risultati di una ricerca attraverso lo sguardo delle persone con disabilità e delle loro famiglie. Bozen: University Press.

Cuomo, N. (2007): Verso una scuola dell’emozione di conoscere. Il futuro insegnante, insegnante del futuro Pisa: ETS.

Holzinger, A., Feyerer, E., Grabner, R., Hecht, P. & Peterlini, H. K. (2019): Kompetenzen für Inklusive Bildung – Konsequenzen für die Lehrerbildung. In: Nationaler Bildungsbericht Österreich 2018, Band 2 – Fokussierte Analysen und Zukunftsperspektiven für das Bildungswesen, hg. von Simone Breit, Ferdinand Eder, Konrad Krainer, Claudia Schreiner, Andrea Seel und Christiane Spiel, S. 63.98. Auch online verfügbar: https://www.bifie.at/wp-content/uploads/2019/03/NBB_2018_Band2_final.pdf (aufgerufen 4.4.2019).

Ianes, D., Demo, H. & Zambotti, F. (2010): Gli insegnanti e l’integrazione. Atteggiamenti, opinioni e pratiche. Trento: Erickson

Lemayr, F. (2017): Eine Schule für alle? Das inklusive Bildungssystem in Südtirol. In: Inklusion konkret. Zum gemeinsamen Unterricht aller. Schriftenreihe des BZIB 4, 58–66.

Meyer-Drawe, K. (1987): Die Belehrbarkeit des Lehrenden durch den Lernenden – Fragen an den Primat des Pädagogischen Bezugs. In: Lippitz, W. & Meyer-Drawe, K. (Hrsg.): Kind und Welt. Phänomenologische Studien zur Pädagogik. Reihe Hochschulschriften Erziehungswissenschaft 19. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Athenäum, 63–73.

Peterlini, H. K. (2018): Die Normalisierung des Anders-Seins, Zeitschrift für Inklusion, (1). Verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/inklusion-online/article/view/406 (aufgerufen 10.4.2019).

Peterlini, H. K. (2019): Falsche Kinder in der richtigen Schule – oder umgekehrt? Auslotungen eines Perspektivenwechsels von selektiven Normalitätsvorstellungen hin zu einer Phänomenologie des ,So-Seins‘. In: Donlic, J., Jaksche-Hoffman, E. & Peterlini, H. K. (Hrsg.): Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven. Bielefeld: transcript, 37–54.

Peterlini, J. (2015): Das Recht auf „effektiven“ Unterricht in den Regelklassen von Menschen mit Behinderung und dessen Verwirklichung in Italien und Südtirol. In: RdJB 64(1), 90–104.

Rancière, J. (2009): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. 2. Auflage. Wien: Passagen Verlag.

 

 

Hans Karl Peterlini stammt aus Südtirol/Italien und ist seit 2014 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte befassen sich mit Fragestellungen der diversitätsbewussten Bildung in heterogenen Gesellschaften, dies mit Blick auf Mehrheits-Minderheiten-Verhältnisse, auf Fragen des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft sowie auf lebensweltliche und schulische Prozesse von Inklusion und Exklusion.

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HansKarl.Peterlini@aau.at