roth_leseprobe

 

aus Heft 2/2015 – Report
Sandra Roth

„Hei!“ heißt: „Ich will zu meinen Freunden.“

Lotta soll in den Kindergarten gehen? Ben lacht. „Die kann doch gar nicht gehen.“ Lotta ist zwei und so schwer behindert, dass sie sich nicht einmal an der Nase kratzen kann. Ihr Bruder Ben ist fünf und einer der wenigen Menschen, die das Wort behindert so aussprechen wie blond oder kleine Schwester.

Ben sagt: „Lotta kann nicht Fangen spielen, nicht singen, nicht malen. Was macht die da?“ Den anderen zusehen kann sie auch nicht, sie ist schwer sehbehindert. „Lächeln“, sagt er nach kurzem Nachdenken, „das kann sie da. Kindergarten ist lustig.“ „Genau“, sage ich, „und vielleicht geht sie in einen speziellen Kindergarten. Nur für Kinder mit Behinderung.“ „Das ist doof“, sagt Ben, „da darf ich nicht rein.“

Ben und Lotta heißen in Wirklichkeit anders. Sie sollen später selbst entscheiden, wem sie ihre Geschichte erzählen. In dem Buch „Lotta Wundertüte“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, erzähle ich davon, wie Lotta unser Leben auf den Kopf gestellt hat.

Lotta wurde mit einer Gefäßfehlbildung im Kopf geboren, einer sogenannten Vena-Galeni-Malformation. Ein Teil des Bluts in ihrem Kopf nahm schon während der Schwangerschaft eine Abkürzung – am Gehirn vorbei. Heute steht in ihren Arztbriefen „schwer mehrfach“ und „spastische Cere­bralparese“. Sie bekommt Pflegestufe 3 und macht große Fortschritte dabei, ihren Kopf gerade zu halten. Sie lacht, wenn im Radio ihr Lieblingslied läuft. Sie hat blonde Locken, große Augen und Knie, die immer nach innen zeigen. Drei Mal pro Woche geht sie zur Physiotherapeutin, jede zweite Woche zur Sehfrühförderung, bei der sie schon gelernt hat, ihre Augen still zu halten. Sie macht Fortschritte – weil sie gefördert wird. Auch wenn Ben ihn doof findet, rufe ich zuerst im heilpädagogischen Kindergarten, in dem auch Therapeuten die Kinder betreuen. 

Der letzte heilpädagogische ­Kindergarten – geschlossen

 „Ich wollte mal vorbeikommen.“

„Das wäre schön“, kommt es vom anderen Ende. „Aber das geht leider nicht. Wir schließen. Wir sind politisch nicht mehr gewollt.“ Es ist der letzte heilpädagogische Kindergarten in Köln.

2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert – in dem Jahr, in dem Lotta geboren wurde. Inklusion heißt das Stichwort dazu. Sie soll die Parallelgesellschaft aufheben, in der Menschen mit Behinderung meist leben. Den Kindergarten besuchen sie oft noch gemeinsam mit den Nachbarskindern, doch später gehen die meisten behinderten Kinder in Sondereinrichtungen. Morgens werden sie mit dem Bus abgeholt, kaum einer macht einen Abschluss, einzige Perspektive für die meisten: die Behindertenwerkstatt. Gut gefördert, aber unter sich, abgeschottet, weit weg von dem Leben, das Ben führen wird. Will ich das für meine Tochter? 

Einige Schulen haben bereits mit dem sogenannten Gemeinsamen Unterricht begonnen und versuchen, die Inklusion umzusetzen. Doch kann das funktionieren?

„Und der pinkelt Mariella immer in den Ranzen. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.“ Auf einer Party, wir stehen um Steh­tische. Ich, mein Mann Harry und drei Kolleginnen des Gastgebers.

„Der hat das Down-Syndrom“, sagt die Erste. „Aber trotzdem, ich sage dir, der macht das mit Absicht. Mariella will schon nicht mehr in die Schule. Ich habe schon mit dem Lehrer gesprochen, aber da steht man gleich als behindertenfeindlich da. Vielleicht müssen wir wechseln. Gemeinsamer Unterricht – so ein Quatsch.“

„Man tut den Kindern keinen Gefallen damit. Der merkt bestimmt, dass er langsamer ist als die anderen“, sagt die Frau neben ihr. Harry und ich schweigend daneben.

„Der hält die ganze Klasse auf. Wie sollen die in den 100er-Zahlenraum kommen, wenn der die ganze Zeit dazwischenblökt?“

„Vorsicht“, sagt Harry. „Unsere Tochter ist auch behindert.“

Hospiz statt Kindergarten

Wie soll Inklusion funktionieren, wenn sich die einen um den 100er-Zahlenraum sorgen und die anderen um Physiotherapie? Wie muss Inklusion umgesetzt werden, damit sie behinderte und nichtbehinderte Menschen näher zusammenbringt – statt weiter auseinander? Einen Sonderkindergarten gibt es in unserer Stadt nicht mehr, aber viele integrative, mit gemischten Fördergruppen. Ich melde uns bei sieben an.

Im Wartezimmer des Krankenhauses. Neben uns ein Mädchen im Rollstuhl. Nach zwei Minuten Smalltalk sind ihre Mutter und ich beim Kern meines Problems: „Wie hast du das gemacht mit dem Kindergarten?“, frage ich. „Bei uns im Ort gibt es nur einen integrativen Kindergarten, und denen war Mia zu heiß. Die Sonde. Die Anfälle.“ – „Und jetzt?“ – „Mia geht eben nicht in den Kindergarten.“ – „Gar nicht?“ Die Mutter schüttelt den Kopf. „Ich gebe Mia alle paar Wochen im Hospiz ab. Ich erhole mich ein paar Tage, und weiter geht’s.“ – „Im Hospiz?“ – „Das ist nicht so gruselig, wie es klingt“, sagt sie, „das ist eigentlich sehr schön für Mia. Ohne diese Auszeiten könnte ich schon lange nicht mehr.“

Wo wird Mia einmal zur Schule gehen? Andere Mütter erzählen von Kindern, die ins Internat müssen, weil es in der Nähe keine Schule für sie gibt. Ärzte erzählen von Kindern vom Land, die krankgeschrieben werden, weil der Busfahrer kein Kind mit Anfällen mitnehmen will. Andere geben Tipps, wie man sich einklagt: Auch behinderte Kinder haben ein Recht auf Bildung, nur müssen es die Eltern öfter vor Gericht durchsetzen. 

Von den integrativen Kindergärten bekommen wir nur Absagen. „Wir müssen ältere Kinder bevorzugen“, heißt es. Oder: „Es gibt eben nur wenige Plätze.“ Oder: „Wir müssen auf die Zusammensetzung der Gruppe achten. Die Mischung muss stimmen.“ Sie sagen „Mischung“, und es klingt wie „Ihr Fall ist zu schwer“. 

Fast eine Stunde füttern – das geht nur mit Unterstützung

 „Wir sind nicht offiziell integrativ. Aber unsere Arme sind ganz weit offen.“ Zora Müller, Mitte 30, Kapuzenpulli, Chucks, rote Haare. Zora hat Heilpädagogik und Sonderpädagogik studiert und scheint sich zu freuen, dass ich in ihrer gerade eröffneten Kita ein schwerbehindertes Kind anmelden möchte. Sie wäre die Erste. „Ich sehe da gar keinen Diskussionsbedarf“, sagt sie, „bei einem Regenbogen frage ich auch nicht: Muss Gelb unbedingt noch sein? Rot und Blau reichen doch schon! Gelb gehört eben auch dazu.“

Der Kindergarten hat zwei Gruppen mit je 15 Kindern zwischen einem und sechs Jahren – betreut von zwei Erziehern plus Praktikantin. Geht das? Allein Lottas Mittagessen bedeutet 50 Minuten konzentriertes Füttern. „Das funktioniert nur mit zusätzlicher Unterstützung“, sagt Zora. Wir beantragen einen Integrationshelfer, einen Begleiter in den Kindergarten. Behinderte Kinder, die eine Regeleinrichtung besuchen, haben einen Rechtsanspruch darauf, wenn sie die Bedingungen erfüllen.