
Charlie Bottura (li.) präsentiert gemeinsam mit seinem Vater Massimo Bottura (re.) stolz die selbst gemachten Tortellini.
Aus dem Leben von Charlie Bottura
Es gibt Tage mit meinem Sohn Charlie Bottura, die so reibungslos verlaufen, dass ich vergesse, dass er ein seltenes genetisches Syndrom hat. Andere Tage sind von zahlreichen Störungen geprägt, die seine – und meine – Geduld auf die Probe stellen. Unabhängig davon, ob es ein guter oder ein schwieriger Tag ist, ist es bemerkenswert zu sehen, wie Charlie seine Herausforderungen durch selbst auferlegte Strukturen meistert, die ihm ein Leben voller Kreativität und Verbundenheit ermöglichen. „Charlies Routinen sind keine Barrieren – sie sind Anker“, sage ich mir oft. Und von diesen Ankern aus baut er ein Leben voller Fürsorge, Geschick und stiller, aber außergewöhnlicher Veränderungen auf.
Charlies Vater ist der renommierte italienische Koch Massimo Bottura, dessen Restaurant Osteria Francescana zweimal zum besten der Welt gekürt wurde. Von Geburt an war Charlies Leben stark von dieser seltenen genetischen Störung geprägt, die mit einer Entwicklungsverzögerung und einer intellektuellen Beeinträchtigung einhergeht. Diese Realität – obwohl unbestreitbar herausfordernd – hat auch die Weltanschauung unserer Familie geprägt.
Charlies Anwesenheit hat Massimo, mir und seiner Schwester Alexa wichtige Lektionen vermittelt: Geduld, Dankbarkeit für kleine Momente und ein tieferes Verständnis für Menschlichkeit. Unser Zuhause war schon immer ein Ort der Ermutigung und Inklusion, wo Charlies Fähigkeiten gefeiert und nicht seine Grenzen definiert wurden. Alexa war eine seiner leidenschaftlichsten Unterstützerinnen – sie hat ihn auf jedem Schritt seines Weges geführt, beschützt und angefeuert.
Das Morgenritual
Charlies Morgen beginnen früh und verlaufen nach seinen eigenen Vorstellungen. Um 7:30 Uhr, bevor viele Menschen überhaupt aufgewacht sind, hat er bereits geduscht, sein Bett gemacht, den Hund gefüttert, ist mit ihm im sanften Morgenlicht von Modena spazieren gegangen, hat seinen Kaffee gekocht und gefrühstückt. Die Abfolge ist akribisch, jede Handlung ist auf Ordnung und Sorgfalt ausgerichtet. Jede Abweichung – ein falsch platzierter Gegenstand oder die falsche Milchsorte – kann seine Stimmung beeinträchtigen.
Dieser Hund, ein weißer Golden Retriever namens Monk, ist Charlies ganzer Stolz. Monk ist mehr als ein Haustier – er ist Charlies ständiger Begleiter, und Charlie ist sein hingebungsvoller Betreuer. Er geht viermal am Tag mit ihm spazieren, ohne Ausnahme. Ob Regen oder Sonnenschein – Monks Zeitplan ist heilig.
Manchmal stellt seine Hingabe an diese Routine meine Geduld auf die Probe. Stellen Sie sich Folgendes vor: Wir sind spät dran für einen Termin, es regnet in Strömen, und ich jongliere mit Schlüsseln und Regenschirmen, während Charlie ruhig nach Monks Leine greift. „Musst du Monk wirklich jetzt noch rausbringen?“, frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne. „Ja, muss ich“, entgegnet er sachlich.
Es gibt keine Verhandlungen, kein „Vielleicht in zehn Minuten“, keine Anerkennung dafür, dass sich die Welt nicht um Monks Toilettengewohnheiten dreht. Und ganz ehrlich: Manchmal macht mich das ein bisschen verrückt. Aber dann beobachte ich Charlie mit Monk – die sanfte Art, wie er die Leine anpasst, den Stolz in seiner Stimme, wenn er über „seinen“ Hund spricht – und mir wird klar, dass das keine Sturheit ist. Es ist Liebe, die sich durch absolute Zuverlässigkeit ausdrückt.
Für Charlie, der mit Autismus lebt, ist diese Struktur keine Einschränkung, sondern eine Lebensader, die ihm Orientierung in der Welt gibt und den Ton für alles Weitere angibt.
Studium, Arbeit und einfache Freuden unter einen Hut bringen
Charlies Woche ist aufgeteilt in zwei Tage an der Universität Modena und Reggio Emilia (Unimore) und drei Tage bei Tortellante – unserem sozialen Projekt zur Herstellung von Pasta, bei dem junge Menschen mit Autismus von Großmüttern aus Modena lernen, wie man perfekte Tortellini rollt, füllt und faltet.
Sein Verhältnis zur Bildung ist von besonderer Bedeutung. Charlie hat kürzlich sein Studium mit Auszeichnung an der Università 21 abgeschlossen – einem bahnbrechenden Programm, das Studierenden mit Behinderungen den Zugang zu höherer Bildung ermöglicht. In seiner Abschlussarbeit mit dem Titel „Disabilità e Lavoro“ („Behinderung und Arbeit“) untersuchte er Wege zu Beschäftigung und Unabhängigkeit – ein Thema, mit dem er sich täglich auseinandersetzt.
In der Bottega Tortellante verkauft er Tortellini mit echter Herzlichkeit an seine Kund:innen. In der Fertigung arbeitet er Hand in Hand mit seinen Kolleg:innen und trägt dazu bei, die Tradition der hausgemachten Pastaherstellung am Leben zu halten. Es ist ein Ort, an dem Geduld, Wiederholung und Präzision nicht nur geschätzt werden, sondern unverzichtbar sind.
Doch Charlies Leben dreht sich nicht nur um Produktivität. Wie viele junge Menschen verbringt auch er seine Freizeit gerne damit, zu Hause abzuhängen, Filme und Fernsehsendungen zu schauen, Spiele zu spielen oder durch soziale Medien zu scrollen. Diese alltäglichen Ablenkungen geben seinem Tagesablauf Struktur und verbinden ihn mit der Außenwelt und seiner Familie. Wenn er seine Lieblingsfilme anschaut, liegt er oft zusammengerollt neben Monk und lacht mit Alexa und mir.
Herausforderungen auf dem Weg
Selbst der am besten geplante Tag kann Hindernisse mit sich bringen. Neulich beispielsweise begrüßte ihn ein Professor mit einem lässigen „Ciao“ anstelle seines bevorzugten „Guten Morgen“. Es schien eine Kleinigkeit zu sein, aber für Charlie, dessen Wohlbefinden von präzisen, vorhersehbaren sozialen Signalen abhängt, löste dieser Moment einen Anflug von Irritation aus. Er antwortete mit „Guten Morgen“ und wiederholte dies so lange, bis der Professor es verstand und ebenfalls „Guten Morgen“ sagte. Dann hatte der Zug nach Reggio Emilia Verspätung. Für viele ist eine Zugverspätung eine kleine Unannehmlichkeit, für Charlie ist es ein Riss in der Architektur seines Tagesablaufs. Er reagierte darauf, indem er sich nach innen kehrte, die Schultern anspannte und darauf wartete, dass wieder Normalität einkehrte. Diese Momente erinnern mich daran, dass Flexibilität – etwas, das die meisten von uns für selbstverständlich halten – für ihn eine enorme Anstrengung bedeutet.
Nachmittage der Entspannung (und des Wachstums)
Charlie kehrt um 14 Uhr zum Mittagessen nach Hause zurück und geht dann wieder mit Monk spazieren – ein weiterer unverzichtbarer Termin in seinem Tagesablauf. Die Nachmittage bringen verschiedene Aktivitäten mit sich: Schwimmunterricht, Musikstunden, soziale Aktivitäten und einfache Entspannung.
Zweimal pro Woche schwimmt er mit dem Bruno-Loschi-Pinne-Team – einer Gruppe für Erwachsene mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Dank der Flossen findet er Geschwindigkeit und Rhythmus im Schwimmbecken. Er grinst, wenn er sagt: „Ich tauche meinen Kopf immer noch nicht unter Wasser, hahaha – aber ich bin nicht der langsamste Schwimmer im Becken.“ Teil dieses Teams zu sein gibt ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit sowie die Möglichkeit, Teamkolleg:innen zu unterstützen, die vor größeren Herausforderungen stehen als er selbst.
Nicht jeder Moment des Tages ist mit geplanten Aktivitäten gefüllt. Wie jeder andere junge Mensch liebt Charlie es, sich bei seinen Lieblingscomedyserien, japanischen Zeichentrickfilmen und Sitcoms aus den 90er-Jahren zu entspannen. Wenn ich ihn beim Anschauen einer Folge von Friends lachen höre, muss ich auch lachen.
Seine Stimme durch Musik finden
In den letzten Jahren hat Charlie Musik nach der Nordoff-Robbins-Methode gelernt. Das Songwriting ist für ihn eine transformative Möglichkeit, seine innere Welt auszudrücken – insbesondere Gefühle, die sich nicht so leicht in Gesprächen vermitteln lassen. Durch die Musik hat er eine Sprache für Emotionen gefunden – und auch für freudige Momente, Reflexion und Spaß. Sein erstes Lied handelte von Wut, das zweite von Einsamkeit und das jüngste davon, einen Seelenverwandten zu finden. Durch die Musik fühlt er sich sicher genug, um die großen Fragen zu erforschen.
Dienst und Verbundenheit
Zwei Abende pro Woche arbeitet Charlie ehrenamtlich im Refettorio Modena, das Teil von Food for Soul ist, einer gemeinnützigen Organisation, die Massimo und ich 2016 gegründet haben. Für Charlie bedeutet ehrenamtliche Arbeit, Tische perfekt zu decken, Gäste aufmerksam zu bedienen und Gespräche zu führen, die soziale Barrieren auflösen sollen. Er hat andere Refettorios besucht und mag es, mit einer globalen Gemeinschaft in Kontakt zu treten. Zuletzt war er im Refettorio Paris, wo er Tortellini für die Gäste zubereitet hat.
Aber nicht jeden Abend verbringt er im Service. Die meisten Abende verbringt er zu Hause. Charlie liebt es zu essen, und das Abendessen ist für ihn die wichtigste Mahlzeit. Nach dem Mittagessen fragt er mich oft: „Mama, was gibt es zum Abendessen?“ Er geht gerne chinesisch essen, bestellt Sushi oder bereitet das Abendessen für die Familie zu. Seine Spezialität sind Orecchiette mit Pesto und gehackten Kirschtomaten. Wenn er dieses Gericht zubereitet, ruft er alle Familienmitglieder an und fragt, ob sie zum Abendessen nach Hause kommen möchten. Und natürlich geben wir alle unser Bestes, um dabei zu sein. Wir schätzen diese einfachen Momente sogar mehr als seine Erfolge außerhalb des Hauses. Wir wissen, dass dies wertvolle Lebenskompetenzen sind, die ihm helfen, sich zu erholen und neue Energie zu tanken für alles, was der nächste Tag bringt.
Abendliche Reflexionen
Jeden Abend liest Charlie nach dem Abendessen genau zwanzig Minuten lang, genau wie nach dem Mittagessen – ein Ritual, das ihn beruhigt. Monk ist immer in seiner Nähe, liegt zu seinen Füßen oder wartet auf einen kleinen Snack vor dem Schlafengehen. Charlie beendet den Tag, indem er Tagebuch schreibt. Seine Einträge sind weder lang noch poetisch. Meistens dokumentiert er die Ereignisse des Tages auf methodische Weise. Ich frage ihn oft: „Warum schreibst du nicht über etwas Aufregenderes als den Spaziergang mit dem Hund?“ Er rollt mit den Augen, lacht leise und schreibt weiter, ohne mich zu beachten. Und ich erinnere mich daran, dass das Schreiben für Charlie eine Möglichkeit ist, die Momente des Tages noch einmal zu erleben, die für ihn bedeutungsvoll waren – nicht für mich. Ich bewundere seine unerschütterliche Disziplin.
Perspektive
Wenn ich Charlies Leben betrachte, sehe ich, wie seine strukturierte Art – die oft fälschlicherweise nur als Starrheit angesehen wird – tatsächlich eine Quelle der Stärke ist. Die Routine gibt Charlie die Sicherheit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Unterstützung, Kreativität und Teamarbeit wichtig sind, und schafft gleichzeitig die Grundlage, sein Leben zu genießen. Seine Liebe zum Detail sorgt dafür, dass nichts übersehen wird – weder die Faltung der Tortellini noch die Platzierung einer Gabel noch ein Wort der Ermutigung an Teamkolleg:innen noch das gemeinsame Kichern während eines Filmabends.
Charlies Geschichte erinnert uns daran, dass der Weg zu einem sinnvollen Leben für jeden Menschen anders aussieht – und genau so sollte es auch sein. Sein Leben ist geprägt von Routine und Herz, von Disziplin und Fürsorge, von Arbeit und Spiel – und von der einfachen Freude am Alltag.
Autorin:
Lara Gilmore ist die Mutter von Charlie und Alexa, Ehefrau von Massimo Bottura und Mitbegründerin von Food for Soul: „Alles, was ich geschrieben habe, entspringt meiner Begleitung Charlies durch seine Herausforderungen und Erfolge – und meiner tiefen Dankbarkeit dafür, wie er unsere Familie, unsere Arbeit und unsere Sicht auf die Welt geprägt hat.“
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Mazegger