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Foto: Birte Müller
aus Heft 6/2015 – Essay
Birte Müller

Mein Sohn Willi besucht eine ganz exklusive Waldorf-Förderschule

Als ich im Jahr 2007 mein erstes Kind bekam, war ich mir nicht bewusst gewesen darüber, dass ich an dieses Kind Erwartungen hatte. Erst als wir erfuhren, dass unser Sohn das Down-Syndrom hatte, platzte der mir nicht bewusste Traum vom ganz normalen Leben mit einem ganz normalen Kind. Der Schmerz über diesen Verlust war groß und nur mein kleines Baby mit seinen weichen Wangen konnte mich trösten. Wir gaben ihm den Namen Willi und wir wollten ihn so nehmen, wie er war.

Doch wieder wuchs in mir eine vermessene Vorstellung von unserer Zukunft heran: Ich nahm mir vor, mein Kind bestmöglich zu fördern und der Welt zu zeigen, wie viel ein Mensch mit Down-Syndrom heute erreichen kann! Ich sah ihn vor mir, in eine normale Schulklasse integriert, selbstverständlich mit behinderten und nicht behinderten Freunden an seiner Seite. 

Und wieder kam alles ganz anders: Unser Willi wurde krank, sehr schwer krank und ich hatte das Gefühl, als würde das Schicksal einen riesenhaften Gong läuten, um mir zu sagen: Hör endlich auf, von deinem Kind etwas zu erwarten! 

Drei Jahre später waren wir einmal durch die Hölle und zurück gegangen. Hinter uns lag eine Zeit mit Zwangsernährung, einem festen Luftröhrenschnitt und unendlich vielen epileptischen Anfällen. Vor uns hatten wir nun endlich ein (verhältnismäßig) gesundes Kind – atmend, laufend, essend, lebend! Aber meine Kräfte waren am Ende. Dementsprechend hatte ich auch keine Ressourcen zum Kämpfen, als man meinem Kind den Eintritt in eine Krippe verweigerte und als später auch kein Integrativer Kindergarten unseren Willi habe wollte. Es war ihnen einfach zu anstrengend, diesen nicht sprechenden, hyperaktiven Jungen aufzunehmen, dessen Hauptbeschäftigung zu der Zeit das Weglaufen und Sachen-Vom-Tisch-Ziehen war. Ich erkannte, dass ein bloßes Recht auf Inklusion rein gar nichts wert ist, wenn man es erst erstreiten muss.

Und so kam Willi in eine heilpädagogische Sondergruppe – der einzige Ort, an dem für ihn ein Platz war. Ich erinnere mich gut an mein erstes Gespräch dort im Kindergarten: Ich war gerade dabei, mich umfangreich für mein Kind zu rechtfertigen, als mich die Kindergartenleitung unterbrach, um mir zu sagen, dass sie JEDES Kind nehmen würden, egal wie behindert! Ich weiß noch, wie unendlich gut mir das tat, einen Ort gefunden zu haben, an dem mein Sohn ohne Kompromisse willkommen war!

Wir bereuten unsere Zwangswahl keinen Tag. Willi war in seinem Kindergarten mit neun Kindern und vier Betreuern sehr gut aufgehoben und gefördert. Auf dem Spielplatz und im wöchentlichen Morgenkreis begegneten sich ganz selbstverständlich die behinderten und die „normalen“ Kinder aus den anderen Gruppen. Willi und seine Kollegen bekamen, was sie brauchten: weniger ablenkende Reize und eine engmaschige Betreuung, sodass auch die sehr schwer behinderten Kinder zum Beispiel etwas basteln konnten, einfach indem ihre Hände geführt wurden. Sie machten Toilettentraining, übten die Ärmel hoch zu schieben und Hände waschen. Logo- und Ergotherapie kamen in die Kita und zusätzlich gingen die Betreuer mit den Kindern zum therapeutischen Reiten und Schwimmen. Für Willi war das toll und auch von meinen Schultern war eine enorme Last genommen– endlich war ich den Therapiedruck los: Alles fand im Kindergarten statt!

Kurz vor Beginn von Willis letztem Kindergartenjahr wurde uns Eltern verkündet, dass wir dankbar sein dürften, denn nun würden die behinderten Kinder nicht mehr ausgegrenzt. Die Gruppe würde „inklusiv“ werden. Zu den verbliebenen sechs behinderten Kindern sollten noch 15 „nicht behinderte“ Kinder aufgenommen werden. Die Zahl der Betreuer änderte sich nicht. Wir Eltern waren empört. Niemand hatte uns gefragt, ob wir das eigentlich wollten und mir fiel plötzlich auf, dass ich das gar nicht mehr unbedingt wollte: Willi ist ein Kind, das nicht wie die meisten anderen ist und deswegen braucht er (leider) auch eine Betreuung, die nicht wie die der meisten anderen Kinder ist. Mir wurde vorgeworfen, ich wolle nur eine Extra-Wurst für mein Kind. Der Grund für die plötzliche Inklusionsbestrebung war übrigens nicht gutmenschlich, sondern es war eine rein wirtschaftliche Entscheidung– dem Kindergarten fehlte Geld.

Das Ganze sah dann in der Praxis so aus: Zum Schwimmen konnten sie aufgrund von Personalmangel nicht mehr gehen. Die Eltern der nicht behinderten Kinder wünschten Gleichberechtigung in Sachen Reiten: Sie fühlten sich dadurch diskriminiert, dass nur die „Behinderten“ reiten durften und so wurde das Reiten ganz abgeschafft. Die normalen Kinder saßen an süßen, kleinen Kindertischchen, während die behinderten Kinder in ihren Spezialstühlen separat an einem anderen Tisch sitzen mussten. Viele von ihnen zogen sich stark zurück, da die Unruhe sie überforderte. Die Betreuer waren ständig krank (wahrscheinlich auch überfordert) und die 1:1 betreuten Aktivitäten mussten natürlich weg fallen: Wer nicht selbst basteln konnte, konnte gar nicht mitmachen. Zu keinem anderen Kind wurde Willi jemals zum Spielen oder zum Geburtstag eingeladen und die Elternabende mied ich bald, denn ich mochte mich und mein Kind nicht ständig rechtfertigen und erklären.

Leider werden solche Modelle vielerorts als Inklusion bezeichnet. Natürlich ist das keine Inklusion – es ist nur der Versuch Geld zu sparen. Ich will keine Extrawurst für meinen Sohn. Willi selbst ist nun mal so eine Art Extrawurst und er braucht, gerade um an der Gesellschaft teilzuhaben, eben oft eine Sonderbehandlung. Und so zögerten wir nicht bei der Wahl einer Schulart. Eine Regelschule kam für uns nicht in Frage. Mit der Entscheidung, Willi auf eine anthroposophische Förderschule zu geben, zögerten wir allerdings schon. 

Ich bin kein großer Kenner der Waldorfpädagogik. Aber von allem, was ich wusste, erschien mir eine Waldorfschule am ehesten geeignet, meinen Sohn so als Menschen anzunehmen, wie er ist. Auch der Fokus aufs Musische und Bildende kommt Kindern wie Willi entgegen, genau wie das stark Rhythmisierte, die festen Abläufe und die Wiederholungen sowie das Lernen in Epochen. Auch der Ansatz des Ausdrucks über Gebärden findet sich durch die Eurythmie in den Lehrplänen aller Waldorfschüler wieder. Ich hatte mich immer etwas lustig gemacht über die Familien, die selbst nie etwas mit Anthroposophie zu tun hatten, aber seit der Geburt ihrer Kinder nur noch Bio kauften und sie auf die Waldorfschule schickten, weil sie das für ihre Kinder für das Beste hielten. Nun bin ich eine von Ihnen:

Unser Sohn Willi besucht seit zwei Jahren eine Waldorfschule für „seelenpflegebedürftige“ Kinder. Man muss Rudolf Steiner zugute halten, dass er schon 100 Jahre, bevor es in Mode kam, sich ständig neue Worte für „Behinderung“ auszudenken, diesen Begriff prägte – zu einer Zeit, zu der allgemein noch von Schwachsinnigkeit, Idiotie oder Geisteskrankheit gesprochen wurde. 

Willi ist sehr gut aufgehoben dort in seiner Klasse mit sieben Kindern und zwei Lehrern und jeweils einem Jahrespraktikanten. In Willis Klasse liegt er von der Schwere seiner Behinderung etwa im Mittelfeld, was ich sehr angenehm finde. Ich denke, dass es für ihn wichtig ist, erleben zu können, dass auch er anderen helfen kann. Es ist auch eine große Erleichterung, dass Willi keinen Schulbegleiter braucht, von dem wir abhängig sind. Irgendwie kommt mir das System der Einzelintegration an den Regelschulen mit ständig wechselnder Schulbegleitung nicht besonders sinnvoll vor. Ich sehe häufig, dass die Lehrer die Verantwortung (auch die pädagogische) an die Schulbegleiter abgeben, die häufig lieber draußen Fußball spielen als Buchstaben zu üben und oft jegliche Selbstständigkeit der Kinder verhindern. 

Vor allem aber genieße ich es, dass Willi nicht immer der Einzige ist, der „anders“ ist – denn so viel man auch im Zuge der Inklusion um das Wort „behindert“ herumreden will und so tut, als seien alle Kinder doch unterschiedlich, so klar ist mir, dass man meinem Sohn damit gar nicht gerecht wird. Unter allen normal unterschiedlichen ist er doch immer absolut am „andersten“. Ich empfinde es als sehr angenehm, dass die Lehrer an Willis Schule die Andersartigkeit ihrer Schüler nicht wegzureden versuchen, sondern sie vielmehr darin vollkommen annehmen und akzeptieren. Das bietet mir als Mutter einen Schutzraum, in dem zum Beispiel die Leistung der Alltagsbewältigung mit einem behinderten Kind voll anerkannt wird. Das ist etwas, was ich unbedingt von jeder Schule erwarte: dass die Behinderung und auch die Probleme meines Kindes (und letztlich auch die der ganzen Familie) nicht klein geredet werden, sondern in ihrer ganzen Tragweite selbstverständlich wahrgenommen werden. Der tausendfach gehörte und wohl gut gemeinte Satz: „Das hast du aber mit einem normalen Kind auch“, macht mich mittlerweile sehr traurig, denn es zeigt mir, dass man mir entweder nicht glauben will oder kann, was ich von unserem Alltag erzähle.

Ein weiterer Schutzraum, den ich sehr genieße ist, dass ich mich vor den Lehrern und anderen Eltern nicht rechtfertigen muss. Ich habe keine Energie übrig, um in der Schule für die Rechte meines Kindes zu kämpfen und es ständig zu erklären. Natürlich wäre es gesamtgesellschaftlich wichtig, dass alle Familien zum Thema Behinderung aufgeklärt werden, aber mich persönlich überfordert diese Aufgabe. 

Ich freue mich, dass mein Kind von der Waldorfpädagogik viel profitiert, selbst wenn ich persönlich mit Esoterik oder den pseudowissenschaftlichen Hintergründen wenig anfangen kann und auch nicht nach anthroposophischen Grundsätzen lebe. 

Was mich an Willis Schule komplett überzeugt, ist tatsächlich das, „wie“ etwas gemacht wird und nicht das, „warum“ es so gemacht wird. Willi gibt die Praxis der Waldorf-Heilpädagogik eine Struktur. Dass jeder Wochentag eine Farbe hat und immer am selben Tag in der Woche die selben Dinge gegessen werden (die am besten auch noch die Farbe des jeweiligen Wochentages haben), hilft Willi, sich im Leben zu orientieren. Aber welche Philosophie genau dahinter steckt, interessiert mich nicht besonders. Ich hoffe sehr, dass es moralisch gesehen trotzdem vertretbar ist, mein Kind unter diesen Bedingungen auf eine Waldorfschule gehen zu lassen, denn ich würde sie nicht mehr missen wollen!

Wenn mich jemand fragt, wie Inklusion funktionieren kann, kann ich skurrilerweise immer nur auf den Unterricht in Willis Sonderschulklasse verweisen: Dort wird wahrhaft „zieldifferent“ gelernt. Jedes Kind wird nach seinen eigenen Möglichkeiten individuell gefördert und das Gelernte wird immer wieder auch praktisch wiederholt und vertieft. (Und übrigens wird auch das Lesen und Schreiben geübt, mit allen Kindern!). Aber man muss auf den Personalschlüssel verweisen, der das alles möglich macht! 

Ein Problem, das die Waldorfschule aus meiner Sicht mit sich bringt, ist manchmal eine gewisse „Versteinerung“, das Hängen am „Alten“, wie zum Beispiel eine oft technikfeindliche Einstellung. Das macht den Umgang mit Sprachcomputer und anderen Hilfsmitteln unnötig schwierig. In Willis Klasse gibt es solche Berührungsängste zum Glück wenig. Es ist am Ende eben immer der individuelle Lehrer und nicht die Schulform, die bewirkt, ob Kinder gut aufgehoben sind oder nicht. 

Doch insgesamt wünschte ich schon, dass die Waldorf-Strukturen weniger starr wären. Ich kann es nicht gut ertragen, wenn Rudolf Steiner wie das Alte Testament zitiert wird. Vor allem weil Steiner, nach allem, was ich von ihm gelesen habe, ein Mensch gewesen ist, der neuen Ideen gegenüber sehr offen war und sich gewünscht hätte, dass seine Worte immer neu interpretiert werden.

Es hat mich bestürzt, dass an Willis Schule ein Christgeburtspiel (Krippenspiel) aufgeführt wurde, dessen Reime als Steiner-Originaltext in einem donauschwäbischen Dialekt vorgetragen wurden, den beim besten Willen KEINES der Kinder (und nur die Hälfte der Eltern) verstanden haben dürfte. Besonders wenn man feststellt, dass Rudolf Steiner das Stück durch diese Sprache damals volksnah halten wollte! Eine Übersetzung erscheint mir dringend nötig. Doch in der Schule teilte man meine Kritik nicht und man begegnete mir mit dem Waldorf-Totschlagargument: Es verliert dann seine ursprüngliche Kraft.

Wenn man bedenkt, dass zum Beispiel auch die Eurythmie zu Steiners Zeit als expressionistische Ausdrucksform entstanden ist (und der Expressionismus war doch die größte Revolution der Kunstgeschichte!), dann erscheint es mir eigenartig, dass es nicht möglich ist, diese „ursprüngliche Kraft“, die darin steckt, wieder ganz neu und vor allem zielgerichtet einzusetzen, indem man sie nutzt, um mit EINFACHER Sprache und neuen Bewegungen (vielleicht abgeleitet aus der deutschen Gebärdensprache?) die Kinder zu fördern. Sicher ist es viel verlangt, die heilige Kuh der alten Steiner-Sprüche und Bewegungen zu schlachten, aber ich wünschte, das würde endlich passieren. Denn so erscheint mir Eurythmie oft wie eine alberne Ressourcenverschwendung, die sogar kontraproduktiv sein kann, wenn man das Wort „Haus“ ganz anders tanzt, als man es gebärdet. Und „Einfache Sprache“ muss doch die Minimalvoraussetzung sein, um mit behinderten Menschen zu arbeiten – auch in der Eurythmie. 

Obwohl ich an Willis Schule immer wieder Kritik übe (so wie z. B. an dem Gebärden-System, das sonst meines Wissens nach NIRGENDWO benutzt wird oder das Fehlen einer einheitlichen Symbolsammlung zur Unterstützen Kommunikation), sind wir sehr glücklich damit, dass er auf diese Förderschule geht. Und vor allem ist auch Willi dort seit zwei Jahren glücklich, steigt jeden Morgen gerne in den Bus und kommt fröhlich um 14.30 Uhr zurück! Erst wenn die inklusive Schule mir und meinem Kind dieselben Vorteile bieten kann wie Willis exklusive Förderschule, wäre ich bereit, es einmal zu versuchen.