
Im „Camp Jened“ trafen sich behinderte Jugendliche in einer Ferienfreizeit, dem „Crip Camp“ – „Krüppel Camp“, wie sie es selbst nannten. Doch es ging nicht nur um Spaß, sondern auch um Emanzipation.
Emanzipation und Dankbarkeit
In den Schweizer Bergen – dort, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist – spielt die auch heute noch beliebte Kindergeschichte „Heidi“ als Buch und Zeichentrickserie. Ihre Freundin, die im Rollstuhl sitzende Klara, entspricht dem Idealbild des sogenannten „Musterkrüppels“ wie eh und je: Sie ist dankbar, sanftmütig, beklagt sich nie und stellt keine Forderungen an ihre Mitmenschen.
Die Serie, die auf den Büchern der Autorin Johanna Spyri (1827–1901) beruht, wurde ab Ostern 2015 technisch überarbeitet und erneut mit 39 Folgen im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Dennoch, die Zeiten haben sich verändert.
Der für einen Oscar nominierte Dokumentarfilm „Crip camp – Sommer der Krüppelbewegung“ erinnert mit Interviews und Original-Filmmaterial eindrucksvoll an die Kämpfe der US-amerikanischen Behindertenszene für ein Antidiskriminierungsgesetz. Ein Höhepunkt dieser neuen Bürgerrechtsbewegung war sicher die wochenlange Besetzung eines Regierungsgebäudes 1977 in San Francisco, um die Unterzeichnung des schon beschlossenen Gesetzes zu erreichen. Zum Erfolg des Protestes trug die Unterstützung durch die Black Panther, Frauengruppen und andere Initiativen vor Ort bei. Doch ein Einlenken der damaligen Präsidenten Richard Nixon und dann Jimmy Carter wäre undenkbar gewesen ohne die Entschlossenheit und die Tatkraft der als behindert geltenden Frauen und Männer. Nach dem Erfolg wurde Judy Heuman, eine treibende Kraft der Bewegung, von Presseleuten gefragt, ob sie nun dankbar sei. Heuman schaute verständnislos und entgegnete: „Wofür soll ich dankbar sein? Es ist unser Recht.“
Kritik den Helfenden
Die bundesdeutsche Behindertenbewegung setzte sich von Beginn an mit dem Selbstverständnis der helfenden Berufe auseinander. Horst Frehe, in den 1980er-Jahren in der Krüppelgruppe aktiv und später Staatsrat in Bremen, resümierte: Die „christlich-karitative Einstellung erwartet von uns Dankbarkeit, Duldsamkeit und Gefügigkeit für alle an uns vollzogenen Akte christlicher Nächstenliebe. Unser Existenzsinn besteht darin, den intakten nichtbehinderten Helfern durch ihre Arbeit an uns die Möglichkeit zu geben, sich ihr Seelenheil zu verdienen. Besonders nützlich sind wir denjenigen Christen, die als Nonnen oder Mönche sich an uns für ihre frustrierenden und enthaltsamen Lebensweisen rächen können.“ Und für die „sozial engagierten Helfer stellen wir einen Ausweg aus der politischen Ausweglosigkeit dar. Wenn die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen nicht gelingt, so kann wenigstens dem Einzelnen geholfen werden, so dass die Tätigkeit des sozial engagierten Helfers die Mitwirkung an der politischen Veränderung ersetzt. Er redet nicht nur, sondern er handelt. Dass dieses Handeln auch wiederum Aussonderung bedeutet, verschwindet hinter seinem guten Willen.“ (Frehe 1982, 161)
Solche vehemente Kritik an den Dankbarkeitserwartungen der vermeintlich wohltätig Handelnden wurde in der „Krüppelzeitung“ mit einem Gedicht von Erich Kästner unterstrichen, das die Rückseite der Ausgabe 1/1984 zierte:
„Wohltätigkeit
Ihm war so scheußlich mild zumute.
Er konnte sich fast nicht verstehn.
Er war entschlossen, eine gute und
schöne Handlung zu begehn.
Das mochte an den Bäumen liegen
und an dem Schatten, den er warf.
Er hätte mögen Kinder kriegen,
obwohl ein Mann das gar nicht darf.
Der Abend ging der Nacht entgegen,
und aus den Gärten kam es kühl.
Er litt, und wusste nicht weswegen,
an einer Art von Mitgefühl.
Da sah er einen, der am Zaune
versteckt und ohne Mantel stand.
Dem drückte er, in Geberlaune,
zehn Pfennig mitten in die Hand.
Er fühlte sich enorm gehoben,
als er darauf von dannen schritt,
und blickte anspruchsvoll nach oben,
als hoffe er, Gott schreibe mit.
Jedoch der Mann, dem er den Groschen
verehrte, wollte nichts in bar
und hat ihn fürchterlich verdroschen!
Warum? Weil er kein Bettler war.“
(Kästner 1968, 101)
Dieser augenzwinkernde Aufruf zur Undankbarkeit traf die Lebensrealität der meisten behinderten Frauen und Männer – sie waren im Alltag häufig mit ungebetenen Geldgeschenken und entsprechenden Erwartungen konfrontiert. Solche Verhältnisse sind nicht aus der Welt. Die Psychologin Angelika Pichler merkt an, dass viele in der Behindertenarbeit Tätige auf die Frage, weshalb sie diesen Beruf gewählt haben, mit „Man bekommt so viel an Dankbarkeit zurück“ antworten. Warum, wundert sich Pichler, müssten behinderte Menschen dankbar sein, nur weil der notwendige Hilfebedarf abgedeckt wird? Sie fährt fort: „Das Merkmal Behinderung war nicht ausschlaggebend für meinen Lebensweg. Das alles hat mich stark gemacht und hellhörig im Umgang mit Menschen, die mir ‚helfen‘ wollen, nur damit es ihnen selbst besser geht! Und: Ich bin für vieles dankbar, aber nicht dafür, dass Menschen dazu beitragen, dass ich meine Rechte und Pflichten als Teil der Gesellschaft leben kann.“ (Pichler 2020)
Opferfalle
Hilfe und Unterstützung können sich in Diskriminierung wandeln, wenn Fürsorge und Mitleid den „Respekt eines gleichberechtigten Gegenübers verweigert. Mitleid fordert in der Regel vom Behinderten Dankbarkeit und Anpassung an die erwartete Rolle und gibt dabei Nichtbehinderten das Gefühl der Überlegenheit, so dass sie vielfach glauben, sie könnten ihnen ohne weiteres nahetreten, sie betasten, befragen und sie auf vertrauliche Weise ansprechen.“ (Rommelsbacher 1999, 10) Prekär wird es, wenn sich eine behinderte Person mit dieser Rolle des Bedauernswerten arrangiert.
Denn die Reduzierung auf das Tragische nimmt nicht die ganze Person wahr (und die kann als solche nicht agieren). Es gebe Mitleid und Mitleid, schreibt der italienische Autor Daniele Giglioli. Bedeutend sei, „was diese Rahmung den Opfern selbst antut“. Sie stigmatisiert diese und beraubt sie „gänzlich oder zum Teil ihrer Biografie und ihrer kulturellen Bezüge“. In dieser Konstellation würde die Vergangenheit die Zukunft fesseln. Was bleibt, ist das Recht auf Hilfe – wobei auch die den Opferstatus festigen kann. Auf „das heruntergeschrumpft“, haben sie „zwar Tränen“, aber „keine Argumente“. Ihre Stimme dient dazu, sich zu bedauern, und nicht „dazu, sich über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu verständigen“. Ihre „Wahrheit liegt im Blick der Anderen, der Gnädigen, der Mitleidigen“ (Giglioli 2016, 19 f.). Bestehen bleibt eine in Deutschland besonders stark ausgeprägte Überzeugung: Wer nimmt oder bekommt, muss auch geben. Und wenn behinderte Personen nichts geben können, sollen sie wenigstens mit Dankbarkeit aufwarten.
Wege zur Emanzipation
Emanzipation ist nur durch die Auseinandersetzung mit diesen traditionellen Denk- und Verhaltensmustern erreichbar. Um eine selbstbewusste Identität als behinderte Person zu erreichen, bleibt wenig anderes übrig, als sich mit den Erwartungen zu beschäftigen. Die Abkehr vom Ritual der Dankbarkeit erfordert einen ähnlichen Aufwand wie die Aufgabe, die eigene Normalität zu finden, zu akzeptieren und zu verteidigen. Denn das Ritual der Dankbarkeit kann dazu führen, dass jemand seine tatsächlichen Bedürfnisse zurückstellt, um seinem Gönner zu gefallen. Friedrich Nietzsche hat für dieses Verhalten den Satz formuliert, dass manche das Seil der Dankbarkeit so eng um ihren Hals ziehen, bis es sie selbst erdrosselt. Die Erziehung zur Dankbarkeit führt zu einem Verhalten der Loyalität gegenüber der Autorität, das jede Ungerechtigkeit und jeden Übergriff hinnimmt. Im Verhältnis zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen birgt das eine noch immer zu wenig beachtete Brisanz.
Eine anzustrebende Perspektive der „stolzen Dankbarkeit“ ist nur mit Ehrlichkeit zwischen Unterstützten und Unterstützenden möglich. Der behinderten Person muss bewusst sein, dass sie ein Recht auf Unterstützung hat, um nicht in die Demutshaltung zu verfallen – ohne dabei die Unterstützenden als Handlanger zu betrachten oder zu behandeln. Andererseits sollten die Assistierenden keinen „Heiligenschein“ erwarten, sondern ihre Arbeit als wichtige Dienstleistung verstehen. Das bietet die Chance, dass Dankbarkeit kein Machtverhältnis beinhalten muss. In dieser Situation wäre ein „Danke!“ von der Demutsgeste befreit.
In den letzten Jahren häufen sich die Ansagen in Richtung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, es sei an der Zeit, dankbar dafür zu sein, was sich schon in ihrem Sinne verändert habe; die behinderten Menschen sollten nicht zu viel verlangen, immerhin gebe es ja die UN-Behindertenrechtskonvention; nun müsse auch mal Schluss sein mit Forderungen. Dieser Appell kann deshalb verfangen, weil Behinderung und Dankbarkeit noch immer zusammen gedacht und in etlichen Berichten über Inklusionsprojekte auch so formuliert wird.
Positive Veränderungen brauchen offensichtlich Zeit. Im Rückblick auf die letzten vierzig Jahre ist aber festzuhalten, dass ein langsamer Prozess stattfindet, der Menschen mit Behinderung als Gegenüber akzeptiert. Da solche Entwicklungen niemals in einer geraden Linie verlaufen, braucht es behinderte Frauen und Männer, die das Bewusstsein der Bevölkerung weiter bearbeiten – also undankbar für das Erreichte sind.
Literaturhinweise:
Crip Camp – Sommer der Krüppelbewegung (im englischen Original: Crip Camp – A Disability Revolution) (2020): Regie: James LeBrecht, Nicole Newnham. Produktion: Higher Ground Productions u. a.
Frehe, Horst (1982): Die Helferrolle als Herrschaftsinteresse nichtbehinderter Behinderten-(Be)-Arbeiter. In: Udo Sierck/Michael Wunder (Hrsg.): Sie nennen es Fürsorge. Berlin.
Giglioli, Daniele (2016): Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt. Berlin.
Kästner, Erich (1968) Wieso? Warum? Berlin.
Pichler, Angelika (2020): Die Gutmenschen und die anderen! In: www.bizeps.or.at (abgerufen am 11.04.2025).
Rommelspacher, Birgit (1999): Behindernde und Behinderte. In: Birgit Rommelspacher (Hrsg.): Behindertenfeindlichkeit. Ausgrenzungen und Vereinnahmungen. Göttingen.
Autor:
Udo Sierck ist Dozent und Publizist. Er tritt seit Jahrzehnten für Emanzipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen ein. In seinen Büchern und Artikeln, Vorträgen und Seminaren analysiert er das Normalitätsdenken und versucht, die Denkmuster über „die Behinderten“ aus der Welt zu schaffen.
E-Mail: udosierck@web.de