Thema der Ausgabe 5-6/2025:

Tabu und Inklusion

Konkrete Irritationen dürfen wir nicht auf die moralische Ebene heben.

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Tabu und Inklusion

Es ist nicht einfach, über Tabus im Inklusionsdiskurs nachzudenken, wenn die Angriffe gegen Inklusion immer unverhohlener werden. Das Recht auf Inklusion entbindet uns nicht von der theoretischen Redlichkeit. Wir dürfen konkrete Erfahrungen nicht auf eine moralische Ebene heben. Dies führt nicht selten dazu, dass Irritationen tabuisiert werden. Gerade was unsere Vorstellungen und Erwartungen strapaziert, sollte uns zu Antworten herausfordern.

Die Autor:inn Evi Agostini, Tina Obermayr und Philipp Seitzer, die auch als Mitherausgeber:innen fungieren, erkunden das Spannungsfeld „Tabu und Inklusion“. Inklusion ist keinesfalls eine eindeutige, widerspruchsfreie Forderung. „Fremdes in Vertrautes zu überführen, bedeutet unter Umständen, dass es um jene Aspekte reduziert wird, die seine befremdende Eigenheit ausmachen.“ Inklusion ist mit verschiedenen kollektiven moralischen Verboten belegt, die sich wie eine „Löschdecke über die soziale Wirklichkeit“ legen können.

Philipp Seitzer diskutiert verschiedene Facetten des Theorie-Praxis-Problems der Inklusion. Es ist nicht nur die Widerspenstigkeit der Praxis gegenüber der Theorie, auch die Theorien selbst sind von tief greifenden Widersprüchen durchzogen. Das Tabu erscheint ihm als das Fremde, das im Nebel der Theoriebildung verschwindet. „Versteht man Inklusionstheorien als Antworten auf Erfahrungen, die auch andere Anknüpfungsmöglichkeiten offenlassen, bleibt die Theorie dazu aufgefordert, sich von dem vielgestaltigen Sinn der Erfahrung immer wieder neu herausfordern zu lassen.“

Das Sprechen über Sexualität und Behinderung enttabuisiert das Thema nicht automatisch. Darauf weist Sarah Karim hin. Es müsse berücksichtigt werden, wer wann und mit wem über Behinderung und Sexualität spricht. „Der Tabubruch bedeutet nicht lediglich, über Behinderung und Sexualität zu sprechen, sondern die von der nicht behinderten Mehrheit (vermeintlich) gelebte ‚Normalsexualität‘ zu hinterfragen und gegebenenfalls abzulehnen.“

Moritz Hess untersucht Filme mit dem Ziel der kritischen Betrachtung möglicher Tabus. In den Fokus rückt das eigene Erleben beim Schauen des Films. Es geht um das Verstehen der Reaktionen, die der Film auslöst. Der schulpolitische Druck und die eigenen moralischen Ansprüche, Inklusion umzusetzen, führen bei vielen Lehrkräften zu einer Konfrontation mit bisher tabuisierten Gefühlen. „Erst die Auseinandersetzung mit bedrohlichen Gefühlen sowie die Akzeptanz von Grenzen ermöglicht ein Sich-Öffnen für die Herausforderungen im Kontext der Inklusion.“ Deshalb müssten Zweifel am Inklusionsideal und Kritik an Versuchen seiner Realisierung zugelassen werden – in Schulen ebenso wie in Lehrveranstaltungen.

Yvonne Wechuli liefert eine kulturwissenschaftliche Betrachtung, wie nicht behinderte Menschen emotional auf Behinderung reagieren. Vieles, was auf eine soziale Verursachung von Behinderung hinweist, wird tabuisiert. Wechuli verwendet dafür den aus den postkolonialen Studien entlehnten Begriff „Entinnerung“. „Grausamer Optimismus“ verstricke behinderte Menschen selbst in eine Individualisierung von Verantwortung für ihre benachteiligte sozioökonomische Lage.

So schön klingenden Verheißungen wie Selbstbestimmung, Bildung und Chancengerechtigkeit geht Ursula Stinkes auf den Grund. Nach Stinkes sind wir ständig mit einem Entzug konfrontiert: „Das Fremde, das Unbewusste, das Anonyme maskieren sich etwa in Biografien, denen wir nur spurenhaft beikommen können.“ Die Frage der Chancengerechtigkeit durch Bildung lasse sich in drei „Dimensionen der Verantwortung“ charakterisieren: „die Dimension der politischen Verantwortung (Gerechtigkeit), der ontologischen Verantwortung (Anerkennung) und der ethischen Verantwortung (singulare Verantwortung).“

Ohne die Verletzung der bis dahin „natürlichen Ordnung“ sowie die Konfrontation mit Tabus wären die Erfolge der emanzipatorischen Behindertenarbeit nicht denkbar gewesen, meint Udo Sierck. Er war mittendrin und weiß: „Tabubruch war ohne persönliches Risiko nicht zu haben. Es galt, sich nicht einschüchtern zu lassen.“ Gerade jetzt, wo die Wortführer der Intoleranz wieder Oberwasser bekommen, sei es wichtig, in der Öffentlichkeit widerspenstig präsent zu bleiben und jene nicht zu vergessen, die das nicht können.

Philippe Narval wird in seiner neuen Kolumne aufmerksam beobachten, wie es mit der Inklusion in Österreich bestellt ist. Trotz der UN-Behindertenrechtskonvention weht der Wind derzeit wieder stark in Richtung Sonderschulen. Dem stehen zahlreiche Beispiele gelungener Inklusion gegenüber, die zeigen, dass sich dieser Rückschritt aufhalten lässt.

Konkrete Irritationen dürfen wir nicht auf die moralische Ebene heben.

 

Inhalt:

Artikel
Im Hotel der Anderen
Ein System, das Superkräfte abverlangt
Willi - Problem im Stadtbild?
Tabubruch und Regelverstoß - Schritte zur Emanzipation
Die geteilte Tür - Das Symbolische des scheinbar Selbstverständlichen
Momente, die in Erinnerung bleiben
Tabu und Inklusion: Erkundung eines Spannungs- und Forschungsfeldes
Inklusion als Theorie-Praxis-Problem
Let's talk about sex?!
"Worüber man nicht spricht": Zum fehlenden Raum für das (Chronisch-) Schmerzende
Tabus in Film und Schule
Verpflichtende Nichtbehinderung, grausamer Optimismus und Schuldabwehr
Selbstbestimmung, Bildung und Chancengerechtigkeit - Gräten, die im Hals stecken bleiben
Camillas sebstbestimmtes Leben in Norwegen
Rollstuhltennis-Premiere bei der Erste Bank Open
Gemeinsam hoch hinaus: 65 Jahre LebensGroß
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"Das Mögliche im Unmöglichen suchen"
Expedition KI
Gemeinsam lernen, gemeinsam wachsen
Ein ganz normaler Job
Plattform "bidok" vor dem Aus
Trauer, Freude und Gänsehaut
Der Klassendieb
Neuer Schwerpunkt beim Verein "Die Wortfinder"
Resonanz statt Resilienz
Drollige Schauobjekte
Haare, Schuhe, Hände
Liebe, Mut und laute Stimmen
"Inklusion gehört gelebt" Wanted: Superassistenz Teil 2
Bücher