Eine schwarz-weiße Illustration. Ein Hahn steht auf einem Kater. Der Kater wiederum auf einem Hund und der Hund auf einem Esel.

Foto: © Hannah Jessen-Asumssen
aus Heft 1/2023 – Serie
Maximilian Buchka

Alter und Behinderung in Märchen

Der Begriff „Alter“ kann aus verschiedenen Lebens- und wissenschaftlichen Perspektiven definiert werden. Kalendarisch betrachtet setzt man das Alter in Verbindung mit dem sozialen Alter, d. h. mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Schwieriger ist die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem subjektiven Alter. Im Alter erfährt der Mensch bei sich individuelle körperliche Abbauprozesse und biologische Veränderungen in der Bewegung, Wahrnehmung und bei den Organfunktionen. Tatsache ist, dass jeder ältere Mensch diese Veränderungen bei sich anders erlebt. So gibt es Menschen, die sich mit 60 Jahren schon „alt fühlen“, während andere das Alter für sich noch „in weiter Ferne“ sehen. Das bedeutet: Das Alter wird von jedem Menschen als individuelle Lebensphase subjektiv erlebt.

→ Vergleichbar mit dem Alter ist auch die Behinderung eines Menschen nur sehr schwer zu definieren. Wenn Menschen in ihren körperlichen (gemeint sind Körper-, Sinnes- und Sprachschäden), geistigen und emotional-seelischen Funktionen auf Dauer beeinträchtigt und unmittelbare Lebensverrichtungen oder die Teilhabe am Leben der Gesellschaft er-schwert sind, spricht man von Behinderung. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass es „den“ Menschen mit Behinderung nicht gibt, sondern jeder Mensch seine Behinderung an-ders erlebt (vgl. Fornefeld 2004, 45 f.), so, wie jeder ältere Mensch sein Alter subjektiv erlebt.
Dass Alter und Behinderung als vergleichbare Lebenszustände zu sehen sind, wurde erst in den letzten zwei Jahrzehnten in der geragogischen Theorie und Praxis erkannt (Buchka 2011; Havemann, Stöppler 2010). In den Märchen wurde dieser Zusammenhang schon viel früher gesehen, z. B. in dem der „Bremer Stadtmusikanten“, das von den Brüdern Grimm in ihre „Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommen wurde. 
 
Die Bremer Stadtmusikanten 

Das Märchen (Grimm 2014, 151–154) handelt von einem Esel, einem Hund und einer Katze, die alt geworden und somit für ihre menschlichen Herr*innen nicht mehr von Nutzen sind, weshalb man sie „aus dem Futter schaffen“ (S. 151) will. Die alten Tiere tun sich also unter der Führung des Esels zusammen, um als „Landesflüchtige“ (S. 152) nach Bremen zu gehen und dort Stadtmusikanten zu werden. Auf dem Weg dorthin treffen sie ei-nen Hahn, der jämmerlich kräht, weil er anderntags von seiner Herrin in der Festtagssuppe für ihre Gäste landen soll. Die alten Tiere raten dem Hahn, mit ihnen nach Bremen zu gehen, denn „etwas Besseres als den Tod findest du überall“ (S. 152). So machten sie sich alle gemeinsam auf den Weg.
Da sie aber am ersten Tag ihrer Wanderschaft nicht bis nach Bremen kommen, müssen sie in einem Wald übernachten. Als Schlafplatz wählen sie einen großen Baum. Der Hahn fliegt in die Baumkrone und erblickt von dort oben ein fernes Licht. Sie machen sich nach dorthin auf und kommen an ein Räuberhaus. Durch die Fenster sehen sie die Räuber an einem reich gedeckten Tisch sitzen. Sie nehmen sich vor, die Räuber zu vertreiben. Dazu stellen sie sich zum Musizieren vor das Fenster, und zwar aufeinander. Unten steht der Esel, auf seinem Rücken hockt der Hund, auf dessen Rücken klettert die Katze und auf ihrem Kopf findet wiederum der Hahn seinen Platz. Dann machen sie einen furchtbaren Lärm, sodass die Räuber geschockt und fluchtartig das Haus verlassen. Als die Räuber am nächsten Tag wieder in ihr Haus zurückkehren wollen, schicken sie zuerst einen der ihren aus, um die Lage zu erkunden. Als dieser ins Haus eindringt, wird er vom Hund ins Bein gebissen, die Katze zerkratzt ihm darauf das Gesicht, der Esel gibt dem Fliehenden noch einen Tritt und der Hahn kräht aus Leibeskräften hinter ihm her. Der Kundschafter gibt einen übertriebenen Bericht von den Schrecken, die im Hause herrschten. Die Räuber sind davon so verängstigt, dass sie sich nicht mehr getrauen, in ihr Haus zurückzugehen, „den vier Bremer Musikanten gefiel’s aber so wohl darin, dass sie nicht wieder heraus wollten“ (S. 154), um nach Bremen zu gehen. 
Von der Art der Erzählung handelt es sich bei diesem Märchen um eine Fabel. Nach Lüthi (2004, vgl. S. 12 f.) kennzeichnet sich diese Erzählgattung dadurch, dass in ihr sprechende Tiere und Pflanzen auftreten. Bei einer Fabel kommt es vor allem auf die moralische Nutzanwendung an. Weiterhin gliedert sich eine Fabel in vier Teile: Situationsbeschreibung, Aktion, Reaktion und Konsequenz. Diese Merkmale sind auch bei den Bremer Stadtmusikanten zu erkennen.
Zur Beschreibung der Situation gehört die Vorstellung der Protagonisten. Das sind an erster Stelle die Tiere. Sie werden mit den Leistungen in ihrem jungen Leben und ihren Behinderungen im Alter beschrieben. Der Esel kann keine schweren Lasten mehr tragen, der Hund taugt wegen seiner Langsamkeit nicht mehr zur Jagd und die Katze kann aufgrund ihrer ausgefallenen Zähne keine Mäuse mehr fangen. Das bedeutet, dass sie altersbedingt ihre Leistungsfähigkeit eingebüßt haben, von der Umwelt als behindert angesehen werden und deshalb „aus dem Futter geschafft“ werden sollten. Drastisch formuliert könnte man sagen: Wer in der Gesellschaft alt und behindert ist, hat kein Lebensrecht mehr! Die Situation des Hahns ist eine andere. Er wird von den Menschen gehalten, um ihre Bedürfnisse zu stillen. Er soll ihnen morgens den Tag ankündigen und abends als Suppenfleisch dienen. Durch sein protestierendes Krähen zeigt der Hahn, dass er sich mit diesem Schicksal nicht abfinden will. 
Zur zweiten Gruppe der Protagonisten in der Fabel zählen die Räuber. Sie leben außer-halb der Gesellschaft (in einem Wald). Sie führen ein gutes Leben auf Kosten der Ausgeraubten und haben deshalb von den rechtschaffenen Bürger:innen der Gesellschaft keine Nachsicht zu erwarten. 
Die Aktion ist die Vertreibung der Räuber aus dem Räuberhaus, nicht durch einen blutigen Kampf, sondern durch Beherztheit und List. Die Lebensregel der Fabel lautet hier: „Die List ist die wirksamste Waffe der Kleinen, denen andere Mittel nicht zur Verfügung stehen.“ (Freund 1996, 97).
Die Vertreibung der Räuber ruft bei ihnen die Reaktion hervor, sich ihr Räuberhaus wie-der zurückzuerobern. Das misslingt aber, weil der Kundschafter die Realität durch Übertreibungen verzerrt, sodass die Räuber aus Angst nicht weiter an ihrem Plan festhalten. Die Tiere haben bei der Rückeroberung neue Verhaltensweisen gezeigt, die zum Erfolg führten. Der Hund muss nicht mehr laufen, sondern beißt dem Kundschafter ins Bein, die Katze, die keine Zähne mehr hat, kann ihm immer noch kräftig das Gesicht zerkratzen, der Esel muss nichts tragen, kann dem Davonlaufenden aber noch einen kräftigen Huftritt geben. Der Hahn erhöht das Durcheinander, indem er so fürchterlich schreit, dass der Eindringling entsetzt davonläuft.
Die Konsequenz besteht darin, dass sie durch ihre neuen Fähigkeiten die soziale Ordnung, die durch Alter und Behinderung zerstört war, wiederherstellen. Die Botschaft der Tiere ist die, dass kein Lebewesen wegen seines Alters oder seiner Behinderung abgeschrieben werden darf, sondern ihm stets die Gelegenheit gegeben werden muss, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Die Botschaft des Hahns lautet, dass kein Subjekt nur auf seine Nutzeffekte festgelegt werden darf, sondern jedes die Chance haben muss, mehr aus seinem Leben zu machen.
Die vorliegende Erzählung wird zu den sogenannten Individuationsmärchen gezählt, in denen „Impulse zur Ich-Entwicklung gegeben (werden). Wir können es (darum) schon dem fünfjährigen Kinde erzählen“ (Lenz, 2012, 164).

Literatur:
Buchka, M. (2011): Das Alter. Stuttgart: Kohlhammer.
Brüder Grimm (2014): Kinder- und Hausmärchen. Hamburg: Nikol, 151–154.
Fornefeld, B. (2004). Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik., 3. Aufl., München: Reinhardt.
Freund, W. (1996): Deutsche Märchen. Eine Einführung. München: Fink.
Lenz, F. (2012): Bildsprache der Märchen. 3. Aufl. Stuttgart: Urachhaus.
Lüthi, M. (2004): Märchen. 10. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler.
Stöppler, R. (2017): Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung. 2. Aufl., Mün-chen: Reinhardt. 

Autor

Dr. Maximilian Buchka ist Professor für Sonder- und Kindheitspädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn.
Maximilian.Buchka@alanus.edu