Thema der Ausgabe 2/2016:

Verwundbarkeit und Widerstandskraft

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Verwundbarkeit und Widerstandskraft

Alle Menschen sind verletzlich!

Wer möchte schon verletzlich und abhängig sein! An den Rändern des Lebens, wenn es in die Welt hinein und wieder heraus geht, sind wir der Abhängigkeit ausgeliefert. Aber sonst wollen wir doch autonom, selbstbestimmt, eigenverantwortlich das Leben im Griff haben. Wir entwerfen gerne solche Idealvorstellungen vom Menschen, die an der Realität nur allzu oft zerschellen.

Die Autorengruppe um Markus Dederich nähert sich dem Thema Vulnerabilität in den verschiedenen Wissenschaften, die für die Behindertenpädagogik relevant sind. Vulnerabilität aus anthropologischer Perspektive wird für das menschliche Leben – behindert oder nicht – als sehr bedeutsam eingeschätzt.

Ursula Stinkes stellt in ihrem Beitrag heraus, dass das menschliche Subjekt zwischen Selbstverwirklichung und Verletzbarkeit schillert. „Erst als leibliche und daher verletzbare und verletzende Wesen können wir moralisch sein und nicht den Sinn für Ungerechtigkeit verlieren.“ Bei Emmanuel Lévinas kommt ein neuer Begriff der Menschlichkeit zum Vorschein: Er verlangt das Erlernen der Sprache des Anderen oder des Fremden. Damit wird das Paradigma der Eigenschaften zweitrangig. Das Paradigma der Begegnung, der Beziehung steht im Vordergrund.

Michael Fingerle diskutiert den Zusammenhang der Begriffe Vulnerabilität und Resilienz, die grundsätzlich komplementär zu denken sind. Menschen mit Behinderungen sind sicherlich strukturellen Benachteiligungen ausgesetzt. Resilienz kann für Argumentationen passend gemacht werden, „die darauf abzielen, soziale Hilfesysteme abzubauen und die Verantwortung für Risikobewältigung hauptsächlich auf das Individuum und seine Familie abzuwälzen. Die Betonung von Vulnerabilität kann dem entgegenwirken, ist aber sozusagen an der Flanke offen für Paternalismus und Entmündigung“.

Georg Theunissen fordert ein Umdenken in Bezug auf autistische Verhaltensweisen: von der Fokussierung auf Störungen zu einem Verständnis als ein Ausdruck menschlichen Seins. Personen aus dem Autismus-Spektrum zeigen häufig ein hohes Maß an Vulnerabilität, aber sie entwickeln oft auch ungeahnte Stärken, kritische und herausfordernde Lebensumstände zu bewältigen.

Nicht alle Menschen werden verletzt!

Es macht einen großen Unterschied, ob man aus der Perspektive einer dritten Person über die leibliche Erfahrungen von Schädigungen und Verletzungen spricht oder ob diese aus der Ich-Perspektive thematisiert werden müssen. „Es braucht für den Sinn von Ungerechtigkeit eine Form der erzählenden persönlichen Erfahrung (Stinkes).“

„In erster Linie einmal erzählen, was ich bisher erlebt habe, erleichterte und belastete auch zugleich“, schildert Gerti Niedl den Beginn ihrer Genesung. Verletztsein ist ein Ohnmachtsgefühl, das die Lebensgeister lähmt, beschreibt Dietmar Zöller sein Empfinden.

„Bitten lernen. Brauchen lernen. Urvertrauen aktivieren. Die fremde Hand, die die Splitter zusammenfegt, nachdem meine Glasflasche abgestürzt und in tausend Scherben zersprungen ist; die Ellenbeuge, in die ich beim Spazierengehen meine Finger lege, um mich führen zu lassen; Augen, die Werbeprospekte von meinen persönlichen Briefen unterscheiden; einen klügeren Kopf als den eigenen, der meinen sprechenden Computer zum Leben erweckt, wenn der sich tot stellt und schweigt.“ Susanne Krahe meistert ihr Leben nach der Erblindung im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesenheit.

Wenn wir doch unsere Unschuld nicht verlören! 

Wir beklagen zwar den Zustand der Mehrheitsgesellschaft, beugen uns aber dennoch der alles beherrschenden Normalität, so Anna Mitgutsch in ihrem eindrucksvollen Essay. Sie ist immer wieder von neuem berührt von der unreflektierten Geradlinigkeit ihres Sohnes. Es mag sich wie ein frommer Wunsch anhören, aber: „Ich wünschte mir eine Gesellschaft, in der Menschen, die sich ihre Unschuld bewahren können, Vorbilder wären.“

 

Leseproben:

Gemälde zu Vulnerabilität aus der Galerie Tacheles in Gmunden
Portraitfoto Anna Mitgutsch - Foto: Anna Mitgutsch
Denkspuren
Anna Mitgutsch

Wenn wir unsere Unschuld nie verlören

Übertriebenes Interesse an sozialen Belangen, Überlegenheitswahn und Egomanie und ein zwanghafter Hang zur Konformität. So beschreibt die Bloggerin Laura Tisoncik auf ihrer Webseite Institute for the Study of the Neurologically Typical eine neurobiologische Besonderheit, die sie das neurotypische Syndrom nennt. „Es wurde noch keine wirkungsvolle Therapie gefunden“, stellt sie lapidar fest. Laura Tisoncik lebt gut mit ihrer Zuschreibung als Frau mit Autismus, indem sie auf ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit als der verbindlichen besteht und die sogenannte Norm als Abweichung definiert.

Gemälde zu Vulnerabilität aus der Galerie Tacheles in Gmunden
Porträtfoto von Georg Theunissen - Foto: Georg Theunissen
Fachthema
Georg Theunissen

Vulnerabilität – Stress – Bewältigung

Seit einigen Jahren gilt das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell als ein wichtiger Ansatz zur Erklärung von Persönlichkeits- und schizophrenieformer Störungen. Zugleich dient es zur Grundlegung therapeutischer Interventionen und psychoedukativer Unterstützungsmaßnahmen. Angesichts seiner Vorzüge findet der Ansatz auch in der pädagogischen Arbeit mit Menschen Zuspruch, denen neben Lernschwierigkeiten zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten nachgesagt werden. Mit dem vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, dass der Ansatz ebenso für die Unterstützung von Personen aus dem Autismus-Spektrum fruchtbar sein kann. Hierzu wird zunächst das Thema der Vulnerabilität aufgegriffen. Anschließend geht es um Stress autistischer Menschen und um selbstbestimmte Bewältigungsformen unter Berücksichtigung von Resilienz. Schlussfolgerungen für die Praxis runden den Beitrag ab.

Sohn Willi füttert ein Kaninchen - Foto: Birte Müller
Sohn Willi füttert ein Kaninchen - Foto: Birte Müller
Kolumne
Birte Müller

Gebrauchstiere

Mein behinderter Sohn Willi hat keine Freunde. Das klingt hart und vielleicht stimmt es auch nicht ganz, denn möglicherweise hat er in der Klasse seiner Förderschule ein oder zwei Kinder, mit denen er so etwas wie „befreundet“ ist, aber keiner von ihnen war jemals bei uns zu Hause zu Besuch und keinen hat Willi je zu sich eingeladen. Es kann auch keiner von ihnen gut genug sprechen, um seinen Eltern zu sagen, sie würden gerne mit Willi spielen – und auch Willi wäre mit so einer Aussage am Talker überfordert. Und genau genommen kann Willi ja auch gar nicht richtig spielen. Und deshalb kann er vielleicht auch noch keine Freundschaften haben, in denen interagiert wird.

Grafik von Miel Delahaij zu Hochsensible sehen die Welt anders Beitragsbild
Grafik von Miel Delahaij zu Hochsensible sehen die Welt anders Beitragsbild
Report
Patricia Thivissen

Hochsensible sehen die Welt anders

Sie möchten sich am liebsten die Ohren zuhalten, wenn ein Rettungswagen mit Martinshorn vorbeifährt. Nach einem langen Arbeitstag ziehen sie sich zurück und brauchen ihre Ruhe. Dafür spüren sie beinahe hellseherisch schon beim Betreten eines Raums, wenn Streit in der Luft liegt, und werden von ihren Freunden für ihr großes Einfühlungsvermögen geschätzt. Sie gehen gerne in Kunstausstellungen und sind kreativ. Sie lieben die Natur.

Inhalt:

Artikel
Vulnerabilität in verschiedenen Wissenschaften: Ein Überblick
Der ambivalente Status des Menschen: Verwundbarkeit und Selbstverwirklichung
Behindert, vulnerabel, resilient – welcher Begriff passt nicht in diese Reihe?
Vulnerabilität – Stress – Bewältigung
Hochsensible sehen die Welt anders
Wenn wir unsere Unschuld nie verlören
„60 Jahre und kein bisschen leise …“
Verletzbarkeit und Widerstandskraft
Gemeinschaft auf Georgisch
Leben im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesenheit
Gebrauchstiere
Einmal Hölle und zurück
Impulse für mehr Lebensqualität
Über den Tellerrand schauen!
Erneut: Probleme mit Reha für schwer behinderte Klientin
Saisonpremiere in Orth
Der Zaubertrank des Lebens
Musik kennt keine Grenzen
Was uns fesselt