Geschwisterkinder, Foto: Kathrin Stahl

Schaut so ein vernachlässigtes Geschwisterkind aus?

Foto: Kathrin Stahl
aus Heft 6/2016 – Willis Insiderwissen
Birte Müller

Geschwisterkinder

„… Und um mich kümmert sich keiner!“

Vor einigen Jahren initiierte die Novartis-Stiftung „FamilienBande“, die sich für die Gesundheit der Geschwister chronisch kranker oder behinderter Kinder engagiert, einen Wettbewerb für Design-Studenten. Die preisgekrönten Plakate fand ich inhaltlich durchwegs blöd. Wahrscheinlich fühlte ich mich von ihnen angegriffen, denn allesamt waren sie im „Mama, ich bin auch noch da“-Tenor und prangerten die vermeintliche Vernachlässigung des nicht behinderten Geschwisterkindes an. Die Poster appellierten mal wieder an mein schlechtes Gewissen, was mich immer sofort skeptisch stimmt. 

Ich kenne ziemlich viele Familien mit behinderten Kindern. Ich kann mich an keine einzige erinnern, in der ich das Gefühl hatte, einem vernachlässigten Geschwisterkind begegnet zu sein. Im Gegenteil: Es gibt viele starke Persönlichkeiten, die aus der besonderen Familiensituation gewachsen sind. Und ich glaube nicht, dass ich auch nur eine einzige Mutter eines behinderten Kindes kenne, die es nötig hat, daran erinnert zu werden, sich auch um die Bedürfnisse ihrer nicht behinderten Kinder zu kümmern. Eigentlich sehe ich immer nur Frauen, die höchstens sich selbst vernachlässigen, aber bestimmt nicht ihre Kinder! 

Sich selbst aufgegeben

Ich kenne mehrere Erwachsene, mit behinderten Geschwistern. Einer ist etwa 15 Jahre älter als ich. Er hat sogar gleich zwei behinderte Brüder. In ihm spüre ich nie Wut gegen seine Mutter, weil sie sich nicht genug um ihn gekümmert hätte. Er wirft ihr lediglich vor, dass sie sich selbst vollkommen aufgegeben hat – dafür verachtet er sie sogar. Ein anderer Freund ist jünger als ich und er kann seinem Vater nicht verzeihen, dass dieser, statt die Behinderung seines Bruders anzunehmen, seit zwölf Jahren Gerichtsprozesse führt, um den vermeintlich „schuldigen“ Kinderarzt zu belangen. Dieser Vater vernachlässigt in den Augen seines Sohnes gleich die ganze Familie – sein behindertes Kind inbegriffen. 

Ich finde es gut und wichtig, das professionelle Augenmerk immer wieder auch auf das nicht behinderte Geschwisterkind zu richten – zugegeben, es läuft wahrlich nicht immer stressfrei bei uns zu Hause ab. Wenn ich mich umschaue, sehe ich in meinem Umfeld aber viele Kinder, die mit besonderen Herausforderungen aufwachsen – fast jede Familie trägt ihr Päckchen. Die einen haben eine Fluchtgeschichte und Kriegserfahrungen hinter sich, die eine Mutter hat ein Problem mit Alkohol, eine andere kämpft mit chronischen Depressionen und andere pflegen ihre kranken Eltern. Andere Familien, bei denen alles problemlos zu laufen scheint, setzen sich und ihre Kinder mit so enormen Erwartungen unter Druck, dass sie daran zerbrechen. Und wie viele Paare leben getrennt und stehen ständig vor den Schwierigkeiten, die eine solche Situation mit sich bringt? Wir Mütter behinderter Kinder können das dauernde schlechte Gewissen nicht für uns allein in Anspruch nehmen, wir dürfen es mit vielen anderen Müttern teilen. 

„Schattenkinder?“

Wenn ich Olivia mit ihren sieben Jahren so anschaue, dann sehe ich ganz sicher nicht das, was mit dem furchtbaren Wort „Schattenkind“ bezeichnet wird – dahinvegetierend im Schatten ihres behinderten Bruders. In einem Text, den ich zum Geschwister-Thema gefunden habe, heißt es: „Unter diesem riesigen Schatten leben Schattenkinder einsam, traurig, bitter, ohne Liebe.“ Diese Vorstellungen stammen meiner Meinung nach aus einer anderen Zeit, in der vielleicht Spezialfamilien nicht so viel Akzeptanz und Unterstützung erlebten wie wir heute. 

Wenn ich meine Tochter anschaue, sehe ich ein extrem selbstbewusstes, charakterstarkes Mädchen, das sich gekonnt ins Rampenlicht stellt, wo immer es möglich ist. Sie kann um ein Vielfaches besser ihre Bedürfnisse einfordern als ihr behinderter Bruder und tut das auch! Sie sorgt selbst gut dafür, dass sie nicht zu kurz kommt. Und einen Helferkomplex kann ich beim besten Willen auch nicht bei ihr feststellen. 

Unendlich viel Liebe

Einsam? Traurig? Ohne Liebe? Ich möchte wirklich nicht behaupten, alles richtig zu machen, aber Liebe habe ich für meine beiden Kinder unendlich viel. Manchmal habe ich sogar ein schlechtes Gewissen Willi gegenüber, weil Olivia mir oft so große Freude bereitet: durch ihre Sprache, durch ihre gemalten Bilder und durch die vielen Dinge, die wir gemeinsam machen können, die mit Willi nicht möglich sind. Wer würde mit mir Marmelade kochen, Kastanien-Tiere basteln, filzen oder Fahrradtouren machen?

Ich habe das Gefühl, dass keines der gängigen Vorurteile über Geschwister von behinderten Kindern auf meine Tochter zutrifft – auch nicht die positiven. Sie ist nicht besonders sozial hier zu Hause, sie ist auch nicht besonders eng mit ihrem Bruder und spielt eigentlich fast nie mit ihm, was ich ihr nicht vorwerfe, denn man kann mit Willi aus ihrer Sicht ja auch noch nicht wirklich spielen. Und ihm eine Stunde lang die die Puzzleteile an die richtige Stelle zu schieben und dabei ständig laute Blasmusik zu hören – das kann man von ihr doch auch nicht erwarten. Das macht nur mir Freude und Willis Oma. Ansonsten muss ich jemanden dafür bezahlen, der diese Aufgabe übernimmt.

Willi und Olivia 

Die beiden existieren bei uns zu Hause einfach mehr oder weniger friedlich nebeneinander. Wo immer es geht, versuche ich, ein gemeinsames Spiel zu finden und zu begleiten (etwa mit einem Ball im Garten oder auf dem Trampolin). Aber Olivia hat schon gelernt, dass Willis Begeisterung und Liebe oft schmerzhaft sind, sodass sie regelrecht in Deckung geht und um Hilfe ruft, wenn Willi ihr zu nahe kommt. Selbst gemeinsam fernsehen ist schwierig, denn wenn sich Willi endlich nach der x-ten Wiederholung langsam an einen Film gewöhnt hat, hängt er Olivia bereits komplett zu den Ohren heraus. Man kann aber auch nicht sagen, dass Olivia ein schlechtes Verhältnis zu ihrem Bruder hat. Zu ihrer Kindergeburtstagsfeier ist er zwar nicht mit eingeladen, aber sonst spielt sie mit ihren Freunden bei uns zu Hause ganz selbstverständlich neben Willi und um Willi herum. 

Natürlich nervt es Olivia, wenn ich mich so viel um Willi kümmere. Immer wieder muss ich unsere Tätigkeiten unterbrechen, um Willi einen Stock wegzunehmen, mit dem er in den Kaninchenstall stochert oder eine Schere, mit der er versucht, unsere Vorhänge zu zerschneiden. In der Regel baue ich mit Olivia ein Spiel deswegen lieber erst auf, wenn ich Willi ins Bett gebracht habe, oder ich parke Willi eine Weile mit seinem Lieblings-Film vor dem Fernseher (aktuell ist es ein Bach-Blaskonzert in irgendeiner Kirche) oder er murmelt mit Oma. Ich sorge auch immer wieder dafür, dass wir ab und zu einen ganzen Tag Zeit zu zweit haben. Das sind dann Olivias Wunschtage – meist gehen wir ins Schwimmbad oder machen Extrembasteln. Und auch mit Willi mache ich immer wieder einmal einen ganzen Tag, an dem nur er im Mittelpunkt stehen darf. Dann gehen wir auf den Bauernhof oder ins Konzert. Gerne hätte ich noch mehr solche wertvolle Zeit für meine Kinder, aber welche berufstätige Mutter wünscht sich das nicht?

Rücksicht nehmen 

Ja, Olivia lernt vielleicht eher als andere Kinder, dass man auch einmal Rücksicht nehmen muss, dass nicht immer alles geht, was man sich wünscht. Aber wenn ich mir einige ihrer Freundinnen so anschaue, die wie große Diven durchs Leben stolzieren und mir durchgängig befehlen, ihnen bei ihren „Kunststücken“ zuzuschauen, dann finde ich es gar nicht so schlecht, dass meine Tochter schon gelernt hat, dass sie nicht allein auf der Welt existiert. Dem einen oder anderen dieser Kinder würde etwas WENIGER Aufmerksamkeit bestimmt ganz guttun!

Freizeitstress-Mütter 

Ich fürchte, ohne Willi im Haus wäre ich eine der Mütter geworden, die ihren Kindern einen riesen Freizeitstress gemacht hätte: mit Cello-Unterricht, Tanzkurs, Töpfern, Turnverein und jedes Wochenende Museum und Kinderkonzert. Nun gibt’s nur Turnen, wo Oma sie hinbringt, der Rest ist Zeit zum Spielen und die leidige Schule. Ob Olivias Schulprobleme und ihr Hardcore-Individualismus durch unsere Situation hier zu Hause verursacht sind? Ich weiß es nicht und ich kann es auch nicht ändern. 

Als ich selbst Kind war, hatte ich eine gute Freundin mit einem autistischen Bruder (also ein richtiger Autist, nicht die aktuelle Modediagnose Asperger). Ich erinnere mich genau an unsere erste Begegnung: Auf dem Campingplatz vor ihrem Wohnwagen waren alle Klappstühle eng hintereinander in einer Reihe aufgestellt. Ein Junge saß laut schreiend auf einem der Stühle. Ich dachte, er sei eingeklemmt. Seine Schwester saß auf dem Klappstuhl hinter ihm und ich rief ihr aufgeregt zu: „Du tust ihm doch weh!“ Sie schaute mich gelassen an und sagte nur: „Nö, der schreit immer so. Hast du Lust zu spielen?“ Wir wurden in diesem Sommer beste Freundinnen. Ihr Bruder war einfach so, wie er war – sehr eigenartig, aber für uns dann normal. Wir spielten immer nur zu zweit, weder mit ihrem behinderten noch mit meinem nicht behinderten Bruder dazu.

„Wertvolle Zeit“ 

Ich erinnere mich gut an ihre Mutter, sie war sehr viel mit dem Bruder beschäftigt. Aber manchmal bastelte sie mit uns zusammen im Wohnwagen. Ich fand sie toll, ja absolut großartig fand ich diese Mutter, die sich so viel Zeit für uns nahm und jede Menge Geduld und tolle Ideen hatte. Ich habe mich von meiner Mutter nie vernachlässigt gefühlt, ich habe aber auch keine einzige Erinnerung daran, jemals so intensiv mit ihr gebastelt zu haben. Heute weiß ich, dass das „wertvolle Zeit“ war, die sich diese Mutter für ihre Tochter genommen hatte. Denn auch sie hatte ganz sicher das schlechte Gewissen und die Angst, ihr nicht behindertes Kind zu vernachlässigen und das große Bedürfnis, manchmal ganz und gar für sie da zu sein. 

Was Olivia wohl einmal selbst über ihre Kindheit sagen wird? Es kann nicht sein, dass sie denkt, ich hätte sie nicht geliebt, unmöglich! Aber sicher wird sie sich auch an die Momente erinnern, in denen ich so erschöpft und gereizt war, dass ich sie ungeduldig behandelte und nicht auf ihre Bedürfnisse einging. Wird sie später auch sagen, ich hätte ihren Bruder mehr geliebt als sie? Einmal habe ich eine Radiosendung über „normale“ Geschwister gehört, die unabhängig voneinander interviewt wurden und alle jeweils von dem anderen vehement behaupteten, er sei das Lieblingskind gewesen. Vielleicht wird sie mir eines Tages den Vorwurf machen, sie hätte immer „funktionieren“ müssen. Und tatsächlich habe ich da hohe Erwartungen an sie, denn meine Dankbarkeit darüber, dass sie „normal“ ist, ist wirklich unendlich groß. 

Abseits vom Klischee

Obwohl ich den Titel „… Und um mich kümmert sich keiner!“ ganz furchtbar fand, fühlte ich mich vor kurzem doch verpflichtet, einmal ein Buch zum „Geschwisterthema“ zu lesen. Und siehe da, der Tenor des Buches war gar nicht das blöde Klischee, dass jedes Geschwister eines behinderten Kindes automatisch vernachlässigt sei. Vielmehr beleuchtete die Autorin Ilse Achilles – selbst Mutter eines behinderten Kindes – die Faktoren, die dazu führen, warum manche Kinder psychisch stark belastet sind und andere als besonders starke Persönlichkeiten aus so einer Konstellation hervorgehen. Nicht die Zeit, die man für das eine oder andere Kind aufbringt, ist ausschlaggebend, sondern die Akzeptanz und die Umgangsweise der Eltern mit der Behinderung spielen die Schlüsselrolle. Aber auch eine gute soziale Einbindung der Familie und der offene Dialog sind wichtige Voraussetzungen für eine gesunde Seele aller Beteiligten. Von Bedeutung ist auch das Zulassen von Wut und Abgrenzung, ein Thema, bei dem ich mich selbst an die Nase fassen musste, denn ich erlaube Olivia nicht gerne, ihren Bruder einmal von Herzen bescheuert zu finden oder gar zurückzuhauen. Aber andere negative Faktoren, dass Olivia sich zum Beispiel um Willi kümmern muss oder ihn mit auf den Spielplatz nehmen soll, das gibt es bei uns auch nicht. Diese Verantwortung könnte sie auch gar nicht tragen.

Mein Star und nicht das arme Opfer

Wir haben eine starke Tochter, sie ist humorvoll und offen, sie kann klar kommunizieren und sich deutlich abgrenzen, sie kann anderen helfen und trotzdem gut für sich sorgen. Ich bin wirklich stolz auf Olivia. Auf meinem Plakat wäre sie auf jeden Fall der Star und nicht das arme Opfer!