Gemälde zu Vulnerabilität aus der Galerie Tacheles in Gmunden

 

aus Heft 2/2016 – Fachthema
Georg Theunissen

Vulnerabilität – Stress – Bewältigung

Seit einigen Jahren gilt das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell als ein wichtiger Ansatz zur Erklärung von Persönlichkeits- und schizophrenieformer Störungen. Zugleich dient es zur Grundlegung therapeutischer Interventionen und psychoedukativer Unterstützungsmaßnahmen. Angesichts seiner Vorzüge findet der Ansatz auch in der pädagogischen Arbeit mit Menschen Zuspruch, denen neben Lernschwierigkeiten zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten nachgesagt werden. Mit dem vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, dass der Ansatz ebenso für die Unterstützung von Personen aus dem Autismus-Spektrum fruchtbar sein kann. Hierzu wird zunächst das Thema der Vulnerabilität aufgegriffen. Anschließend geht es um Stress autistischer Menschen und um selbstbestimmte Bewältigungsformen unter Berücksichtigung von Resilienz. Schlussfolgerungen für die Praxis runden den Beitrag ab.

Zur Vulnerabilität von Menschen aus dem Autismus-Spektrum 

War es bislang üblich, zwischen verschiedenen klinischen Bildern von Autismus (z. B. Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus) zu differenzieren, findet heute eine Spektrum-Sicht immer mehr Zuspruch, der die Erkenntnis zugrunde liegt, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in Bezug auf autistische Merkmale gibt (vgl. Theunissen 2014; 2016). Ferner mehren sich Stimmen, Autismus nicht per se als eine Krankheit oder psychische Störung zu betrachten, sondern als Ausdruck eines menschlichen Seins. Dieses ist bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum durch neurologische Besonderheiten gekennzeichnet, durch die sich die Betroffenen von nicht-autistischen Personen unterscheiden.

Ausgangspunkt des hier vorgestellten Vulnerabilitätskonzepts ist eine sogenannte psychosoziale Prädisposition, die sich auf soziale Risikofaktoren vor allem in der frühen Kindheit erstreckt, zum Beispiel auf häufige Krankenhausaufenthalte, Misshandlungen, Traumata, emotionale Vernachlässigung, Ablehnung, ungünstige familiäre und erzieherische Verhältnisse. Je ungünstiger die externen Bedingungen und Einflussfaktoren sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer hohen Verwundbarkeit (Vulnerabilität) auf psychosozialer Ebene. Das ist zum Beispiel den autobiografischen Schriften von Donna Williams (1994) oder Gunilla Gerland (1998) zu entnehmen. 

Der Grad der Prädisposition kann somit in Abhängigkeit von Umweltfaktoren individuell variieren. Es muss aber ebenso eine hohe Vulnerabilität durch bestimmte Genmutationen, epigenetische Einflüsse und ihre Auswirkungen auf die funktionelle Architektur des Gehirns jenseits sozialer Risikofaktoren in Betracht gezogen werden. 

Aktuelle Erklärungsansätze in Bezug auf Autismus (dazu ausführlich Theunissen 2016) – zum Beispiel die „Theorie der intensiv erlebten Welt“ (Markram & Markram 2010), die „Hypothese der unausgewogenen Empathie“ (Smith 2009), das „Modell des Ungleichgewichts zwischen Hemmung und Erregung“ (Rubenstein & Merzenich 2003), die „Theorie der neuronalen Hyperkonnektivität“ im Kindesalter (Supekar et al. 2013) sowie das „Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit“ (Mottron 2014) – sind an dieser Stelle zu verorten. Ihnen gemeinsam ist die auf Forschungsbefunden basierende Annahme einer übersteigerten neuronalen Empfindlichkeit und Reaktion auf sensorische Reize oder Emotionen. Insofern lässt sich eine hohe Vulnerabilität auf der Basis einer „von Natur aus“ (Mottron) veränderten neuronalen Architektur bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum konstatieren. Dies wird von vielen autistischen Personen bestätigt. 

„Als ich im College war“, schreibt die Autistin Temple Grandin (2006, 63), „hörte sich der Haartrockner meiner Mitbewohnerin wie ein abhebender Düsenflieger an“; und die Autistin Gunilla Gerland (1998, 114) sagt: „Als ich acht Jahre alt war, entwickelte ich eine Überempfindlichkeit gegen Kämme und Haarbürsten. Ich sträubte mich dagegen, mich zu kämmen. Plötzlich konnte ich den Schmerz nicht ertragen, der beim Kämmen entstand. Es war, als würde auf dem ganzen Kopf und im Nacken ein synthetisches Feuer brennen.“ Nicht selten berichten autistische Personen, dass sie zum Beispiel den Geräuschpegel in einer Diskothek oder die Atmosphäre auf einer Geburtstagsparty schon nach kurzer Zeit als reizüberflutend, unangenehm und stresshaft erleben. „Meine sensorischen Überempfindlichkeiten sorgten dafür, dass laute Musik und Bässe massive Ohrenschmerzen verursachten“, erwähnt der Autist Florian P. (zit. n. Aspies e. V. 2010, 113). 

Eng verbunden mit dieser durch Übersensibilität gekennzeichneten Vulnerabilität ist eine sogenannte Filterschwäche, über die manche Personen aus dem Autismus-Spektrum berichten und klagen: Alle unterschiedlichen Geräusche drangen ungefiltert in mich ein, und ich konnte das einzelne Geräusch nicht identifizieren. Wenn es zu viel wurde, habe ich nur noch geschrien“ (Zöller 2001, 62). Nicht wenigen Betroffenen fällt es dabei auf der Basis einer erhöhten neuronalen Erregung schwer, zwischen „bedeutungsvollen“ Stimuli und „irrelevanten“ zu unterscheiden. So konstatiert der Autist Tito Mukhopadhyay (zit. n. Bogdashina 2010, 31): „Einen Moment schaust du auf ein Bild, und zur gleichen Zeit wirst du der rosafarbenen Wand gewahr, die das Bild umgibt, und dann hörst du auch Jacks Stimme, der etwas über das Bild erklärt. Im nächsten Moment schaust du auf die Lichtreflexion durch die Verglasung des Bildes. Diese Reflexion rivalisiert mit deiner Aufmerksamkeit, die du zeitgleich auf das Bild richtest.“ Solche Situationen können nach Ansicht der Autistin Nicole Schuster (2007, 20) häufig einen „Dauerstress“ erzeugen, den es ebenso zu bewältigen gilt wie die zuvor beschriebene erhöhte sensorische Empfindlichkeit.

Fassen wir zusammen, so lässt sich festhalten, dass Forschungsbefunden zufolge für viele autistische Personen mit hoher Vulnerabilität sensorische Reize, die üblicherweise von nicht-autistischen Menschen kaum wahrgenommen werden, bereits Stress erzeugen. Dabei gilt es freilich individuelle Besonderheiten zu beachten: So „kann ein autistisches Kind die Geräusche eines Staubsaugers lieben, während sich ein anderes davor fürchtet. Einige (autistische Kinder, GT) fühlen sich vom Geräusch des fließenden oder plätschernden Wassers angezogen und verbringen Stunden mit dem Bedienen der Toilettenspülung, während andere beim Nasswerden ihrer Hosen in Panik geraten, weil sie die spülenden Geräusche wie das Brausen der Niagarafälle wahrnehmen“ (Grandin 2006, 63).

Andererseits kann das, was hier unter Vulnerabilität als vermeintliches Problem beschrieben wird, auch eine Stärke sein. So gibt es gute Gründe zur Annahme, dass Personen aus dem Autismus-Spektrum im Hinblick auf das Erkennen von Details „extrem wahrnehmungs-begabt“ (Grandin 2008, 75) sind: „Mein Autismus verleiht mir eine Wahrnehmung, die fragmentiert und extrem detailorientiert ist. Aus diesem Grund war eines der Lieblingsbücher meiner Kindheit Where’s Waldo, das ein scharfes Auge für Details erfordert. Bis heute entdecke ich regelmäßig Rechtschreibefehler und andere subtile Fehler auf den Seiten eines Buches oder einer Zeitung. Wenn ich zum ersten Mal einen Raum betrete, empfinde ich häufig eine Art Schwindel, wenn mir die ganzen bruchstückhaften Informationen, die mein Gehirn registriert, im Kopf herumschwirren. Details gehen den Objekten, zu denen sie sich zusammensetzen, voraus: Ich sehe zuerst die Kratzer auf der Oberfläche eines Tisches, bevor ich den ganzen Tisch sehe, erst das reflektierte Licht auf einem Fenster, bevor ich das ganze Fenster sehe, erst die Muster auf einem Teppich, bevor der ganze Teppich ins Blickfeld gerät“ (Tammet 2010, 199f.). Allem Anschein nach sind Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit eher als nicht-autistische Personen in der Lage, winzige Details, Unterschiede, Fehler, verdeckte, hintergründige Muster oder Figuren zu erkennen und zu identifizieren. Dies kann als Form einer „autistischen Intelligenz“ gewürdigt werden (vgl. Theunissen 2016).

Darüber hinaus gibt es autistische Personen, die weniger empfindlich in Bezug auf sensorische Reize sind, jedoch aufgrund einer hyper-reaktiven Amygdala („Angstzentrale“ im Gehirn) in sozialen Situationen vulnerabel erscheinen und zum Beispiel schon geringe Anforderungen, Zeitdruck, Gespräche, Lob, plötzliche Veränderungen oder unvorhergesehene Ereignisse, als stresshaft erleben. 

„Mit vier Jahren schaute ich eigentlich regelmäßig fern. Immer der gleiche Sender, immer dieselbe Zeit: 09.00 Uhr. Irgendwann wurde die Sendezeit verlegt, was mich rasend gemacht hat“, schreibt der Autist Miggu (zit. n. Aspies e. V. 2010, 14). 

Ein anderes Beispiel, das sich auf ein ungünstiges Zusammenwirken bestimmter Faktoren wie Zeitdruck, taktile Hypersensitivität, motorische Unbeholfenheit beziehungsweise exekutive Funktionsprobleme bei alltäglichen Anforderungen erstreckt, stammt vom Autisten Matthias Huber (2014, zit. n. Theunissen 2016): Stellen Sie sich vor, eine autistische Person mit taktiler Hypersensitivität soll ein Glas mit Flüssigkeit (Saft, Wasser, Bier…) annehmen. Wahrscheinlich hat sie zunächst erhebliche Schwierigkeiten, das Glas zu ergreifen, weil sie es mit ihren überempfindlichen Handflächen nicht ertragen kann. Erst nach mehreren Tastversuchen und Handstellungen gelingt ihr ein für sie passender, sensorisch akzeptabler Handgriff. 

Dass vulnerable Personen Probleme mit Zeitdruck oder Zeitknappheit haben, ist ebenso dem folgenden Beispiel zu entnehmen: Es bezieht sich auf das Zähneputzen, welches von einem autistischen Jungen in einer ganz bestimmten Weise ausgeführt wird. Wird er dabei unterbrochen (z. B. durch Worte „Beeil dich bitte“), gerät er in Stress und beginnt mit der Prozedur ganz von vorne. Denn in seinem Ablauf (Routine) unterbrochen zu werden, ist für ihn unerträglich.

Über Schwierigkeiten, Veränderungen zu ertragen, berichtet gleichfalls Oliver Sacks (2000, 276): So konnte der autistische Savant-Künstler S. Wiltshire „keine Enttäuschungen und keine Veränderungen in den alltäglichen Gewohnheiten oder der Umgebung ertragen. Traten sie jedoch auf, reagierte er mit verzweifeltem, wütendem Gebrüll“. In ähnlicher Bahn bewegt sich folgende Situation, die mir ein autistischer Mann erzählte: Als er zum ersten Mal das Büro seines Chefs betrat, habe er unmittelbar viele Details registriert: acht Bücherregale, zwei Schränke, eine Fensterbank mit drei Pflanzen, zwei Fensterbänke ohne Pflanzen, vier Stühle um einen runden Tisch… An einem anderen Tag musste er wieder das Büro aufsuchen. Nach Betreten des Raumes hatte er sofort eine Veränderung bemerkt, nämlich zwei Pflanzen auf einer Fensterbank. Daraufhin sei er völlig irritiert gewesen und „in Stress gekommen“. Er hatte sich gefragt: Handelt es sich um das Büro des Chefs oder ist es ein falsches Zimmer? Habe ich mich womöglich verlaufen? Es sei ihm durch seine „Datenspeicherung und Fokussierung auf Details“ schwergefallen, global zu denken und ein Vorverständnis (erwartungsgemäße und kontextgeleitete Begriffsvorstellung „Büro des Chefs“) intuitiv abzurufen. 

Ein solches mangelndes „intuitives Vorverständnis“ (Klicpera & Innerhofer 1999) korrespondiert mit der „Beeinträchtigung der unbewussten Gruppen-Kommunikation und -Interaktion“, die Bernhard Schmidt (2015, 32) als „zentrales Symptom und Problem“ autistischer Personen ausweist. Dabei bezieht er sich auf Ergebnisse der Hirnforschung, nach denen es zwei neuronale Netzwerke gibt, ein „default mode network“ (DMN) und ein „task positiv network“ (TPN), die unter anderem zur zwischenmenschlichen Verständigung, sozialen Orientierung und Navigation höchst bedeutsam sind (vgl. Jack et al. 2013). Dominiere bei nicht-autistischen Personen das DMN, das vermutlich in erster Linie für eine intuitive, emotional geleitete, sozial synchronisierte Orientierung (Empathie) steht und quasi als energiesparender „Autopilot“ fungiert, würden sich autistische Personen eher im TPN bewegen, das vor allem für die rational gesteuerte, zielgerichtete Bewältigung von Aufgaben (Systematisierung) zuständig ist. Da wohl bei vielen autistischen Personen angesichts einer im Jugend- und Erwachsenenalter nachgewiesenen schwachen neuronalen Konnektivität in den meisten Arealen des DMN (vgl. Monk et al. 2009; Weng et al. 2010) der „Autopilot“ fehle, bestehe ein hoher Energieverbrauch in Form von Vulnerabilität, die unter bestimmten Bedingungen wie Restriktionen, Abweisungen oder Ausgrenzungen schwer auszuhalten sei und Distress fördere. Zudem dürfte ein schwaches DMN die Ausbildung des „intuitiven Vorverständnisses“ (Klicpera & Innerhofer) beziehungsweise der „unbewussten Gruppen-Kommunikation und -Interaktion“ (Schmidt) erheblich erschweren, wodurch zusätzliche Ängste erzeugt werden, soziale Situationen zu bewältigen. Reagiert das Umfeld unangemessen und verkennt es die Stärken, die mit dem TPN einhergehen (z. B. intensive Auseinandersetzung mit einer Sache, häufig einem Spezialinteresse), muss mit erhöhten Unsicherheiten, einem geringen Selbstvertrauen oder Selbstwertgefühl, Rückzug, Angst- oder depressiven Störungen gerechnet werden. 

Abschließend sei erwähnt, dass eine Vulnerabilität grundsätzlich schwer messbar und objektivierbar ist. Vielmehr handelt es sich um ein hypothetisches Konstrukt, das sich durch Beobachtungen und Erzählungen, Außensichten und Innensichten, rekonstruieren und aufbereiten lässt.

Stress und Stressverarbeitung

Wie uns die Beispiele bereits vor Augen geführt haben, gibt es eine enge Beziehung zwischen Vulnerabilität und Stress. Da der Stressbegriff im alltäglichen Leben häufig unreflektiert verwendet und nicht selten unterschiedlich benutzt wird, ist es wichtig, ihn zunächst zu definieren. 

Ein Blick auf verschiedene Begriffsbestimmungen und Definitionsversuche lässt den Schluss zu, dass über Differenzierungen hinweg zwei Aspekte von zentraler Bedeutung sind: Zum einen wird Stress als psychische und körperliche Reaktion auf Herausforderungen betrachtet, und zum anderen kennzeichnet der Begriff einen psychischen und körperlichen Zustand unter einer inneren oder äußeren Situation, die als herausfordernd erlebt wird (vgl. Lazarus & Folkman 1984; Nitsch 1981). 

Wenngleich Stress hierbei zumeist „negativ“ assoziiert wird (Distress), kann er sich sehr wohl auch „positiv“ auf eine Leistungsfähigkeit auswirken. Neben dem Erleben augenblickhafter Glücksmomente können dabei langfristig Ressourcen oder innere Potenziale wie Kontrollüberzeugung, Ausdauer, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl oder Selbstbild gestärkt werden. Dieser sogenannte Eustress hat allerdings seine Grenze bei geistiger und/oder körperlicher Überreaktion und Überbeanspruchung.

An dieser Stelle setzen Stresstheorien an, die körperliche Stressreaktionen hervorheben (Selye 1953). Das betrifft neben Erscheinungen wie erhöhter Puls oder Blutdruck, Schwitzen, schnelle Atmung und erhöhte muskuläre Anspannung die vermehrte Ausscheidung von Noradrenalin und Adrenalin, mit der Mechanismen in Gang gesetzt werden, die in der Regel zu gesteigerter motorischer Aktivität bis hin zu Aggressivität führen. Wird die Hypothalamus-Schilddrüsen-Nebennierenrinde-Achse aktiviert, setzt zumeist ein Prozess ein, der zu Hilflosigkeit und Kontrollverlust führt und, wenn sich durch vermehrte Glukokortikoid-Ausschüttung der Cortisol-Spiegel erhöht, für eine depressive Symptombildung oder Störung wegbereitend ist. Nach Janssen, Schuengel und Stolk (2002) scheint es zudem einen Zusammenhang zwischen erhöhtem Cortisol-Spiegel und selbstverletzendem Verhalten in Stresssituationen zu geben, der bei (institutionalisierten) Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen festgestellt wurde. Ferner werden die genannten Stresshormone, erhöhte Konzentrationen von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol im Blut, mit (psychosomatisch bedeutsamen) Krankheitsrisiken in Verbindung gebracht, vor allem mit einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Erkältungen oder Infektionserkrankungen, Schäden an Blutgefäßen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Magen-Darmproblemen. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass bei anhaltendem Stress Lern- und Gedächtnisleistungen nachlassen, indem der Hippocampus als Organisator und Arbeitsgedächtnis zu schrumpfen anfängt.

Darüber hinaus gibt es Stresstheorien, die eine kognitive Stressverarbeitung in den Vordergrund stellen (vgl. Lazarus & Folkman 1984). Sie gehen davon aus, dass die Konfrontation mit Situationen oder Ereignissen unterschiedliche Bewertungsprozesse zur Folge hat. So wird eine Situation zunächst einmal dahingehend bewertet, ob sie überhaupt stresshaft ist. Kommt die Person zu der Einschätzung „nicht-stresshaft“, kann die Situation ignoriert werden. Anderenfalls kommt es zu einem sekundären Bewertungsprozess, der die Frage und Chancen der Situationsbewältigung fokussiert. Situationen, die bedrohlich eingeschätzt werden, führen zu erhöhtem Stresserleben. Umso wichtiger ist ihre Bewältigung. Der sekundären Bewertung folgt somit die Suche nach einer Problemlösung, eine Ressourceneinschätzung und -beurteilung, die Auswahl einer als zweckmäßig geltenden Strategie, die dann als Stressbewältigung (Coping) zutage tritt. Lazarus und Folkman (1984) unterscheiden hierbei zwei Herangehensweisen: eine problemfokussierte, die auf eine positive Veränderung der herausfordernden Situation zielt und eine emotionsfokussierte, die zur Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit führen soll. Strategisch lassen sich verschiedene Arten der Bewältigungsversuche unterscheiden, zum Beispiel Entlastungs- oder Kompensationsformen (z. B. körperliche Entspannung, Zwischenpause, Rückzug in eine Nische, sportliche oder ästhetische Aktivitäten), Informationssuche als direkte Handlung, kognitive Vergegenwärtigung und positive Neueinschätzung, kognitive Distanzierung, Selbstkontrolle oder Unterdrückung von Handlungen, Übernahme von Verantwortung und konfrontative Bewältigung, Flucht und Vermeidung oder Suche nach sozialer Unterstützung. Im Rahmen der Auswahl und Nutzung solcher Möglichkeiten gewinnt ein dritter Bewertungsprozess im Sinne einer Prozessevaluation und Neubewertung an Bedeutung. Insofern wird davon ausgegangen, dass sich Bewertungen und Coping-Strategien transaktional im Laufe des Geschehens aufgrund innerer und äußerer Einflüsse verändern können. 

Zur Stressverarbeitung autistischer Personen

Im Prinzip gelten diese allgemeinen Erkenntnisse auch für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, denen eine erhöhte Vulnerabilität nachgesagt wird. Dabei ist davon auszugehen, dass betroffene Personen mit extrem hoher Sensibilität auf sogenannte Stressoren reagieren (z. B. mit körperlichen Stressreaktionen, v. a. einem erhöhten Cortisol-Spiegel) und ein hohes Maß an Energie zu ihrer Bewältigung mobilisieren müssen. 

Unter Stressoren werden äußere und innere Faktoren gefasst, die eine „negative“ oder „positive“ Stressreaktion beziehungsweise einen Stresszustand auslösen. Die Palette potenzieller Stressfaktoren ist dabei breit: Sie reicht von geringsten Anforderungen im Alltag, von Aufgaben, die eine Person täglich zu bewältigen hat, über Termindruck, mittelfristig zu erledigende Arbeiten, die Planungen und selbsterarbeitete Lösungen erfordern, Prüfungen, Geldknappheit, Arbeitslosigkeit, Mobbing, soziale Erwartungen oder Konventionen, Lärm, Einkaufszentren, lange Warteschlangen, Bahnhöfe, überfüllte Busse, körperliches Unwohlsein bis hin zu Beziehungsproblemen, schweren Krisen, unvorhergesehenen, kritischen oder einschneidenden Lebensereignissen (z. B. Tod einer nahestehenden Person, Unfall, Trennung durch Ehescheidung). 

Führen Extremereignisse zu einer Traumaerfahrung, muss über das bisher Gesagte hinaus auch mit einer posttraumatischen Belastungsstörung gerechnet werden. Welche Faktoren letztlich Stress erzeugen, kann nur individuell erschlossen werden. Entscheidend sind dabei zwei Aspekte: Zum einen hängt es vom Zusammenwirken von Vulnerabilität, Situation oder Ereignis, kognitiver Bewertung und subjektivem Erleben ab, ob ein Stressor vorliegt und bewältigt werden muss. Zum anderen werden der kognitive Bewertungsprozess sowie das subjektive Erleben von einer Ressource moderiert, die als Resilienz auf die Bewältigungsmöglichkeiten erheblichen Einfluss nimmt. 

Zur Bedeutung von Resilienz

Der Begriff der Resilienz verweist an dieser Stelle auf eine psychische Widerstandskraft, Lebensenergie oder Stärke, die sich bei der Bewältigung herausfordernder Situationen oder Ereignisse als hilfreich erweist. Zudem wird Resilienz „als erwartungswidrige positive Entwicklung aufgefasst“ (Fingerle 2011, 124), wobei sie sich hierbei auf kritische Lebensverhältnisse oder belastende Situationen bezieht, die üblicherweise eine negative Entwicklung erwarten lassen beziehungsweise für ein Scheitern oder eine schwere Krise hoch eingeschätzt werden. Resilienz kann somit quasi als „Gegengift“ zur Vulnerabilität dazu beitragen, psychosoziale Risiken oder Belastungen abzufedern, eine Krise, ein Scheitern oder eine psychische Dekompensation zu vermeiden und eine Lebensperspektive aufrechtzuerhalten sowie persönliches Wohlbefinden zu sichern (vgl. Garmezy 1991). 

Die Ausbildung von Resilienz wird durch das Zusammenspiel von veranlagter und erworbener Disposition bestimmt, wobei Lern- und Entwicklungsprozessen unter günstigen Sozialisationsbedingungen in der frühen Kindheit eine zentrale Bedeutung zukommt. Als resilienzfördernd beziehungsweise günstig gelten Lebenswelten, die vor allem in den ersten beiden Lebensjahren eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson ermöglichen, die sich auch in späteren Jahren durch die Verfügbarkeit einer Vertrauensperson (z. B. Familienmitglied, Lehrkraft, Freund, Nachbar) für emotionale Unterstützung in Belastungssituationen auszeichnen, die Raum für selbstbestimmte, sinnstiftende Aktivitäten und Erfahrungen zulassen und die auf eine Einbindung in emotional haltgebenden und entwicklungsfördernden Gemeinschaften achten. 

Solche Bedingungen ermöglichen und erleichtern die Entwicklung individueller protektiver Faktoren, die der Resilienz zugrunde gelegt werden; dazu zählen insbesondere körperliche Gesundheit und Widerstandskraft, Beharrlichkeit, Ausdauer, Vertrauen in eigene Ressourcen, auch Lebenskrisen oder Belastungen bewältigen zu können, Lebensoptimismus oder Zuversicht, Humor, Gutmütigkeit, Kontaktfreudigkeit, Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt, ein positives Selbstkonzept, Selbstwirksamkeitserwartungen, Problemlösefähigkeiten, Kontrollüberzeugung, Leistungsmotivation, Emotionsregulierung und Impulskontrolle, ein positiver Attributionsstil, zielgerichtete Lebenseinstellung, flexible Anpassung an Umbrüche, der Glaube an die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens sowie Intelligenz. 

Wenngleich dieses Vermögen verheißungsvoll wirkt, muss es nicht per se schützend sein. Je nach Situation kann ein Schutzfaktor gar zu einem Risikofaktor werden oder nur für eine begrenzte Zeit protektiv wirksam sein. Das bedeutet, dass die genannten Faktoren nicht absolut gesetzt, weder von gegebenen Situationen oder herausfordernden Lebensumständen, noch von der Bewertungskompetenz der betroffenen Person losgelöst betrachtet werden dürfen. Zudem ist der Synergieeffekt für Resilienz dann am größten, wenn eine Person auch auf soziale Schutzfaktoren oder Umfeld-Stärken zurückgreifen kann. Wichtige protektive soziale Faktoren sind neben einer materiellen Basis (finanzieller Absicherung der Lebensexistenz) günstige infrastrukturelle Lebensbedingungen, eine Vertrauensperson und insbesondere soziale Netzwerke (z. B. Angehörigen- oder Selbstvertretungsgruppe, Nachbarschaften, Freizeitverein), wenn diese von der betroffenen Person positiv, zum Beispiel als psychosozial entlastend, emotional haltgebend, entspannend, anregend und unterstützend, erlebt werden. 

Zur Resilienz autistischer Personen

In der Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum wird das Thema der Resilienz bislang eher selten aufgegriffen. Dies hängt vermutlich mit der Annahme zusammen, dass autistische Personen kaum Resilienz entwickeln können. Ein zentraler Aspekt zur Entwicklung psychischer Widerstandsfähigkeit („emotionaler Resilienz“) bezieht sich nämlich auf Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit (vgl. Schore 2014). Als resilienzkonstituierend gilt die Erfahrung einer verlässlichen, sicheren, vertrauensstiftenden Beziehung im Rahmen von alltäglichen Interaktionen mit mindestens einer Bezugsperson. Um solche Erfahrungen zu ermöglichen, kommt es auf die Feinfühligkeit der zentralen Bezugspersonen an, Signale im kindlichen Verhalten wahrzunehmen, zu verstehen und angemessen auf diese zu reagieren. 

Im Falle autistischer Merkmale, insbesondere der angenommenen Dominanz des TPN, der Wahrnehmungsbesonderheiten und der Besonderheiten in der sozialen Kommunikation, stehen Bezugspersonen unzweifelhaft vor einer großen Herausforderung, die kindlichen Signale, Verhaltens- und Erlebensweisen adäquat zu erkennen, zu interpretieren oder zu verstehen, um passend kommunizieren zu können (Rutgers et al. 2007). 

Autismus stellt demnach einen Risikofaktor in Bezug auf Entwicklung einer sicheren Bindung dar (vgl. Grzadzinski et al. 2012, 86; Schore 2014, 6ff.; Sivaratnam et al. 2015). Ob es bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum angesichts ihrer spezifischen Schwierigkeiten, mit anderen Personen zu interagieren und soziale Kommunikationen zu verstehen, grundsätzlich an einem Bindungsbedürfnis mangelt oder zu einer unsicheren Bindung kommt, die der Ausbildung protektiver Faktoren den Boden entzieht, wird jedoch bezweifelt. 

Nach bisherigen Erkenntnissen sind keine allgemeinen Aussagen zur Bindungsqualität und somit zur Entwicklung einer sicheren Bindung oder Bindungsstörung bei autistischen Kindern zulässig. So gibt es empirische Studien, die keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf soziales Verhalten und Reaktionen auf Trennungssituationen zwischen autistischen Kindern im Alter von 24 Monaten und gleichaltrigen nicht-autistischen Kindern festgestellt haben (vgl. Chandler & Dissanayake 2014; Grzadzinski et al. 2014). Andererseits scheinen nach Überblicksarbeiten von Sivaratnam et al. (2015, 225) und Rutgers et al. (2004; 2007) bei autistischen Kindern sichere Bindungen eher seltener vorzukommen, wobei die Wechselseitigkeit der Beziehungen, insbesondere auch die innere Einstellung und Stress der zentralen Bezugspersonen, eine wichtige Rolle spielen. Ferner gibt es Hinweise darauf, dass eine zusätzliche kognitive Beeinträchtigung (geistige Behinderung) einen Risikofaktor für eine stabile, sichere Bindung darstellt.

Autobiografischen Berichten zufolge gibt es ebenso Personen aus dem Autismus-Spektrum, die trotz autismustypischer Auffälligkeiten im Sozialverhalten über positive Erfahrungen berichten, die schon in ihrer frühen Kindheit eine (emotionale) Verlässlichkeit einer Bezugsperson (Mutter) gespürt haben und Vertrauen entwickeln konnten. Dass solche frühen Erfahrungen resilienzfördernd sind, ist unstrittig (vgl. Schore 2014).

Andererseits haben manche Menschen aus dem Autismus-Spektrum negative Erfahrungen gemacht, zum Beispiel durch fehlende Feinfühligkeit, emotionale Ablehnung, ambivalentes, irritierendes oder gar aversives, gewaltträchtiges Verhalten, die zu unsicheren oder desorganisiert-desorientierten Formen eines Bindungsverhaltens geführt haben. Gleichwohl würden wir es uns zu einfach machen, in diesem Fall autistischen Personen die Chancen, Resilienz zu entwickeln, abzusprechen. Solche Möglichkeiten beschränken sich nämlich nicht nur auf frühe Bindungserfahrungen. Schutzfaktoren können sich auch zu einem späteren Zeitpunkt noch ausbilden, wobei die Rolle der kognitiven Fähigkeiten, Spezialbegabungen und die Fokussierung auf spezielle Interessen nicht unterschätzt werden darf. Nach B. Schmidt (2015) ergibt sich gerade durch das bei autistischen Personen dominierende TPN ein Potenzial an Fähigkeiten (z. B. Beharrlichkeit des Denkens, begeisterte Ausdauer und Kreativität beim Problemlösen), das – wenn es wertgeschätzt würde – für die Entwicklung von Resilienz nutzbringend sein könnte. 

Kann es nicht sein, dass das autistischen Menschen nachgesagte „eingeschränkte Repertoire an Interessen und Aktivitäten, verbunden mit repetitiven oder stereotypen Verhaltensweisen“, die nach DSM-5 mit „abnormer“ Intensität oder Fokussierung einhergehen (vgl. dazu kritisch Theunissen 2016), Ressourcen repräsentiert, welche resilienzfördernd sind? Kann es nicht sein, dass all die Jahre die traditionelle Autismusforschung den Wert von Spezialinteressen verkannt hat und mit ihrer Defizitauslegung der entsprechenden Aktivitäten sowie mit ihrer Entwertung repetitiver oder stereotyper Verhaltensweisen Personen aus dem Autismus-Spektrum weitaus mehr geschadet als genutzt hat? Die folgenden Beispiele führen uns vor Augen, dass durch eine verstehende Sicht autistischer Merkmale und Verhaltensweisen ein Umdenken in Bezug auf Autismus dringend erforderlich erscheint. 

Zunächst einmal – so der Autist N. Higashida (2013, 31) – sei es wichtig zu erkennen, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum „an Dinge denken, an die nicht-autistische Personen nicht denken, die sie nicht interessieren. Das heißt, dass, was uns Spaß macht oder was uns gerade gefällt, nicht zu dem passt, an das der Andere denkt. Wir haben spezielle Interessen, an die wir denken, die wir auch im Gedächtnis abspulen und die uns Spaß machen… An dem, was wir denken, können aber nicht-autistische Menschen dann nicht teilnehmen, weil sie nicht wissen, worum es hier geht“.

Diese Annahme findet an vielen Stellen des sehr lesenswerten Buches „Der Funke“ von K. Barnett (2014) ihre volle Bestätigung. Bereits in seiner frühen Kindheit interessierte sich der autistische Junge Jake Barnett für Licht, Schatten und geometrische Formen. Stundenlang konnte er „völlig bewegungslos dasitzen und auf ein Schattenmuster an der Wand oder auf dem Boden starren, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben“ (ebd., 48). Funktional betrachtet war dies bereits Ausdruck eines wissenschaftlich explorativen Verhaltens. Bei allen Irritationen seines Sozialverhaltens hatte Jakes einfühlsame Mutter erst intuitiv, dann klar erkannt, „wie wichtig es war, dass wir ihm nicht alles weggenommen hatten, was er in jenen frühen Jahren zur Selbststimulation benutzte“ (124). 

Dass frühe Interessen und fokussierte Verhaltensweisen subjektiv bedeutsam sein können, vermerkt übrigens auch O. Sacks, wenn er im Vorwort zu Temple Grandins Schrift „Thinking in Pictures“ (2006, XV) schreibt, dass sie in ihrer frühen Kindheit hoch konzentriert und abgeschottet von der Außenwelt ihre Aufmerksamkeit stundenlang auf ein paar Sandkörner und auf die Muster ihrer Fingerkuppen richtete. Ein solches Verhalten ist nach O. Bogdashina (2010, 77ff.) Ausdruck einer „intellektuellen Sympathie“, bei der eine Person von einer Sache, vor allem angezogen durch ihre sensorischen Reize und Eigenschaften, so ergriffen wird, „dass sie mit ihr verschmilzt und eins wird“ (Williams zit. n. ebd., 77). 

Derlei Erfahrungen, bei denen Dinge sensorisch-intuitiv, durch intensives, detailfokussiertes Betrachten, aber auch durch repetitives, stereotyp wirkendes oder exzessives Beschnuppern, Betasten, Drücken, Bewegen, Beklopfen, Drehen, Geräusche-Erzeugen etc., ergründet werden, dienen der Erschließung und Aneignung von Welt. Zugleich demonstrieren sie ein selbstbestimmtes, exploratives Verhalten, Ausdauer und Konzentration sowie eine Hingabe an eine Sache (vgl. dazu Amanda Baggs Youtube-Video „In My Language“). Des Weiteren bieten sie Möglichkeiten der Kommunikation mit der Umwelt, und sie tragen dazu bei, sich in der Welt zu orientieren und sicher zu fühlen. Ebenso können sie für kreative Prozesse, für eine Weiterentwicklung individueller Interessen sowie für eine vertiefte Auseinandersetzung mit speziellen Dingen, Fragen oder Themen wegbereitend sein. Spätestens an dieser Stelle kommt es dann bei Ermöglichung des Nachgehens individueller Spezialinteressen zur Ausbildung von Leistungsmotivation und spezifischer Fähigkeiten (z. B. Problemlösekompetenz), ferner zu Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung sowie zu einem „Kohärenzgefühl“ (Antonovsky) der Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit von Dingen, für die sich die betreffende Person interessiert.

Alles in allem haben wir es im Rahmen der skizzierten Beschäftigung mit Spezialinteressen mit der Entwicklung eines Repertoires an Stärken zu tun, die mit Resilienz in Verbindung gebracht werden. Da die Ausbildung von Spezialinteressen oder speziellen Stärken ein autistisches Merkmal unabhängig von kognitiven Beeinträchtigungen ist (vgl. dazu Theunissen 2014), können wir davon ausgehen, dass für alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum grundsätzlich Möglichkeiten bestehen, schon im Laufe ihres frühen Lebens Resilienz zu entwickeln. Das ist ohne Zweifel in der Autismusforschung und bei der Betrachtung von Autismus zu wenig beachtet worden. 

Allerdings genügt es nicht, nur das erworbene Repertoire zu würdigen, sondern es muss genauer untersucht werden, wie es von einer betroffenen Person jenseits der Beschäftigung mit Spezialinteressen als eine mehr oder weniger erfolgreiche Bewältigungsstrategie bei herausfordernden Situationen oder Ereignissen genutzt wird. Leistet es zum Beispiel einen Beitrag zur Entspannung, Beruhigung oder Kompensation stresshafter Situationen, die sich nicht auf Interessen beziehen? Wie wir uns dies vorstellen können, signalisieren die folgenden Beispiele:

„Das absolut Wichtigste in meinem Leben sind Bücher. Fach- und Sachbücher zu Geschichts-, Wirtschafts- oder Politikthemen. Das sind meine wahren Leidenschaften, alles andere stelle ich dann hinten an. Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern in eine Buchhandlung“ (Florian P., zit. n. Aspies e. V. 2010, 121). Interessant ist ebenso die Bemerkung von S. Wepil (2016), dass er als Kleinkind „keine bunten Bilderbücher, sondern immer Bücher von Wilhelm-Busch und Zille mit Schwarz-Weiß-Feder-Zeichnungen angeschaut habe; vermutlich, weil diese Bilder sehr klar und daher für die empfindliche Wahrnehmung weniger anstrengend waren“. Beide Beispiele zeigen auf, wie wertvoll der geeignete Umgang mit Spezialinteressen sein kann: einerseits in Bezug auf Prävention von psychosozialem Stress, andererseits zur Vermeidung von Stress angesichts erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit (Vulnerabilität). Beide Strategien implizieren Bewertungsprozesse – sei es bewusst, sei es intuitiv überformt.

Andere Bewältigungsformen, die aus der Beschäftigung mit Spezialinteressen oder aus speziellen Fähigkeiten hervorgehen beziehungsweise dadurch befördert werden, sind der soziale Rückzug, das Aufsuchen von Nischen oder Situationen, die der Beruhigung oder Entspannung dienen. So hatte zum Beispiel T. Grandin (2006, 60ff.) ihr visuelles Denken für den Bau einer „Quetschmaschine“ nutzbar gemacht, um Stress vorzubeugen oder zu kompensieren. 

Bemerkenswert ist darüber hinaus die von P. Schmidt (2013, 214) genannte „Strategie der ‚geplanten Flexibilität‘…, wonach es neben einem Plan A nicht nur einen Plan B, sondern auch weitere vorgedachte Szenarien, die Pläne C, D, E und F gibt“. Da nicht jede Störung oder plötzliche Veränderung eingeplant werden kann, orientiert er sich zudem an dem Slogan: „Nimm es so, wie es kommt!‘“ Die Erstellung solcher Pläne korrespondiert mit der sogenannten Systematisierungsfähigkeit vieler Personen aus dem Autismus-Spektrum, die häufig im Rahmen der Beschäftigung mit Spezialinteressen zur Geltung kommt. Interessant ist des Weiteren P. Schmidts Versuch, den sogenannten „Worst Case“ mit einzuplanen und zu akzeptieren. Das spricht für ein gewisses Maß an kognitiver Flexibilität, die autistischen Menschen nicht selten abgesprochen wird. 

Zum Beispiel haben Personen aus dem Autismus-Spektrum oftmals Schwierigkeiten, sich für Dinge jenseits ihres Spezialinteresses zu interessieren, weil ihre Gedächtnisleistungen nur auf den persönlichen Interessenbereich fokussiert sind. So ist beispielsweise jemand, der sich für historische Ereignisse interessiert, „weit weniger fähig, ein Gedicht aufzunehmen, als eine Liste mit historischen Daten“ (Tammet 2010, 73). Ebenso fällt es manchen schwer, wahrgenommene Situationen oder erlernte Dinge auf andere, ähnliche Objekte oder Kontexte zu übertragen. T. Grandin (2008) nennt zudem die Gefahr der Übergeneralisierung, bei der sich Ängste „vom ursprünglichen Auslöser auf andere Gegenstände oder Situationen ausweiten, die eigentlich harmlos sind“ (ebd., 248). 

Stimming

Solche Ängste werden im Zuge der erhöhten Wahrnehmung von Unterschieden oder Nebensächlichkeiten (winzigen Details) durch die hyperfunktionale Amygdala hervorgerufen (Veränderungsangst). Hier kommt wiederum die Vulnerabilität ins Spiel, die Stress erzeugt und nicht allein durch die Beschäftigung mit Spezialinteressen erworbene Resilienz bewältigt werden kann. Hilfreich kann zum Beispiel eine emotionsfokussierte Herangehensweise sein, wie sie uns T. Mukhopadhyay (2005, 103) vor Augen führt: „Ich selbst reagiere sensibler auf die Einstellungen der Leute. Wenn ich weiß, dass jemand mich voller Neugier beobachtet, fühle ich mich unwohl. Mein Körper reagiert sofort darauf. Ich werde hyperaktiv und wedele mit den Händen, um meinen Stress wenigstens teilweise abzureagieren“; und in einer anderen Situationen bemühte er sich laute Geräusche von Kindern „auszublenden, indem er mit höherer Frequenz mit den Händen wedelte“ (ebd., 21). Selbststimulierendes oder repetitives Verhalten hat damit eine wichtige Funktion, die es zu erkennen gilt. Autistische Personen sprechen in dem Zusammenhang von einem sogenannten Stimming, das funktional betrachtet vor allem der Herstellung eines angenehmen Gefühls, der Selbst-Regulation, der Beruhigung, dem Abbau von Angst oder Stress sowie der Bewältigung negativer Emotionen dient. 

Wie effektiv das Stimming sein kann, führt uns G. Vero (2014, 238) vor Augen, die neben der Möglichkeit physischer Ausdrucksformen (z. B. Schaukeln, Händeflattern, repetitives Klopfen), die vor allem bei autistischen Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen beobachtbar sind, die mentale Strategie hervorhebt: Mentales Stimming ist immer und überall anwendbar, und es ermöglicht mir während meiner Vorträge relativ ruhig vor meinem Publikum zu stehen, die Menschen anzuschauen und zu ihnen sprechen zu können. Während ich also über meinen Autismus spreche, zähle ich im Kopf zweisprachig rückwärts oder sage Schaltjahre auf, zähle die Deckenpaneele oder bewege ständig die Zehen in den Schuhen. Diese Beschäftigung oder Konzentration auf bekannte Reize ermöglicht es mir, mich so zu regulieren, dass der Stress, den eine solche Situation unweigerlich mit sich bringt, auf einem Level bleibt, der es mir ermöglicht, in der Situation zu verbleiben. Stimming, egal ob sozial adäquat oder nicht, erfüllt also überaus wichtige Funktionen. Es reduziert die Reizaufnahme und verhindert so einen sensorischen Overload. Erst mithilfe von Stimming ist es mir möglich, mich in Situationen mit anderen Menschen zu begeben.“ 

In ähnlicher Bahn bewegt sich das folgende Beispiel zur Bewältigung einer Reizüberflutung durch mentales Stimming: „Sobald mehrere Menschen zusammenkommen, weiß ich nicht mehr, welchen Gesprächsaussagen ich folgen soll. Zu viele Reize stürzen auf mich ein. Durch bewusstes Atmen versuche ich mich dann immer zu beruhigen“(Carsten zit. n. Aspies e. V. 2010, 220).

Konsequenzen für die Praxis

Fassen wir zusammen, so lässt sich festhalten, dass Personen aus dem Autismus-Spektrum häufig ein hohes Maß an Vulnerabilität zeigen, das sich auf sensorische Reize und soziale Situationen erstreckt, Ängste und Stress erzeugt. Ob es zu kritischen Bewältigungsformen durch Wutanfälle, Kurzschlusshandlungen, panikartige Reaktionen, selbstverletzendes Verhalten, Fremdaggressionen, dissoziatives Verhalten oder andere psychosoziale Auffälligkeiten kommt, ist dem Zusammenwirken von Vulnerabilität, gegebenen Lebensumständen, subjektiver Ereigniswahrnehmung und -bewertung sowie den zur Verfügung stehenden individuellen und sozialen Schutzfaktoren geschuldet. Dass autistische Menschen Resilienz entwickeln und eigene Stärken sowie soziale Ressourcen zur Bewältigung von Stress nutzen können, sollte nach den obigen Ausführungen unstrittig sein. Diese Chancen wurden vonseiten der traditionellen Autismusforschung bislang ignoriert. 

Die Resilienzforschung führt hingegen zu einem Umdenken, indem nicht mehr nach dem Scheitern, Nicht-Können, nach Defiziten, problematischen Verhaltensweisen, Fehlverhalten oder Inkompetenz Ausschau gehalten, sondern die Frage fokussiert wird, wie es Menschen trotz hoher Vulnerabilität, kritischer oder herausfordernder Lebensumstände gelingt, Krisen oder Stress zu überstehen und nicht psychisch zu dekompensieren. Eine selbsterarbeitete und genutzte Bewältigungsstrategie autistischer Personen besteht zum Beispiel in dem Stimming. 

Diese optimistische und ermutigende Sicht darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Personen aus dem Autismus-Spektrum häufig schwer fällt, ihre vorhandenen Ressourcen zur Bewältigung stresshaft erlebter Situationen, einer Reizüberflutung oder psychosozialer Probleme zu nutzen. Hinzu kommt, dass autistische Personen nicht selten daran gehindert werden, auf selbsterschlossene Bewältigungsmuster zurückzugreifen. Ferner sind sich manche ihrer vorhandenen Stärken gar nicht bewusst, so dass eine Nutzung zur Problemlösung ausbleibt. Andere wiederum haben im Laufe ihres Lebens kaum Möglichkeiten gefunden, individuelle Schutzfaktoren oder Resilienz zur psychosozialen Bewältigung zu entwickeln, weil ihnen eine eng gestrickte Normanpassung durch verhaltenssteuernde Maßnahmen auferlegt wurde. Außerdem fehlen mitunter soziale Schutzfaktoren oder Umfeldstärken, auf die in kritischen Situationen zurückgegriffen werden kann. Des Weiteren scheinen für manche Personen aus dem Autismus-Spektrum ihre autistischen Merkmale in Verbindung mit einer Vulnerabilität so überwältigend zu sein, dass sie der selbstinitiierten Entwicklung von Resilienz im Hinblick auf flexible Temperamentsmerkmale, Impulskontrolle, Emotionsregulierung und sozialverantwortlichem oder angemessenem Verhalten im Wege stehen. 

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn Betroffene nicht nur auf Ressourcen, sondern gleichfalls auf erschwerte Möglichkeiten der Kompensation von Stress sowie auf begrenzte oder mangelnde Coping-Strategien verweisen, die sie vor allem auch auf psychische Begleitstörungen wie Ängste oder Depressionen beziehen. 

In Anbetracht dessen möchte ich abschließend mit Blick auf die vorausgegangene Diskussion sieben zentrale Aspekte herausstellen, die aus der Betroffenen-Sicht und mit Blick auf pädagogische Handlungsmöglichkeiten für eine erfolgreiche Stressbewältigung als bedeutsam gelten können:

(1) Prävention von Stress und psychischen Begleiterscheinungen (Ängsten etc.)

Die entsprechende Palette an Möglichkeiten ist breit: Sie reicht von Vermeidung von Zeitdruck, Reduzierung von sensorischem Stress durch Hilfsmittel (z. B. gefärbte Brillengläser, Ohrstöpsel), strukturierten und visualisierten Tages- oder Arbeitsabläufen, einer rechtzeitigen Informationsweitergabe und Vorbereitung auf Veränderungen oder Übergänge, über Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten, Nutzung von Nischen für interessenbezogene Aktivitäten, Rückgriff auf Sozialgeschichten, Spezialinteressen, Aneignung und Nutzung von Entspannungstechniken (z. B. autogenes Training, Meditation) oder Entspannungsmöglichkeiten (z. B. Ausführen eines Hundes), „Quetschmaschine“ zur rechtzeitigen Beruhigung und Entspannung, sensorische Integration zur Körperwahrnehmung, eine aktive Pflege einer Erholungszeit, regelmäßige (an zwei bis vier Tagen pro Woche) sportliche Aktivitäten wie Joggen oder Schwimmen bis hin zu Gruppenaktivitäten (z. B. gemeinsames Trommeln und Singen, Mannschafts-Rudern, Tanzen) zur Anbahnung intuitiver Synchronisierung und Entwicklung des Selbstwertgefühls, Trainingsprogrammen zur Stressbewältigung, speziellen Hilfen zur Selbsterfahrung und -beobachtung, selbsterschlossenen Stressbewältigungsformen oder Strategien (Stimming), die in den vorausgegangenen Abschnitten im Rahmen mehrerer Beispiele erwähnt wurden. 

Im Einzelfall kann bei hoher angstbedingter Krisenanfälligkeit, bei Angststörungen oder auch Stress eine medikamentöse Begleitbehandlung hilfreich sein, die freilich „angemessene pädagogische oder soziale Programme nicht ersetzen kann“ (Grandin 2006, 131). Alternativ zur Psychopharmakotherapie favorisieren Thompson, Thompson und Reid (2009) eine Prävention und Intervention durch Neurofeedback, das sie insbesondere mit Blick auf Aufbau und Stabilisierung des Anterioren Cingulären Cortex (u. a. Instanz zur Regulierung von Emotionen) bei Personen mit dem sogenannten Asperger-Syndrom positiv evaluiert haben. Ähnlich wie körperliche Aktivitäten (z. B. Joggen, Schwimmen) muss das Neurofeedback langfristig genutzt werden, um eine präventive Wirksamkeit zu erzielen.

(2) Bewältigung von Stress

Befindet sich bereits eine Person in einer für sie unerträglichen Stresssituation, besteht ebenfalls die Möglichkeit, sich über selbstbestimmte Bewältigungsstrategien die Lage erträglicher zu machen, zum Beispiel durch eine Entspannungsübung, durch Stimming, durch körperlich-anstrengende, vor allem sportliche Aktivitäten (Joggen), durch eine kurze Auszeit (Raumwechsel, Spaziergang), durch eine interessenbezogene Aktivität, durch ein entlastendes Angebot aus dem ästhetischen Bereich (Musizieren, Musik hören, Malen) oder durch Nutzung einer „Autisten-Karte“ (Vero), auf der wichtige Ablaufschritte und Informationen festgehalten sind. Ist die Person dazu nicht in der Lage, bedarf es einer assistierenden Hilfe. Dabei können die genannten Strategien genutzt werden, hilfreich scheinen aber auch spezielle Methoden zu sein wie beispielsweise die „paradoxe Intervention“, auf die G. Vero (2013) zurückgreift, wenn sich ihr autistischer, schwer behinderter Sohn in einer Stresssituation befindet. Die Wirksamkeit der Methode ergibt sich dadurch, dass das, was von der intervenierenden Person gesagt wird, sich auf (bewusst) falsche (provokante) Aussagen im Bereich der speziellen Interessen des autistischen Kindes oder Jugendlichen beziehen muss, so dass die betreffende Person sich herausgefordert fühlt, die Antwort zu korrigieren. In dem Moment kommt es zu einer Unterbrechung der bisherigen Stresssituation, und es ergibt sich die Chance, die Aufmerksamkeit interessenbezogen zu verlagern. 

(3) Angebote eines Stressbewältigungstrainings

sind unzweifelhaft sinnvoll, um besser mit herausfordernden Situationen oder Belastungen umgehen zu können. Inhaltlich stehen psychoedukative Programme, Erkennen eigener Ressourcen, praktische Problemlösungstechniken, Entspannungsübungen und kognitive Strategien (z. B. Problemvergegenwärtigung, Umdenken, mentales Stimming) zum Selbstmanagement im Vordergrund.

(4) Die Verfügbarkeit einer konstanten Bezugs- und Vertrauensperson

ist ein wichtiger sozialer Schutzfaktor. Vertrauenspersonen können Mitschüler als sogenannte „Buddies“ oder „Paten“ (Preißmann 2012, 43), Freunde, Geschwister, Nachbarn, Unterstützer, Lehrer/innen, therapeutische Kräfte, Arbeitskollegen, Lebenspartner, Eltern oder Großeltern sein. „Was mir in diesen Jahren (Schulzeit, G. T.) sehr geholfen hat, waren meine Eltern, besonders meine Mutter, die mich begleitet, unterstützt, gefördert und getröstet hat“ (Dietsch zit. n. ebd., 23). Freilich sind Freunde oder Familienangehörige nicht per se schützend. Sie sind es nur dann, wenn sie als beruhigend, verlässlich und emotional haltgebend erlebt werden.

Mitunter ist es schwierig, angemessene Beziehungen herzustellen und zu gestalten. Hierzu werden vor allem mit Blick auf autistische Personen mit schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen non-direktive, interessenstimulierende Herangehensweisen und die Methode des „Spiegelns“ empfohlen, indem zum Beispiel über Spezialinteressen, Stärken, bevorzugte Dinge und Spiele autistischer Menschen (Ordnen, Sortieren von Perlen, Puzzle…) Kontakte angebahnt und Beziehungen aufgebaut werden (vgl. Theunissen & Schubert 2010, 143f.; Williams 1994, 274). 

(5) Soziale Netzwerke

haben gleichfalls eine protektive Funktion, wenn sie von ihren Mitgliedern als emotional haltgebend, schützend und unterstützend erlebt werden. Das gilt zum Beispiel auch für eine kritisch-konstruktive Rückmeldung auf das eigene Verhalten, die sich manche autistische Menschen wünschen. Daher ist es wichtig, Selbstvertretungs- oder Selbsthilfegruppen sowie informelle Netze durch Nachbarschaften, Vereine, Geschäfte und Personen im öffentlichen Leben zu fördern. 

(6) Aufklärung und Information über Autismus als eine Form menschlichen Seins 

ist dabei unerlässlich und kann zum Verständnis des Verhaltens einer autistischen Person sowie zur Prävention von Missverständnissen, Fehlreaktionen, Krisen und kritischen Situationen (Hänseleien, Mobbing) nicht hoch genug eingeschätzt werden. Solche Gespräche und entsprechende Konsultationen sollten vor allem in Lebenswelten und sozialen Systemen stattfinden, in denen nicht-autistische Menschen sich der Inklusion verschrieben haben oder zu einem gemeinsamen Zusammenarbeiten oder Zusammenleben verpflichtet sind (Kindergruppe, Schulklasse, Arbeitsstätte). Entscheidend ist letztlich die Sensibilisierung nicht-autistischer Menschen, Personen aus dem Autismus-Spektrum in ihrem So-Sein (einschließlich ihrer erhöhten Vulnerabilität) anzunehmen und so zu unterstützen, dass sie ihr Leben in einer befriedigenden Weise verwirklichen können. 

(7) Anforderungen an die professionellen Unterstützungspersonen

Um den zuvor anskizzierten Aspekten Rechnung tragen zu können, bedarf es einer zielgruppenbezogenen Professionalisierung der Unterstützungspersonen. Dabei ist es zunächst wichtig, Autismus als eine Form menschlichen Seins zu begreifen und sich gegebenenfalls von der Pathologisierung zu verabschieden. 

In Bezug auf Stress- und Krisenbewältigung bieten Anregungen von J. Janzen und C. Zenko (2012) eine wertvolle Hilfe. Ihr Programm orientiert sich an der funktionalen Problemsicht und impliziert einerseits kurzfristige Hilfen zur Prävention oder Krisenintervention und andererseits eine langfristig angelegte positive Verhaltensunterstützung autistischer Personen. Um professionell unterstützen oder intervenieren zu können, werden Kenntnisse über die funktionale Bedeutung von Stress und autistischen Verhaltensweisen, über den Verlauf einer Krise, über ein funktionales Assessment sowie über Interventionsformen im Sinne des Konzepts der Positiven Verhaltensunterstützung, insbesondere über kontextverändernde und verhaltensaufbauende Maßnahmen, als unabdingbar betrachtet (Anfragen über entsprechende Fortbildungen: georgtheunissen@gmx.de). Hinzu kommen spezifische Kompetenzen, zum Beispiel in Bezug auf ein frühzeitiges Erkennen von Verhaltensweisen, die wachsenden Stress oder eine sich anbahnende Krise signalisieren. Um solche „Frühwarnzeichen“ richtig einschätzen zu können, bedarf es genauer Kenntnisse des Verhaltens der Person, vor allem seiner kommunikativen Ausdrucksformen, da die frühen Anzeichen nicht selten „subtile Kommunikationssignale“ sind (ebd., 113f.). 

Darüber hinaus werden allgemeine und spezielle Verhaltensregeln (assistierende Hilfen) zur Prävention und Intervention von Krisen genannt (z. B. eine ruhige Haltung einnehmen, Anforderungen zurücknehmen, Verhaltensweisen verstärken, die problemlösend sind, kleine Hilfestellungen oder Tipps geben, „Übersetzungshilfe“ leisten, zur Selbsthilfe anstiften …), die beherrscht und professionell (passgenau) in einer konkreten Situation angewandt werden sollten. Letztendlich kommt es jedoch auch auf die Persönlichkeit der Fachkraft an – ein Programm kann noch so gut sein, fehlt es der Unterstützungsperson an Empathie, Sensibilität, Fingerspitzengefühl, Diplomatie, Kreativität oder Flexibilität, sind die Chancen einer hilfreichen Unterstützung eher gering einzuschätzen.

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Georg Theunissen, Prof. Dr. 

Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus, Institut für Rehabilitationspädagogik, Philosophische Fakultät III Erziehungswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 06099 Halle

theunissen@paedagogik.uni-halle.de