Gemälde zu Vulnerabilität aus der Galerie Tacheles in Gmunden

 

aus Heft 2/2016 – Denkspuren
Anna Mitgutsch

Wenn wir unsere Unschuld nie verlören

Übertriebenes Interesse an sozialen Belangen, Überlegenheitswahn und Egomanie und ein zwanghafter Hang zur Konformität. So beschreibt die Bloggerin Laura Tisoncik auf ihrer Webseite Institute for the Study of the Neurologically Typical eine neurobiologische Besonderheit, die sie das neurotypische Syndrom nennt. „Es wurde noch keine wirkungsvolle Therapie gefunden“, stellt sie lapidar fest. Laura Tisoncik lebt gut mit ihrer Zuschreibung als Frau mit Autismus, indem sie auf ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit als der verbindlichen besteht und die sogenannte Norm als Abweichung definiert.

Die Kehrseite der Normierung von Verhalten und Wahrnehmung ist die Pathologisierung von allem, was aus der Norm fällt. Kein Mensch, ja kein Lebewesen, geht a priori von der Annahme aus, ein Mangelwesen, eine Abweichung vom Normalen zu sein. Keiner käme von sich aus auf die Idee, anders und daher schlecht und wertlos zu sein, während die anderen gut und richtig sind. Für den Einzelnen sind es immer zunächst die anderen, die anders sind. Dass sie anders sind, mag ihn erstaunen. Wenn die meisten anders sind, mag dieser Umstand das Leben erschweren, aber erst die Zuschreibungen und Ausgrenzungsstrategien, die als Sozialisierung durchgehen, bringen das Stigma mit sich, dass ein Mensch sich als Anomalie erfahren muss. Erst die Instanzen der Gesellschaft machen aus der Durchsetzung der Norm die Normalität und zwingen den von ihr Abweichenden, sie als verbindlich anzuerkennen und sich selbst im besten Fall als therapiebedürftiges Mangelwesen, im schlimmsten Fall als hoffnungslos und für die anderen wertlos zu betrachten und einzusehen, dass er in der Gesellschaft nur ein geduldeter Außenseiter sein kann. 

Gleichzeitig werden wir nicht müde, den Zustand der Mehrheitsgesellschaft zu kritisieren. Wir beklagen die Hektik, die Akzeleration in allen Lebensbereichen, die steigende Fehlerquote durch zunehmende Oberflächlichkeit, den Mangel an Empathie und Mitgefühl, die Rücksichtslosigkeit, mit der Interessen durchgesetzt werden, die Egomanie der Selbstdarsteller, die Dominanz von Einschaltquoten, den Normierungswahn, den Meinungsterror nicht hinterfragter Vorurteile, den Egoismus, der jede ethische Überlegung hintanstellt, und vieles mehr. Und dennoch beugen wir uns einer Normalität, die all das voraussetzt und durchsetzt, worüber wir uns zwar beklagen – und es letztlich doch hinnehmen, weil wir nicht aus dem Rahmen fallen und ins Abseits gedrängt werden wollen, weil wir fürchten, aus den sozialen Netzwerken herauszufallen und zu Außenseitern zu werden. Aber wenn wir nach unseren Vorbildern gefragt werden, nennen wir Einzelgänger und Außenseiter, dann nennen wir Mahatma Gandhi oder den Dalai Lama oder Mutter Teresa. 

Wir könnten aber auch in der unmittelbaren Umgebung nach Vorbildern suchen. Mit etwas Glück haben wir jemanden in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis, der oder die sich besser zur Nachahmung eignet als Mahatma Gandhi, Menschen, die nicht nur „besondere Bedürfnisse“, sondern auch besondere Fähigkeiten haben, eben weil sie nicht von der Furcht vor Normverstößen besessen sind. Sind es nicht seine besonderen Fähigkeiten, die die Einzigartigkeit eines Menschen ausmachen? 

In meinem ganzen Leben habe ich von niemandem so viel gelernt wie von meinem inzwischen erwachsenen Sohn, der souverän mit seiner autistischen Behinderung umgeht. Er beobachtet genauer als die meisten Menschen, jedenfalls genauer als ich – und zieht daraus seine Schlüsse, die er für sich behält. Er urteilt nicht, er verurteilt nie, weder aus einer vorgefassten Meinung heraus noch auf Grund von Äußerlichkeiten. Aus früher Notwendigkeit hat er gelernt, Strategien gegen das ständig drohende Chaos zu entwickeln. Daher bleibt er ruhig und findet Lösungen, wenn ich am Rand der Hysterie handlungsunfähig werde. Er hat mich eine ganz neue, erfrischende Wahrnehmung gelehrt, die Welt mit von Normen unverstelltem Blick zu sehen und starre Erklärungsmuster loszulassen. Er fordert immer von neuem meine geistige Beweglichkeit und mein Einfühlungsvermögen heraus, die Notwendigkeit, seine Wahrnehmung miteinzubeziehen und die Logik seiner Problemlösungen zu erkennen. Während meine Reaktionen intuitiv und impulsiv dem Augenblick entspringen, bestechen seine Schlussfolgerungen durch ihre Logik, gerade weil sie einem anderen Koordinatensystem entspringen und Resultate einer Wahrnehmung sind, die jemandem, der in konventionellen Normen zu denken gewohnt ist, bizarr, jedenfalls überraschend erscheinen mögen. Doch warum sollten sie weniger Berechtigung haben? Liegt nicht im Überraschenden, Ungewöhnlichen die Wurzel der Innovation?

Wer einen Menschen mit Behinderung um sich hat, lernt die Zeit anders wahrzunehmen und die Qualität der Entschleunigung zu schätzen, die Konzentration auf eine Tätigkeit, die Genauigkeit, bis jedes Detail seiner Vorstellung von Vollendung entspricht. Wenn wir nur die Geduld aufbringen, ist auch das Nichtstun keine verlorene Zeit. Mein Sohn braucht keine Wochenendkurse, um zu sich zu kommen, er ist bei sich – immer, in jedem Augenblick. Sein Ego wiegt leicht, es ist kein Thema, er braucht sich nicht ins Rampenlicht zu drängen. Selbstdarstellung liegt ihm fern, aber er freut sich, wenn seine Leistung geschätzt wird. Die Menschen um ihn, die ein Sensorium dafür haben, spüren die Ruhe, die Gewissheit, dass das Leben genau jetzt stattfindet. Sie ist keine erlernte Fertigkeit, keine Pose, sie kommt aus keinem Vorsatz und ist ganz und gar unbewusst. 

Doch das, was mich immer von neuem wie ein Wunder berührt und mich mit Dankbarkeit darüber erfüllt, genau dieses Kind zu haben, ist die Unschuld, die seiner unreflektierten Geradlinigkeit entspringt. Er lügt nicht, er intrigiert nicht, er heckt nichts aus, er schadet niemandem, jedenfalls nicht absichtlich, er sucht nicht seinen Vorteil, er ist bis zur Selbstschädigung offen und selbstlos. Das macht ihn so verwundbar, dass es mich schmerzt und mit Angst erfüllt. Kann man so leben, so ungeschützt, so offen für jede Gemeinheit, jeden Betrug, so unfähig sich vorzustellen, dass Menschen lügen und übervorteilen, so unfähig, sich in andere hineinzudenken und ihren Gedanken zuvorzukommen? Ist ein solcher Mensch in unserer Gesellschaft lebensfähig? 

Vor Jahrzehnten, zur Zeit der Diagnose, stellten wir, seine Eltern und andere Eltern mit autistischen Kindern, andere Fragen: Wird er lesen und schreiben lernen, wird er einmal ein relativ selbstständiges Leben führen können, wird er irgendwelche Fähigkeiten entwickeln, und vor allem die quälende, nicht ausgesprochene Frage: Wird er für seine Eltern jemals Liebe empfinden? Damals war die Diagnose das Ende aller Hoffnungen. Und in den Augen von Therapeuten und Lehrern waren unsere Kinder ein Bündel von Defiziten, die sich von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe verlagern und verstärken würden. Von Fähigkeiten war nur als „Splitterbegabungen“ die Rede, die sich angesichts der vielen Entwicklungsrückstände und Defizite nicht würden entfalten können. Für die meisten von uns sind die Lebensgeschichten unserer Kinder Erfolgsgeschichten geworden. Ja, sie können menschliche Beziehungen entwickeln, sie sind auf ihre Art liebesfähig, sie können weitgehend selbstbestimmt leben, sie haben Fähigkeiten und Begabungen und haben sie auch verwirklicht. Die Frage nach der Verwundbarkeit dreht sich im Lauf der Jahre um und richtet sich auf die sogenannte normale Umgebung: Wird sie das Netz dessen, was sie als normal und akzeptabel definiert, immer enger ziehen? Gibt es für Abweichungen bald keinen Platz mehr? Kann die Mehrheitsgesellschaft das, was ihr an Menschen, die anders sind, auffällt und sie befremdet, mit Neugier und ohne Vorurteil wahrnehmen und integrieren? Wird sie jene schützen, die sich nicht zur Wehr setzen können, anstatt mit treffsicherem Gespür in ihnen gefundene Opfer zu wittern? Ich wünschte mir eine Gesellschaft, in der Menschen, die sich ihre Unschuld bewahren können, Vorbilder wären. Ein unsinniger, frommer Wunsch? Immerhin gehen sie einen Weg, der eine Chance aufzeigt für ein bedächtigeres, verlangsamtes Leben mit einem auf das natürliche Maß reduziertem Ego ohne Missgunst und Neid. Und wenn man sie lässt, gehen sie ihren Weg so zuversichtlich, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt.

 

Anna Mitgutsch

 Geb. 1948 in Linz. Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg, Dr. phil., Lehrtätigkeit an britischen, amerikanischen und österreichischen Universitäten, lebte 30 Jahre abwechselnd in Linz und Boston. Seit 1985 freischaffende Schriftstellerin und Essayistin.

Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, 2015 erhielt Anna Mitgutsch das Ehrendoktorat der Universität Salzburg.

 

Essays

• Die Welt, die Rätsel bleibt. Essays. München (Luchterhand Verlag) 2013

• Erinnern und Erfinden. Grazer Vorlesungen. Graz (Droschl-Verlag) 1999

• Die Grenzen der Sprache. An den Rändern des Schweigens. Essays in der Reihe Unruhe Bewahren. St. Pölten (Residenz Verlag) 2013

 

Romane

• Die Züchtigung . Düsseldorf (Claassen) 1985, dtv

• Das andere Gesicht. Düsseldorf (Claassen) 1986, dtv

• Ausgrenzung . Darmstadt (Luchterhand) 1989, dtv

• In fremden Städten. Hamburg (Luchterhand) 1992, dtv

• Abschied von Jerusalem. Berlin (Rowohlt Berlin) 1995, dtv

• Haus der Kindheit. München (Luchterhand) 2000, dtv

• Familienfest. München (Luchterhand) 2003, btb

• Zwei Leben und ein Tag. München (Luchterhand) 2007, btb

• Wenn du wiederkommst. München(Luchterhand) 2010, btb

• Die Annäherung. München (Luchterhand) 2016

Die Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

 

Eine Rezension ihres neuesten Romans „Die Annäherung“ befindet sich auf Seite 85.

 

Nächste Lesungen:

24.05.2016 | 20:00 UHR | Ried i. I., Kulturverein Kunst im Keller

02.06.2016 | 19:00 UHR | Graz, Literaturhaus

Lesung und Gespräch

Moderation: Günther Höfler