Thema der Ausgabe 2/2019:

Therapeutischer Dialog

„Wir benötigen sichere empathische Dialoge, welche die Äußerungen jedes Anderen grundsätzlich als ‚sinnvolle Sätze‘ betrachten.“ (Josef Fragner)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Therapeutischer Dialog

Alle Menschen sind von Beginn an auf den sozialen Dialog angewiesen. Hier entstehen Gemeinsamkeiten und persönlicher Sinn. Traditionelle Geschichten über Behinderung hüllen jemanden schnell in das unsichtbare und unerwünschte Gewand einer Identität ein, die das persönliche Ich zu einer Kategorie reduziert. Die existentielle Scham, die uns als vulnerable Stelle unser Leben lang begleitet, wie Paulus Hochgatterer in seiner Laudatio für Michael Köhlmeier beeindruckend ausführt, dringt zu oft zum Zentrum der Persönlichkeit vor – dorthin, wo das Selbstwertgefühl beheimatet ist. Solch verletzte und ausgegrenzte Personen verschwinden mit ihrem Namen, sie werden zu einem Niemand, zu einem Nichts. Sie verschwinden aus der gemeinsam geteilten Erzählung. 

Nicht einmal als Nichts dürfen sie vorkommen. Es treffen sich – frei nach Slavoj Žižek – ein Intellektueller, ein einflussreicher Politiker und ein mittelloser Asylant. Sie sinnieren über ihr Leben und der Intellektuelle kommt zu dem Ergebnis, dass er zwar vieles weiß, aber im Grunde mehr Fragen als Antworten bleiben – er also ein Nichts sei. Der Politiker pflichtet ihm bei, er habe zwar einige Macht, aber letztlich sei er auch ein Nichts. Da mischt sich der Flüchtling ein, schildert sein derzeitiges Leben und folgert, dass er auch ein Nichts sei. Empört schauen sich der Intellektuelle und der Politiker an: „Was bildet der sich ein, auch ein Nichts zu sein!“. Die Würde, die verletzt werden könnte, gesteht man einem Überflüssigen überhaupt nicht mehr zu. Dadurch geht jegliches Verantwortungsgefühl verloren.

 

Der therapeutische Dialog kann einen neuen Zwischenraum entstehen lassen, in dem individueller Sinn und gesellschaftliche Bedeutungen wachsen können. 

 

Schon bei der Diagnose, so Anna Mitgutsch, wird nicht selten der Name durch eine Kategorie ersetzt. „Ich frage mich manchmal, welche Verbrechen begehen wir heute im besten Glauben, richtig zu denken und richtig zu handeln?“, wenn nur die Abweichung und nicht die subjektiv sinnvollen Strategien der Bewältigung gesehen werden. 

 

„Meine Therapeutin ist für mich eine Art Brücke nach draußen in die Welt.“ Christine Preißmann schildert ihre persönlichen Erfahrungen mit der Therapie. 

 

Musik kann vieles, aber wie gelingt es, bei Menschen mit komplexen Behinderungen einen Kontakt aufzubauen? Silke Reimer zeigt an Beispielen, wie Neues erfahren und Begegnung erlebt werden kann, wenn die Entwicklungsgeschichten der einzelnen Personen anerkannt werden. 

 

Diese Spur verfolgt auch Barbara Senckel in ihrem Beitrag „Mit Robin den Weg finden“. „Seinen Entwicklungsprozess hatte Robin praktisch selbst gesteuert. Ich war nur sein Gegenüber, das ihm ein sicheres Bindungsangebot machte.“

 

Veronika Hermes zeigt, dass Psychotherapie nicht nur auf Sprache angewiesen ist und sie eröffnet neue Wege für eine solche Therapie.

 

Anette Orphal orientiert sich an der emotionalen Resonanz zwischen Mutter und Kind, an den „Melodien des Tonus“, wie es Henri Wallon nannte. Eindrucksvoll schildert sie, wie durch sensomotorische Koordination dem „Er“leben von Bastian neue motorische und kognitive Räume eröffnet werden.

 

Wir benötigen Dialoge, welche die Äußerungen jedes Anderen grundsätzlich als „sinnvolle Sätze“ betrachten. Dies kann eine sichere Grundlage für den Aufbau eines – neuen – Verhältnisses von Welt, Selbst und bedeutsamen Anderen bilden. 

Josef Fragner, Chefredakteur

josef.fragner@behindertemenschen.at

 

Leseproben:

Florale Formen, die farbenfroh (gelb und blau) ausgeführt sind. Im Zentrum steht ein Magnolienbaum mit Stamm und Früchten.
Florale Formen, die farbenfroh (gelb und blau) ausgeführt sind. Im Zentrum steht ein Magnolienbaum mit Stamm und Früchten.
Fachthema
Annette Orphal

Wie geht es mit Bastian weiter?

Bastian ist 15 Monate alt, als seine Mutter Sarah im vergangenen Oktober Kontakt zu mir aufnimmt.
Seit die gelernte Krankenschwester und mittlerweile Ausbilderin zur eigenen Erholung wöchentliche Feldenkrais-Stunden besucht, glaubt sie, dass so eine wohlwollende und spielerisch anregende Herangehensweise bestimmt auch ihrem Sohn helfen könnte: Er braucht Unterstützung, denn die von der Mutter schon seit den ersten Lebensmonaten vermutete Entwicklungsverzögerung ist inzwischen auch von Medizinern anerkannt, wenngleich noch keine der zahlreichen Untersuchungen bisher Ursachen aufdecken konnte und daher nach wie vor keine Erklärung gefunden ist.

Emmy ist ein fünf Jahre altes, aufgewecktes Mädchen mit Trisomie 21. Mit ihren langen, blonden Haaren steht sie mitten im Laub und hält ein Blatt.
Emmy ist ein fünf Jahre altes, aufgewecktes Mädchen mit Trisomie 21. Mit ihren langen, blonden Haaren steht sie mitten im Laub und hält ein Blatt.
Fotoessay
Mario Wezel

One in eight hundred

Mario Wezel dokumentiert in seiner preisgekrönten Arbeit das Leben einer dänischen Familie mit deren Tochter, die das Down-Syndrom hat. Seine Fotos zeigen den Alltag von Emmy und ihrer Familie, also wie es ist, ein Kind mit Trisomie 21 großzuziehen.

Emil, 13 Jahre alt, ist ein cooler Junge mit Trisomie 21: Er trägt Brillen, eine Haube hat die Hände in seiner schwarzen Jacke.
Emil, 13 Jahre alt, ist ein cooler Junge mit Trisomie 21: Er trägt Brillen, eine Haube hat die Hände in seiner schwarzen Jacke.
Inklusive Gesellschaft
Sebastian Hofer

Leider nein

Österreich lässt junge Menschen mit Behinderung systematisch im Stich. Ein Beispiel unter vielen: Emil, Teenager mit Down-Syndrom.

Die Farben Blau, Gelb, Orange und Grün dominieren das Bild. Florale Formen, die mit Schwarz umrandet und dann ausgemalt sind.
Porträtfoto von Dr.in Silke Reimer.
Fachthema
Silke Reimer

„Hat er denn auch schön mitgemacht?“ – Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie bei Menschen mit komplexer Mehrfachbehinderung

Wie kann Kontakt mit Menschen mit komplexer Behinderung gelingen? Wie kann Gemeinsamkeit erlebt werden, wenn ein Mensch in seiner eigenen Welt verschlossen zu sein scheint? Wie können Ruhe und Aufmerksamkeit entstehen, wenn ein Mensch im Alltag häufig unruhig und angespannt ist? Und vor allem: Was kann Musiktherapie zu einem positiven Erleben und zur Entwicklung von Beziehungsfähigkeit beitragen?

Eine Kissenschlacht: Die Pflegemutter Kerstin Held und ihr Pflegekind Cora haben richtig Spaß.
Eine Kissenschlacht: Die Pflegemutter Kerstin Held und ihr Pflegekind Cora haben richtig Spaß.
Leben mit behinderten Pflegekindern
Vivian Pasquet, Jacobia Dahm

Leben mit behinderten Pflegekindern

„Mach was aus deinem Leben!“, sagten Freunde zu ihr. „Ich mach doch was“, antwortete Kerstin Held – und nahm Pflegekinder mit Behinderungen bei sich auf, neun im Lauf der Zeit: Kinder mit Autismus, Kinder mit Behinderungen durch den Alkoholabusus ihrer Mütter, Kinder mit begrenzter Lebenserwartung. Warum tut sie das?

Ein Herbstbild, das durch seine Farbenvielfalt besticht. Es leuchtet in Grün, Gelb, Blau, Orange und Rot. Zu sehen sind Äpfel, Blätter und ein Stamm.
Porträtfoto von Anna Mitgutsch.
Essay
Anna Mitgutsch

Diagnosen können retten oder zerstören

Inhalt:

Artikel
Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen: Persönliche Erfahrungen
„Hat er denn auch schön mitgemacht?“
Psychotherapie bei Menschen mit Lernschwierigkeiten
Mit Robin den Weg finden
Wie geht es mit Bastian weiter?
Ursprünglich, einzigartig, ohne Filter
Frau Held, Mutter
„Nicht das Mädchen im Rollstuhl“
Zumutung sein
Hier zählt das „Prenski-Du“
Leider nein
Willi und Sex?
Waisenkinder der Medizin
Mehr Therapien, weniger „Therapien“!
One in eight hundred
Diagnosen können retten oder zerstören
Import als Innovation?
Barrierefrei durch die sommerliche Aletsch Arena
Kurzmeldung mit Behinderung
Ungarn, rechte Ritter
Jugendbücher einfach lesen!
ÖBB entwickeln barrierefreie Fernzüge
Kein Wahlausschluss für betreute Menschen in Deutschland
Special Olympics World Games und ein glückliches Tanzpaar