Stilisierte Ilustration: Sechs Kinder halten sich an den Händen und bilden einen Kreis. – Illustration: Eva-Maria Gugg

Je länger der Krieg der Krieg in Syrien dauert, umso wahrscheinlicher ist es, dass bei Kindern langfristige psychische Schäden irreparabel und dauerhaft bestehen bleiben. – Illustration: Eva-Maria Gugg

aus Heft 2/2017 – Syrien - Kinder im Krieg
Gerhard Einsiedler

Syrien – das Ende der Kindheit

Seit sechs Jahren werden syrische Kinder bombardiert und systematisch ausgehungert. Sie müssen zusehen, wie Freunde und Familienmitglieder vor ihren Augen getötet oder unter dem Geröll ihrer Häuser verschüttet werden. Sie beobachten, wie ihre Schulen und Krankenhäuser zerstört werden. Man versagt ihnen Nahrung, Medizin und lebenswichtige Hilfsgüter und viele werden auf der Flucht vor den kriegerischen Auseinandersetzungen von Freunden und Familien getrennt. Mit jedem weiteren Kriegsjahr erreicht die Gewalt gegen Kinder ein neues, bisher nicht vorstellbares Ausmaß und internationales Recht wird von allen Seiten missachtet.

Die psychologischen Auswirkungen der vergangenen sechs Jahre, in denen niemand wusste, ob man den nächsten Tag erleben würde, sind unvorstellbar. Mindestens drei Millionen syrische Kinder unter sechs Jahren kennen nichts anderes als Krieg und Millionen weiterer Kinder wachsen in ständiger Angst vor dessen Konsequenzen auf.

Angst vor der Zukunft

Sie sind die nächste Generation, die das zerstörte Land wieder aufbauen muss – ihre Zukunft und die Zukunft Syriens stehen auf dem Spiel. Studien zu den psychologischen Auswirkungen auf syrische Flüchtlingskinder zeigen ein unvorstellbar hohes Maß an Trauma und Verzweiflung. Allerdings ist über Kinder, die sich nach wie vor im Land befinden, nur wenig bekannt. Man geht davon aus, dass jedes vierte von ihnen ernsthafte psychische Störungen entwickeln könnte. Der neue Bericht der Kinderrechtsorganisation Save the Children „Unsichtbare Wunden. Was sechs Jahre Krieg in der Psyche der syrischen Kinder anrichten“ (siehe S. 14) gibt herzzerreißende Berichte von Kindern wieder, die aufgrund des ständigen Bombardements und der Luftangriffe völlig paralysiert sind, sich vor der Zukunft fürchten und verzweifeln, weil sie nicht zur Schule gehen können.

Nach sechs Jahren Krieg ist ein kritischer Punkt erreicht worden, nach dessen Verstreichen die prägenden Entwicklungsjahre der Kinder so schwerwiegend beeinträchtigt sein könnten, dass der Schaden lebenslang und unumkehrbar ist. Die Kinder Syriens stehen an einem Scheideweg: Das Risiko ist mittlerweile sehr groß, dass diese Generation an ihren Traumata und dem extremen Stress zerbricht. Während viele Monate lang der Kampf um Aleppo die Schlagzeilen aus Syrien dominierte, erleben Kinder überall im Land bis heute unfassbares Leid. 

Keine Schulen mehr

Seit Kriegsbeginn fanden über 4000 Angriffe auf syrische Schulen statt – das sind fast zwei pro Tag. Jede dritte Schule wird nicht mehr genutzt, weil sie von Bomben beschädigt wurde, fliehenden Familien als provisorische Unterkunft dient oder von bewaffneten Gruppen zu einem Militärstützpunkt, Gefangenenlager oder einer Folterkammer umgewandelt wurde. Etwa 150.000 zuvor im Bildungsbereich Tätige – darunter viele Lehrer – sind aus dem Land geflohen. Selbst in Gebieten, in denen noch Schulen geöffnet sind, führt das willkürliche Bombardieren der zivilen Infrastruktur dazu, dass viele Eltern ihre Kinder aus Angst um ihr Leben nicht in die Schule gehen lassen. Partnerschulen von Save the Children müssen häufig tagelang geschlossen bleiben, weil es schlichtweg zu gefährlich ist, Kinder an einem Ort zu versammeln.

Vor Ausbruch des Kriegs gingen fast 100 % der syrischen Kinder zur Schule und die Alphabetisierungsrate lag bei 95 %. Heute gehören die Einschulungsraten zu den niedrigsten der Welt; fast ein Drittel der Kinder im Schulalter (1,75 Millionen) geht nicht mehr zur Schule, und 1,35 Millionen weitere Kinder könnten bald ebenso die Schule abbrechen. Jahrzehnte des Fortschritts und der Bildung wurden bereits zunichtegemacht.

Klassenzimmer in Kellern

Es ist von entscheidender Bedeutung, weitere Schul- und Bildungsprojekte zu fördern. Im Jahr 2016 standen allerdings nur 55 % der für Bildungsprojekte benötigten Gelder in Syrien zur Verfügung. Syrische und internationale Hilfsorganisationen unternahmen gemeinsam mit den lokalen Gemeinden enorme Anstrengungen, um die Schulen unter widrigsten Bedingungen geöffnet zu lassen. So wurden Klassenzimmer in Kellern eingerichtet, um sich vor Bomben zu schützen – oder auch informelle Klassen in Privathäusern, Moscheen und verlassenen Gebäuden, wenn die Schulen zerstört waren. Die Lehrer arbeiten oft für wenig oder kein Geld: in überfüllten Klassenzimmern, ohne Elektrizität oder Heizung bei eisigen Wintertemperaturen.

Banden und Frühehen

Der Mangel an Schulen oder alternativen Möglichkeiten und der wegen des Kriegs wachsende wirtschaftliche Druck führten dazu, dass 85 % der Menschen in Syrien in Armut leben. Dadurch sind Kinder wesentlich stärker durch Ausbeutung und Gewalt gefährdet. Viele Erwachsene betonen, dass Burschen schon im frühen Alter von bewaffneten Gruppen angeheuert werden, Mädchen oft schon mit zwölf Jahren verheiratet werden, und Kinder beiderlei Geschlechts Arbeit finden müssen, um ihre Familien zu unterstützen. Den jüngsten UN-Schätzungen in Syrien zufolge wurden in 90 % aller untersuchten Standorte von der Rekrutierung von Kindern und in 85 % von Frühehen berichtet.

Obwohl es sich hier um einen Verstoß gegen die internationalen Menschenrechte sowie eine der sechs gravierenden Verletzungen der Rechte von Kindern in bewaffneten Konflikten (UN-Sicherheitsratsresolution 1612) handelt, werden vor allem junge Burschen dazu gezwungen, für bewaffnete Gruppen zu kochen und zu putzen oder Checkpoints zu bewachen, bis sie alt genug sind, um selbst militärisch aktiv zu werden. „Krieg ist ein Geschäft und die bewaffneten Gruppen sind oft die einzigen, die das Geld haben, sie zu bezahlen“, so ein Jugendbetreuer.

Zerrissene Familien

Vor allem Jugendliche betonen, dass es ihre größte Sorge sei, durch die Gewalt Freunde und Verwandte zu verlieren. Aber auch die Angst, inhaftiert zu werden, kommt häufig zur Sprache, denn zehntausende Menschen sind seit Beginn des Konflikts verschwunden. Andere fürchten, von ihren Freunden und Verwandten getrennt zu werden, wenn sie plötzlich fliehen und ihre Heimat verlassen müssen. In Syrien selbst gibt es mindestens 6,3 Millionen Binnen-Vertriebene. Allein im letzten Jahr kamen täglich über 6000 Menschen hinzu.

Viele Waisen

Die hohe Todesrate hat zu einer unbekannten Anzahl von Waisen geführt. 77 % der Erwachsenen gaben an, dass sie von Kindern wissen, die einen oder beide Elternteile verloren haben. Zwar wird die Mehrheit dieser Kinder von Großeltern, Tanten und Onkeln aufgenommen, aber rund 20 % der Kinder leben alleine haben keine andere Wahl, als sich selbst durchzuschlagen. Viele müssen auf Bauernhöfen oder in Geschäften arbeiten, werden zu Taschendieben oder Bettlern oder schließen sich bewaffneten Gruppen an, um über die Runden zu kommen.