Die Kunst der Pflege
Intro:
Die Kunst der Pflege
Das wirksamste Mittel gegen die Verrohung, an die wir uns schleichend gewöhnen, wäre wohl: die Zärtlichkeit. Indem wir Menschen mit Zärtlichkeit begegnen, werden sie als Individuen mit Bedürfnissen und Rechten anerkannt. Zärtlich kann ein Blick sein, eine Geste, die ausgestreckte Hand, ein Satz, ein Lachen, ein Buch, Musik, ein Gedicht, eine Begegnung, eine Beziehung, eine Gemeinschaft. Zärtlichkeit beschreibt einen sorgsamen Umgang mit allem Lebendigen.
Mit Zärtlichkeit nähern wir uns dem anderen behutsam, aufmerksam, einfühlsam. Es ist eine respektvolle wie liebevolle Art der Berührung, die
die Verletzbarkeit des anderen direkt aufnimmt und auf sie antwortet. Zärtlichkeit geschieht zudem – mehr noch als die Sorge um den anderen oder sich selbst – im Miteinander. Einen Moment dieser zärtlichen „Symbiose“ beschreibt Adele Schwingenschlögl beim Toilettengang mit Sara: „Ich versuche die Hose und Unterhose wieder etwas hochzuziehen, bis knapp unters Knie, sodass sie trotzdem nicht allzu entblößt dasitzen muss. Ich erinnere mich an meine Mutter, die in den letzten Jahren ihrer Alzheimer-Erkrankung nicht mehr sprechen und auch nicht mehr bewusst reagieren konnte. Dennoch, wenn ich ihr etwa morgens die Pyjamahose ausziehen wollte, griff sie instinktiv zum Bund und wollte sie wieder hochziehen. Ein Akt der Scham, den wir von klein auf verinnerlicht haben, vielleicht auch kulturell bedingt und beim weiblichen Geschlecht verstärkt. Meine Mutter hat unbewusst gehandelt, und es tat mir jedes Mal weh, wenn ich diesen Ablauf aufgrund praktischer Überlegungen unterbinden musste.“ Das Gefühl der Würde ist untrennbar mit dem eigenen Körper verbunden – und mit dem Schutz vor der Verletzung der Intimität. Die Intimität ist der Garant der Würde, sie ist ihre letzte Bastion. Thomas Fuchs begreift Gefühle als umfassende Phänomene, die Selbst und Welt in leiblicher Resonanz miteinander verbinden: „Nur durch Gefühle wird die Welt für uns überhaupt zu einer sinnvollen und bedeutsamen Welt.“ Von Geburt an ist der Leib in eine gemeinsame, affektive Zwischenleiblichkeit eingebettet. Es gibt keine klare Trennung zwischen Affekt und Kognition – alles Erkennen beruht auf unserer affektiven Teilhabe an der Welt. Ursula Stinkes untersucht die Bedeutung der Erfahrung des Fremden in Zusammenhang mit unseren Gefühlen. Gefühle sind verkörperte Gedanken, denen die Worte fehlen. Der Leib – verstanden als Zwischenleiblichkeit – ist der Ort der Gefühle. Der andere Mensch ist mehr und anderes, als wir von ihm wissen und erkennen können. Diese Offenheit gilt es zu bewahren. „Pflege ähnelt der Kunst: Beide greifen Wesentliches des Menschseins auf und bringen es in einzigartiger Weise zum Ausdruck“, schreibt Christa Olbrich mit ihrer ganzen Lebenserfahrung. Spirituelle Begleitung bedeutet, in allen Dimensionen der Pflege präsent zu sein. „Mit der Kunst, ein idiolektisches Gespräch zu führen, wird
es einem Menschen möglich, für eine kurze Zeit in seiner Welt zu verweilen, die für ihn Stärkung bedeutet.“ Sabine Kühnert und Karin Tiesmeyer widmen sich der Gruppe der älteren Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung, deren Zahl in Zukunft deutlich ansteigen wird. Fast alle wünschen sich größtmögliche Kontinuität in ihrem Leben – besonders im Bereich des Wohnens. Sie wollen mit Personen zusammen sein, die sie kennen und mögen. Der Umzug in eine Pflegeeinrichtung geht mit großen Verlusten einher, deshalb ist die systematische Trennung von Eingliederungshilfe und Pflege zu überwinden.
Vielen Menschen mit Komplexer Behinderung fällt das Essen und Trinken schwer – von Zahnarztbesuchen ganz zu schweigen, die oft als traumatisch erlebt werden. Helga Schlichting widmet sich konkret diesem Thema – bis hin zur Sondenernährung: „Es ist wichtig, dass das Essen oder Kosten von Speisen immer der Sondierung vorangeht, um Gefühle von Hunger und Appetit als Motivation zu nutzen.“ Ramona Hummel erzählt in ihrem Beitrag die Geschichte von Louise mit dem Mittel der sensiblen Fiktion: „So begann ich, die Informationen über Louise in Ich-Botschaften umzuschreiben.“ Damit schafft sie einen Perspektivenwechsel – von „über Louise“ zu „von Louise“ – und eröffnet Räume, die die Interaktion mit dem Gegenüber bereichern können. Alexander Batthyány gibt uns Einblick in das Phänomen der terminalen Geistesklarheit: Menschen, die durch schwere Erkrankungen massiv kognitiv eingeschränkt sind und sich kaum mehr an etwas erinnern können, erleben manchmal kurz vor ihrem Tod eine unerwartete, spontane Rückkehr geistiger Klarheit. Das übersteigt so manche Grenzen unseres Verstehens – und stellt grundlegende Fragen zur menschlichen Existenz. Projekte aus der Forschung präsentieren Dominik Pendl, Barbara Gasteiger-Klicpera und Annalisa La Face. Sie haben ein digitales Tool zur Früherkennung von Demenz bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung entwickelt. Timo Dins und Tobias Bernasconi forschen über kommunikative Bedarfe im Alter.
Inhalt:
Artikel | |
---|---|
Symbiose
|
|
Willi will wählen
|
|
Verkörperte Gefühle
|
|
Sie sind "wieder ganz da"
|
|
Pflege braucht Berufsstolz
|
|
In Memoriam Hajo Seng
|
|
Was ihr im Leben wirklich wichtig ist
|
|
GGZ Foto-Challenge 2025:
|
|
Aus einer Woche werden drei: Graz feiert vom 16. Juni bis zum 6. Juli erstmals "Wochen der Inklusion"
|
|
Fremderfahrung und Gefühl in der Betreuung
|
|
Spirituelle Kompetenz in der Pflege
|
|
Teilhabe und Pflege von älteren Menschen mit Behinderung - Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten
|
|
Essen, Trinken und Sondenernährung bei Komplexer Behinderung
|
|
Mut machen(de) Begegnungen - Begegnungs-Mut-Räume schaffen
|
|
Nicht im Stadion - und trotzdem ein Heimspiel: Inklusion im Bistro "AufSchalke"
|
|
Luegsteinsee: Badefreude mit Rampe
|
|
Palliative Versorgung neu denken:
|
|
Nie wieder - heißt jetzt handeln
|
|
Colibri für Menschen mit erworbenen mittelgradigen Hirnschädigungen
|
|
Früherkennung von Demenz bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen
|
|
KommA - Kommunikative Bedarfe im Alter
|
|
Wir können mehr denken, als wir wissen
|
|
Emanzipation und Dankbarkeit
|
|
Warum wir Verletzbarkeit als Offenheit und Berührbarkeit verstehen sollten
|
|
Der nicht ganz jugendfreie Krampus
|
|
Grenzerfahrungen
|
|
Wie Träume fahren können
|
|
"Sterben ist Teil des Lebens." - Warum pflegende Eltern über Abschied sprechen müssen
|
|
Musik verbindet über Barrieren hinweg
|
|
Bücher
|