Schwarz-weiße Zeichnung mit abstrakten Formen und Gesichtern, die in pilzähnliche Strukturen übergehen. Im Hintergrund sind geometrische Flächen mit Tropfenmustern zu sehen. Mehrere schräge Linien durchkreuzen das Bild und teilen es in Segmente.

Volker Schönwiese, „Die Narrenkappen im Glas“, Tuschestift, DIN A4, Ende der 1970er-Jahre / Beginn der 1980er-Jahre, s. S. 82

Foto: © Volker Schönwiese
aus Heft 2-3/2025 – Fachthema
Ursula Stinkes

Fremderfahrung und Gefühl in der Betreuung

Dies lässt uns zunächst danach fragen, wie sich Fremderfahrungen und Gefühle zueinander verhalten? Diese Grundfrage beinhaltet viele Themenstränge, die strukturell betrachtet nicht identisch, aber miteinander verflochten sind. Eine Verflechtung ist etwas, das der Philosoph Merleau-Ponty unter Bezug auf Paul Valéry als Chiasma (vgl. MERLEAU-PONTY 1986, 172–203) bezeichnete. „Chiasma“ steht als symbolischer Begriff für Überkreuzung, Verstrickung, Verwobensein oder ein Ineinander von nicht-identischen, verschiedenen (hier: inhaltlichen) Geflechtssträngen, ohne dass sie zusammenfallen, sich decken würden. Die Grundstruktur der Verflechtung (vgl. STINKES 2018; 2021)2 ist auf verschiedenen Ebenen der Erfahrung und des Wissens darstellbar: zwischen Ich und Anderen/m, der Eigen- und Fremdheit usw. Das heißt auch, dass das eine ohne das andere nicht zu verstehen ist. Allerdings taucht bei der Befragung dieser Thematik das Problem auf, dass das Themengeflecht nur um den Preis der Zerstörung entflochten werden kann. Um die Zerstörung des Geflechtes zu vermeiden, werden thematische Risse belassen, wird wieder vor- und zurückgesprungen in der Darstellung und der Argumentation der einzelnen Ebenen und Themengeflechte. Es ist eine Art von mäanderndem Vorgehen, das sich einer systematischen Analyse gegenüber merkwürdig sperrig verhält. Das Unterfangen ist sehr weiträumig, daher sind die einzelnen Themenstränge deutlich skizzenhaft angelegt.3

Der Begriff der Gefühle4 wird im Folgenden auch gleichgesetzt mit dem Begriff des Empfindens und Affiziertwerdens, um auszudrücken, dass mit dem Subjekt etwas geschieht, das woanders beginnt (Waldenfels 2015, 81–85). Es sei jedoch mit Josef Früchtl5 darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, einen Unterschied zwischen Affekt und Gefühl zu machen: „Ein Affekt ist eine nicht-kognitive und evaluative (wertende) Empfindung, während eine Emotion Bedeutung aufweist und daher, eingebettet zudem in eine soziale Lebensform, an Bewusstsein und Sprache geknüpft ist. Ein Affekt wertet ohne Worte, ein Gefühl ohne die passenden Worte; ein Gefühl ist ein verkörperter Gedanke, dem die Worte fehlen.“ (Früchtl 2021, 127)

1. Lesart des Beispiels: Das Pathos der Gefühle

„Schon bevor das Altenheim betreten wird, ist eine Stimme relativ laut hörbar. In der Nähe des verglasten Eingangsbereichs sitzt eine ältere Frau in einem Rollstuhl und ruft, ständig wiederholend, laut die Worte: ‚Allein (Pause) Bitte (Pause). Hilfe (Pause)‘. Die Worte werden mit deutlicher Dehnung, jedoch ohne die Sprachmelodie zu wechseln, eher monoton, moduliert: (a----llein), dann folgt eine Pause und dann das nächste Wort, ebenfalls mit Dehnung (biiiiiiii-tte). Beim Wort ‚Bitte‘ schiebt sie ihren Kopf leicht nach vorne und senkt ihn nach unten. Beim nachfolgenden Wort (‚Hilfe‘) legt sie beide Unterarme auf die Armlehnen des Rollstuhls und umfasst diese mit den Händen. Ihr ganzer Körper scheint in Bewegung: die Arme, das deutliche Ausatmen, den Kopf wechselnd nach unten gesenkt oder nicht. Auch ihre Beine und Füße zeigen kleine Bewegungen. Manchmal schließt sie für einen kurzen Moment ihre Augen. Die Frau nimmt zwischen den Worten Pausen in Anspruch und wiederholt die Worte beständig neu. Die Pflege vor dem Mittagessen ist abgeschlossen. Ein Betreuer im weißen Kittel, mit weißer Hose, weißem T-Shirt und mit Schutzhandschuhen versehen, durchläuft mit schnellen Schritten den Eingangsbereich hin zum Essbereich, der ‚Mensa‘ der Bewohner:innen. In diesem Moment erhöht sich die Lautstärke der Worte ‚Allein. Bitte. Hilfe.‘ deutlich. Als er sich das zweite Mal im Eingangsbereich aufhält, geht er zu der Frau, berührt kurz und staccatoartig ihre linke Schulter und sagt in einer eher bestimmenden Tonlage: ‚Frau B., beruhigen Sie sich mal, das wissen wir doch schon […] gleich gibt es Essen.‘ Aber Frau B. beruhigt sich nicht, sondern erhöht noch beim Wiederholen der Worte ‚Allein. Bitte. Hilfe.‘ die Lautstärke. Der Betreuer sagt – diesmal in der Modulation leiser, den Kopf zur Bewohnerin hin leicht gesenkt: ‚Also ist ja schon gut, wir essen gleich, alles klar […]‘. Frau B. hält inne und fällt nun in ein eher weinerlich wirkendes ‚Allein. Bitte. Hilfe.‘. Ihr Kopf fällt nach vorn, Tränen laufen über das Gesicht, der Körper wirkt wenig angespannt, schlaff. Die Hände umgreifen die Armlehnen nicht mehr, sondern liegen auf ihnen. Der Betreuer sagt, sehr kurz mich anblickend, und dann zu der Frau gewandt: ‚Sie sind verwirrt, darum geht’s ihnen so, nicht wahr, Frau B.?‘. Danach geht er erneut in die Mensa und durchquert nochmals den Eingangsbereich. Allerdings stoppt er kurz und sagt zu mir gewandt: ‚[…] Ihr Mann ist vor einiger Zeit verstorben (Pause) […] ich versteh’ auch nicht, das irritiert [...]‘“ (Szenisches Beispiel Mai 2023, U. St.)

Es lassen sich an diesem szenischen Beispiel einer verschriftlichten und reflektierten Erfahrung über eine konkrete Erfahrung zahlreiche, aber nicht unendliche Lesefoki und Deutungen herausarbeiten. Hier wird eingegrenzt auf die Sozialität, das Pathos der Gefühle sowie auf die Fremderfahrung im Kontext von Gefühlen.

Beginnen wir mit der Annahme, dass Gefühle nicht privat, sondern sozial sind, d. h. eingebettet in unsere Lebensgeschichte, -situationen und -perspektiven (Zur-Welt-sein6) und dass Gefühle einen pathischen Charakter haben.

Im obigen Beispiel nehmen wir eine ältere Frau wahr, die seit kurzer Zeit (vier Wochen) in einem Pflegeheim lebt, da sie sich nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr selber „versorgen könne und schwer dement“ sei (Aussage der Heimleitung und des Betreuers). Vermutlich sind diese Aussagen eine Mischung aus Faktischem und vorwiegend negativen Attribuierungen. Attribuierungen wie „dement, verwirrt, sich nicht versorgen können“ haben Einfluss auf das Verstehen und Anerkennen von Frau B. Aber vermutlich könnte auch eine konkret erfahrene Ohnmacht des Betreuers angesichts der Ursache für den Gefühlsausdruck („Allein. Bitte. Hilfe.“) von Frau B. dazu beitragen, dass seine Antworten die körpersprachlichen Wirkungen der Gefühle von Frau B. abmildern, verdrängen, umdeuten, abwehren. Für diese Lesart könnte die Aussage des Betreuers sprechen: „Also ist ja schon gut, wir essen gleich, alles klar […]“ und „Frau B., beruhigen Sie sich mal, das wissen wir doch schon […] gleich gibt es Essen.“ Aus Sicht von Frau B. könnte der Tod des Ehemannes, das buchstäbliche Hinausgeworfen-Werden aus einer vertrauten Ordnung in ein Außer-Ordentliches (Pflegeheim), das Gefühl des Alleinseins auslösen, für das sie deutliche Worte findet und auch einen körperlichen Ausdruck. Wenn wir mit Früchtl (vgl. 2021, 127) die Aussage übernehmen, dass ein Gefühl etwas ist, für das wir keine passenden Worte finden, dann könnte man das sprachlich ausgedrückte „Allein. Bitte. Hilfe.“, die erzwungene Unterbringung in ein Pflegeheim, den Verlust ihres Ehemannes auch als Ausdruck von Einsamkeit deuten. Wir hätten zu akzeptieren, dass Gefühle ambivalent schillern und sich daher ein (nachträglicher) Sprachausdruck erst bilden muss.

Die Deutungen zu Frau B. und dem Betreuer spielen sich ab zwischen: etwas annehmen und urteilen. Gemeint ist ein Oszillieren zwischen Annahmen und Urteilen: Wir nehmen an (und urteilen ggf.), dass bei Frau B. durch den Tod des Ehemannes und die veränderte Beheimatung ein Gefühl des Alleinseins und ein Bittruf nach Hilfe ausgelöst wird.

Hier kündigt sich schon an, dass das Alleinsein – und damit Gefühle, die sich mit dem Alleinsein einstellen – beinhaltet, dass wir Fragen nach dem Getroffen-Werden von etwas oder jemandem stellen. Bezogen auf das Beispiel: Zunächst wird an den Antworten des Betreuers deutlich, dass er von einer Gerichtetheit der Gefühle ausgeht: „Sie sind verwirrt, darum geht’s Ihnen so, nicht wahr, Frau B.?“ Die Gefühle von Frau B. drücken keinen rein privaten Zustand aus, auch wenn es naheliegt, da es Frau B. selbst ist, die sich allein fühlt, nach Hilfe ruft. Gefühle mögen sich ausdrücken, als wären wir nur bei uns selbst, eine Art von atomaren (monadischen) Sensationen und Affekten und daher irrational. Auf eine gewisse Weise scheinen sie nicht verbunden mit der Welt, denn schließlich bin ich es ja, die Zahnschmerzen hat, ich bin es, die sich alleine fühlt usw.; die/der Andere fühlt dies nicht. Was aus epistemologischer Sicht dabei in Kauf genommen wird, ist, dass Gefühle in ein bloßes Innenleben verbannt werden und damit ihre Weltläufigkeit, ihr Zur-Welt-sein, verlieren. Es ist eine „affektive Weltverarmung“ (Waldenfels 2010, 320), die hier zum Ausdruck kommt. Gefühle sind jedoch keine Wesenseinheiten, keine ontologischen Fakten – sie sind nicht nur gerahmt von kultureller Sozialität, sondern sie realisieren diese in ihrem körpersprachlichen Ausdruck. Sie sind mit Interessen verbunden, werden gesellschaftlich bewertet und auch unterschiedlich erlebt. Beständig drücken sie eine Bezogenheit auf etwas aus, das betroffen macht, das antut. Liebe und Hass, Wut und Lust – wer käme auf die Idee, diese Gefühle ausschließlich dem eigenen Gefühlshaushalt zuzuschreiben? Privatisierte oder individualisierte Gefühle, die nicht mit ihrem Widerfahrnischarakter (pathischer Grundzug der Gefühle), mit einer Ambivalenz, mit der Verflechtung von Eigen- und Fremderfahrung rechnen, beinhalten nichts Drittes, (hier:) Fremdes, d. h., sie beinhalten nichts Soziales, keine Öffentlichkeit als Bezug.7

Welche Gefühle wann und wie, in welchen Kontexten wahrgenommen werden, ob sie ausgedrückt werden oder verdrängt, abgewehrt bleiben, hängt mit den Zeiten, in denen sie einer bestimmten Bewertung unterliegen, mit kulturellen Rahmungen usw. zusammen. Husserl habe Gefühle aus ihrem Gefängnis der Verarmung befreit, formuliert Waldenfels (2010, 321), indem er von einem intentionalen Fühlen sprach: Ich fühle mich zwar allein, aber ich erleide das Alleinfühlen, weil es auf etwas bezogen ist. Grundsätzlich ließe sich sagen, dass Gefühle sich auf etwas beziehen, auf den oder das Andere, auf Ereignisse und spezifische Situationen in der Welt. Gefühle und das Empfinden geben unserem Verhalten, unseren Ausdrucksweisen und unseren Handlungen eine spezifische Färbung, Atmosphäre und Stimmung. Daher sind Gefühle nicht präsozial8. Sie begleiten unser Verhalten, Handeln, unsere Urteile und Bewertungen über andere und anderes wie eine Begleitmusik, die den Ton angibt. Und als soziale Gefühle sind sie weder allein dem Subjekt noch dem Objekt zuzurechnen, weil wir uns eingebettet in einer Welt befinden, die wir gemeinsam teilen, aber die für jeden eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn haben kann. Unter diesen Voraussetzungen akzentuiert eine phänomenologische Sichtweise die Erfahrung des sozialen und vor allem des pathischen Charakters der Gefühle, das Affiziertwerden von etwas als ein Getroffensein. Die Grundstruktur, von der sich alles intentionale und geregelte Verhalten abhebe, bezeichnet Waldenfels als „Pathos oder Af-fektion“ (ebd., 322), als ein An-tun. Der griechische Begriff des Pathos akzentuiere ein Widerfahrnis, das einer Person geschieht, sie betrifft, auf sie einwirkt. Etwas geschieht mir, es betrifft mich. Frau B. wird vom Tod des Ehemannes, vom Eingewiesen-Werden ins Pflegeheim betroffen. Pathos ist eine Grundstruktur der Erfahrung, die einen überkommt (eine Stimmung, eine Befindlichkeit, ein Gefühl) und die nicht unbedingt mit einem Leiden verbunden sein muss. Mir kann auch Liebe widerfahren, Freude, Lust usw. Es drückt einerseits etwas Passives aus, und andererseits kann es auch ein Erleiden, etwas Widriges, ausdrücken, z. B. den Schmerz (vgl. Grüny 2004).

Was gewinnen wir, wenn wir die leiblichen Gefühle als pathische Gefühle verstehen? Gefühle sind nicht nur bloß zu konstatierende Zustände einer einzelnen Person, die sich nur in einem vermeintlich inneren Verließ des Subjekts abspielen, sondern sie haben Sinn und Bedeutung in einer gemeinsam geteilten Welt. Ohne eine solche Akzentuierung wäre unser Eingebettetsein in der Welt, das In-Beziehung-Sein mit Anderem/n, ohne Sinn und Bedeutung. Nur durch unsere Leiblichkeit, unser Fühlen, Sehen, Hören und durch die Bewegung unserer Gefühle9 sind wir in die Welt eingebettet oder in diese versetzt. Dieses Eingebettetsein oder diese Weltzugehörigkeit unserer Existenz (Zur-Welt-sein) aufgrund unserer Leiblichkeit beinhaltet kulturelle Werte, Bedeutungen, Rahmungen, Sinn, soziale Beziehungen, Normen, Werte, kulturelle Verfasstheiten, die beim Affiziertwerden, beim Ausdruck und der Bewertung von Gefühlen eine Rolle spielen. Aber auch bei der Artikulation des Gefühls des Alleinseins spielt die Art und Weise des Ausdrucks eine Rolle.

Nach diesen Ausführungen dürfte deutlich werden, dass aus phänomenologischer Sicht der Ort der Gefühle der Leib ist, verstanden als eine Zwischenleiblichkeit (vgl. Meyer-Drawe 1987). Er ist eingebettet in eine vielfach appellierende und uns Zumutungen aussetzende Welt. Er ist zugleich das, was ich bin, und das, was ich habe. „Leib sein“ und „Körper haben“ sind zwei Seiten unserer Existenz (Plessner), eine Ambiguität, die durch keinen Bezug auf etwas übergeordnetes Ganzes zu befrieden ist. Er ist ein (leibhaftes) Zwischen, ein Sujet-Subjekt (vgl. Meyer-Drawe 2001), das in eine Welt eingebettet ist zwischen Fremderfahrung und Eigenerfahrung, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen sozialen Praktiken, kulturellen Normen, wertbezogenen Rahmungen usw.

Gefühle machen uns betroffen, wie am Beispiel sichtbar wird: Für Frau B. hat die Vergangenheit eine die Gegenwart vereinnahmende Macht, welche ihr eine Kette von Begebenheiten zumutet, die den Charakter einer persönlichen Katastrophe annehmen, bei der unablässig Trümmer auf Trümmer gehäuft werden. Alles, was in ihrem bisherigen Leben daheim mit ihrem Ehemann eine Rolle spielte, war ihr vertraut: Stimmen, Raum, Bewegungen, Menschen, der Umgang mit Dingen usw. All dies hat sich in den Vordergrund gerückt. Sie war eingebettet in eine vertraute Welt. Phänomenologie nutzt dafür den Begriff des „Zur-Welt-seins“ (vgl. Merleau-Ponty 1986, Meyer-Drawe 2018); ein Begriff, der unseren grundlegenden Bezug auf eine gemeinsam geteilte Welt ausdrückt, auch wenn sie für jeden von uns etwas anderes bedeuten kann. Waldenfels spricht daher auch von der „Weltläufigkeit“ (2006a, 1) der Gefühle. Anders formuliert: Gefühle sind affektive Antworten auf Andere und Anderes, bevor wir diese konstruktiv-kognitiv verstehen, weil sie auf etwas antworten, das wir nicht konstituieren, über das wir nicht verfügen. Diese pathische Dimension unserer Existenz vermag die Sicht über ein Subjekt, das wähnt, über alles verfügen zu können, ändern. Statt des Stolzes der Verfügungsmacht durch das „ego cogito“, gilt es, auch mit einem vernehmenden, empfänglichen bzw. pathischen Subjekt zu rechnen.

2. Beteiligung der Fremderfahrung am Gefühl

Was ist der Grund dafür, dass Gefühle auf etwas antworten, über das wir nicht verfügen? Zunächst gilt es, festzuhalten, dass der Ort, an dem wir empfänglich sind, wir etwas vernehmen und sich Gefühle ausdrücken, nicht die Seele, der Geist oder die Dinge sind, sondern unser Leib, der „[…] sich spürt, indem er etwas spürt, und in seiner Weltzugehörigkeit verletzlich ist“ (Waldenfels 2006a, 3). Frau B.s Leib drückt ihre Antwort auf das Widerfahrnis des Alleinseins leiblich aus: das Vor- und Zurücknehmen des Kopfes, das Mit-den-Händen-Umfassen der Rollstuhllehnen, das leichte Zittern der Beine, das Weinen, die Aktivierungen des autonomen Nervensystems als bestimmte Form des Atmens, vielleicht auch eine veränderte Herzfrequenz usw. Ihr Tonfall und der Rhythmus der drei Worte sind hier ebenfalls zu erwähnen. Indem sie die Welt auch über die Antworten des Betreuers und vieles mehr erfährt, erfährt sie sich selbst.10

Das Geflecht der Formen der Fremdheit und Fremderfahrung können wir „unterscheiden“ in eine relative und eine radikale Fremdheit. Relative Fremdheit ist etwas, das einen vorübergehenden Charakter hat, d. h. einen Mangel wie das Nichtverstehen von Verhaltens- und Ausdrucksweisen eines Menschen. Dieser „Mangel“ könnte durch eine Änderung von Bedingungen, durch Verständigung, durch Aneignungs- und Enteignungsprozesse, neutralisiert werden. Dabei wird das Fremde11 dem jeweils Eigenen oder einer Gesamtordnung (etwa Regelungen, Gesetze) untergeordnet. Relative Fremdheit kann daher auch auf eine bestimmte Weise zum „Verschwinden“ gebracht werden: die Fremdsprache, die ich mir zu eigen mache, das fremde Ausdrucksverhalten, das ich verstehen lerne (Kleinbach 1990). Dieses Verschwinden kann sich deutlich artikulieren, so beispielsweise in der Formulierung: „Es ist normal, verschieden zu sein“, weil damit jede Ohnmacht angesichts des (radikal) Anderen eingedämmt wird (vgl. Stinkes 2024). Vielleicht bleiben wir aufmerksam gegenüber der Tatsache, dass dieser Satz etwas empirisch nicht Haltbares ausdrückt: Denn die Normalität, die als Norm daherkommt, wird nicht von allen Menschen als solche wahrgenommen, weder von den Menschen, die in bitteren Armutsverhältnissen leben und in deren Ohren dieser Satz zuweilen zynisch klingen mag, noch von Menschen, die für Differenzsensibilität wenig bis gar nichts übrig haben und empfinden.12 Im letzteren Fall haben wir es häufig mit Affekten zu tun, die nicht-kognitiv sind und bewerten (vgl. Früchtl 2021). Sie sind einer nüchternen und reflexiven Urteilskraft gegenüber immun.13

Edmund Husserl beantwortete die Frage nach der Fremderfahrung als einer Form der „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (Husserl 1950, 144, zit. nach Waldenfels 1989, 41). Ein paradoxer Ausdruck, der auf den ersten Blick irritieren könnte. Gemeint ist, dass mir etwas zugänglich ist (die/der Andere), ohne dass es erfassbar oder erreichbar wäre. Und dass dies die Art und Weise ist, wie wir uns und den anderen erfahren. Genau an diesem Punkt spielt die radikale Fremdheit14 eine Rolle: Sie ist eine Fremdheit, die an die Wurzeln unserer Existenz rührt (vgl. Waldenfels 2006b). Sie hat keinen vorübergehenden Charakter, d. h., sie kann nicht durch Änderungen von Bedingungen, durch Aneignungsprozesse, durch Zuschreibung von Sinn und Bedeutung etc. neutralisiert werden. Wird das Fremde auf das zu Erkennende, zu Beschreibende, zu Verstehende reduziert, so wird ihm jede Eigengeltung als Fremdes abgesprochen. (Radikal) Fremdes kann es nur geben, wenn es sich in der Erfahrung gerade durch seine Fremdheit auszeichnet. Daher „unterscheiden“ sich relative und radikale Fremdheit nicht nur graduell, obzwar sie miteinander chiasmatisch verbunden bzw. verflochten sind: Für die radikale Fremdheit sind jedes Zuschreiben von Sinn und das Auffassen von etwas als etwas eine Negierung der radikalen Fremdheit. Es gibt keine Erfahrung von dieser radikalen Fremdheit. Daher ist radikale Fremdheit ein paradoxes Phänomen, das die Grenzen der phänomenologischen Intentionalität notwendigerweise sprengt. Hier können wir auch nicht von einem „Gefühl der Verantwortung“ sprechen. Emmanuel Levinas hat in seinem Werk „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ (Levinas 1992) darauf hingewiesen, dass dem Versuch, den Menschen als Anderen als ein Erkennen und Wissen von ihr/ihm zu begreifen, eine Form der Totalität nahekomme, denn der Mensch als Anderer ist mehr und anderes, als wir von ihm wissen und erkennen könnten (vgl. Schütz 1996; Levinas 1987).

Ein nur sehr unzulänglicher Vergleich verweist auf Sigmund Freud (1982). Er sprach vom Fremden als etwas, das im eigenen Haus beginnt im Sinne einer Geschichte über uns, derer wir niemals habhaft werden, weil wir mit einem Unbewussten zu rechnen hätten. Es könne sich wie etwas Unheimliches, wie ein Schatten, über unsere Möglichkeiten der Deutungen, des Verstehens und Erkennens legen. „Wie alles Vergessene ist das Fremde etwas, das da ist, indem es sich entzieht – unserem Zugriff und unseren herkömmlichen Kategorisierungen.“ (Waldenfels 2021, o. S.) Die Fremdheit beginnt im Eigenen und macht, dass das Gefühl der Vertrautheit mit sich und der Welt porös wird. Denn es gibt etwas Anonymes, Unheimliches, dessen wir nicht habhaft werden können. Daher betrifft die Fremdheit die Eigen- und Fremderfahrung zugleich, sie betrifft uns selbst, sozusagen im eigenen Haus, im eigenen Land, der Kultur usw.15 Eigen- und Fremderfahrung, verstanden als eine Form relativer Fremdheit, verflechten sich ebenso im Gefühlsausdruck.16

Wir könnten sagen, dass das, was sich „zwischen“ Frau B. und dem Betreuer abspielt, sich weder den Verhaltens- und Ausdrucksmöglichkeiten von Frau B. noch denen des Betreuers verdankt. Beide Personen werden vom körpersprachlichen Ausdruck des jeweils anderen „überfallen“, sie sind „irritiert“ und verzweifelt. Außerdem gibt es praktische Interessen, institutionelle sowie biografische Bedingungen usw. für beide Personen zu bedenken, in denen ihr Verhalten und Handeln eingebettet sind.17 Dennoch „antworten“ sie auf die Affizierung durch den/die jeweils Andere/n. Das Antworten aufeinander zu betonen, ist ein wesentlicher Aspekt, den Waldenfels in seinen späteren Schriften betonte: Die Antwortlichkeit oder die Responsivität fungiert in der Gerichtetheit auf etwas als etwas: Wir sind nicht nur gerichtet auf etwas, sondern das Gerichtetsein enthält in der Erfahrung die Struktur der Antwortlichkeit oder Responsivität. Man könnte sagen, dass die Ordnung der Intentionalität garantiert, dass das, was erscheint, aus einer Perspektive, in einem bestimmten Sinn, erscheint. Die radikale Fremdheit ist dann das, was eine Form des Entzugs einer Erfahrung annimmt, über eine Ordnung hinausgeht und sich als Abwesenheit entzieht.18

Aber wie könnten wir das Fremde erfahren? Können wir nach dem Fremden suchen, es erfragen, es beurteilen, es gar „wissen“? Fremdes erfahren wir nicht, wie wir eine Erfahrung vom Zähneputzen machen. Denken wir so über das Fremde, haben wir es schon verpasst. In der Erfahrung des körpersprachlichen Verhaltens der beiden Personen aus dem Beispiel (s. o.) entzieht sich etwas den Verfügungsmöglichkeiten, den gesellschaftlichen Rastern und Ordnungen.19 Eine Fremderfahrung ist etwas, das auf mich zukommt, mir zustößt, auf mich einwirkt und etwas zwischen uns geschehen lässt, das sich nicht einer individuellen Leistung, sondern einem antwortenden (responsiven) Geschehen verdankt.

Das Fremde und die Fremderfahrung ist etwas, das wie eine „Heimsuchung“ ist, die uns unruhig, vielleicht irritiert werden lässt. Abwehr, Verdammung, Verkennung, Vermeidung, Eingemeindungen stellen Formen des Umgangs mit der Fremdheit unserer selbst und der Fremderfahrung dar (Waldenfels 1997, 1998a, 2000). Gerade wenn wir durch als fremd erlebte Ausdrucksformen affiziert werden (z. B. beständiges Wiederholen von Worten: „Allein. Bitte. Hilfe“) und uns darauf fokussieren, kann es z. B. zur Konfrontation mit eigenen Ohnmachtsgefühlen, zu negativen Attribuierungen und zu Stigmatisierungen kommen (alt, verwirrt, schwer dement), die in der Folge z. B. ein mitfühlendes Antworten, eine An-erkennung oder inklusive und teilhabeorientierte Verhältnisse erschweren oder gar ausschließen (vgl. Balzer 2014). Antworten bedeutet, auf ein Ereignis bezogen zu sein, das dem eigenen Verhalten und Selbst vorausgeht, weil es anderswo beginnt. Frau B. antwortet „vermutlich“ auf den Tod des Mannes, den Verlust vertrauter Ordnungen. Dem fremden Anspruch gegenüber ist die Antwort notwendigerweise verspätet, und gleichzeitig erhält der Anspruch seinen Sinn nur durch die Antwort.

Fremderfahrung hat nicht nur mit positiven, sondern auch mit negativen Gefühlen der Angst, der Irritation, der Abwehr, der Verleugnung und Verkennung usw. zu tun. Besonders deutlich werden diese negativen Fremderfahrungen, wenn sie eine Art von Ohnmacht auslösen gegenüber dem fremden Anderen und dieser sehr konkret, durch sein Verhalten, Handeln, mir gespiegelt zu Angesicht bringt (vgl. Lacan 1986), wie ich mich gerade nicht sehen und verstehen will; was ich von mir abgegrenzt wissen möchte, weil es vielleicht ambivalente Gefühle ausdrückt. Das Fremde erscheint damit allein schon dadurch bedrohlich, dass es durch sein bloßes Erscheinen die Deutungslücken und -risse im Gefüge des Eigenen sichtbar macht und uns damit in unserer Selbstwahrnehmung verunsichert. Die eigene Fremdheit wird verdrängt oder abgewehrt, damit das vermeintlich Eigene, Vertraute imaginiert werden kann als Identität ohne Identitätsverluste. Man fühlt sich gesichert vor negativ konnotierten, kulturell gerahmten Erfahrungen von Transgenderformen, Behinderungen, kulturellen Unterschieden usw. Diese scheinbare Trennung von Eigen- und Fremderfahrung hindert uns daran, uns beständig mit dem Anderen verflochten zu erfahren; die/der Andere konfrontiert, provoziert, irritiert uns; dem möchten wir entgehen. Wir (er)finden, was wir antworten, nicht aber, worauf wir antworten.

Ohne die Ahnung, dass das Andere bereits in uns selbst „haust“, wir ein Wesen in Beziehung zu Anderen/m sind und ein Antwortverhältnis zu Anderen/m eingehen, werden die irritierenden, trennenden Unterschiede überhöht, und es erscheint völlig surreal oder absurd, was doch so naheliegt: dass ein Mensch nach dem Verlust des Partners / der Partnerin und dem Verlust der vertrauten Heimat, der Einweisung in das Pflegeheim sich verlassen und allein fühlt. Der Verlust der Weltzugehörigkeit macht, dass wir es uns nicht vorstellen können, an Stelle des/der Anderen zu sein; dass uns Ähnliches widerfahren kann.20

Frau B. habe ich gefragt, was ich für sie tun könnte. Sie hat mir geantwortet: „Ich weiß nicht, was los ist mit mir, was alles passiert ist, ich weiß nicht, warum ich hier bin, wo mein Mann ist, ich weiß nichts mehr […]“ (Tagebuchnotiz U. St., 2023) Die Betreuer:innen lesen ihr aus der Tageszeitung vor, sie gehen mit ihr spazieren, sie helfen ihr beim Essen, bei der Pflege usw. Bis heute ruft sie die drei Worte: „Allein. Bitte. Hilfe.“ Sie überträgt diesen Hilfe- oder/und Bittruf auf alle Situationen, weil die Vertrautheit mit der Welt zerrüttet ist. Ihr Ruf setzt heftig wieder ein und wird begleitet von leiblichen Gefühlsbewegungen, von Tränen und Traurigkeit. Die Antworten der Betreuer:innen sind nicht die Antworten, die Frau B. benötigt. Aber wie können wir „passend“ auf einen Anruf, auf Gefühle des Alleinseins, antworten – und dies in einer Situation, in der die Welt von Frau B. zerrüttet scheint?

Es ist zudem die Frage zu stellen, ob es eine „Eindeutigkeit“ der Gefühle gibt oder ob diese nicht ambivalent schillern? Gefühle suchen nach einer „Sprache“, benötigen Artikulation, um verstanden und geteilt zu werden. Am Beispiel erkennen wir dies: Geht es bei der körpersprachlichen Artikulation der Gefühle von Frau B. um „Alleinsein“ oder um (erzwungene) Einsamkeit? Sind die körpersprachlichen Gesten des Betreuers Ausdruck institutioneller Rolleneinnahme oder/und eine Form der „Abwehr“ von eigenen Ängsten, die mit Verlusten unterschiedlicher Art verbunden sind? Oder/und drücken seine Antworten eine Hilflosigkeit oder gar Ohnmacht gegenüber der Situation von Frau B. aus? Ist die Situation auch lesbar vor dem Hintergrund einer unreflektierten Machtmatrix von Normen?

Wenn wir die Erfahrungen von Frau B. und dem Betreuer verstehend reflektieren, dann könnten unterschiedliche Lesarten der Erfahrungen vor vorschnellen Identifizierungen schützen. Der Gewinn liegt darin, dass man der „Dichte der Lebenswelt“ und ihren „Vermeinungshinsichten“ (etwas als etwas wahrnehmen und lesen/deuten) näher kommt. Indem man ihnen näher kommt, wird man einer vieldeutigen Wirklichkeit gerecht, die sich einer leiblichen Verflechtung mit der Lebenswelt verdankt. Diesem Verflechtungsverhältnis zwischen der Dichte der Lebenswelt und den Vermeinungshinsichten (etwas als etwas erfahren) liegt eine „signifikatorische Differenz“ zugrunde. Dies bedeutet, dass es zwischen dem ersten „Etwas“ (am Beispiel: Erfahrung im Vollzug, in der Situation) und dem zweiten „Etwas“ (am Beispiel: Beschreiben der Situation und Lesen oder Deuten der Situation) eine Differenz gibt. Es ist bedeutsam, diese zu erkennen, denn die Grundeigenschaft des Bewusstseins, immer Bewusstsein von etwas, d. h. auf etwas als etwas gerichtet zu sein, gilt es zu beachten. Allerdings ist unser Gerichtetsein auf etwas als etwas vom ersten Etwas bereits angerufen worden. Darauf antworten wir. Waldenfels hat daher in die Struktur der Intentionalität (vgl. Husserl XIX/1, §§ 9–21; nach Merz, Staiti, Steffen 2010, 153–157) eine responsive (antwortende) Grundstruktur all unserer Erfahrungen als fungierend „hineingeflochten“.

3. Suchbewegungen

Abschließend sollen vor dem Hintergrund des Ausgeführten drei unterschiedliche Fragen gestellt werden, die miteinander verflochten sind, sich aber nicht decken.

a) Menschen leben in fragilen privaten und öffentlichen Beziehungen, Strukturen, die jederzeit zerbrechen können. Es liegt ein Beispiel vor, das auch mit einer spezifischen Form des Sprachlos- und Unsichtbar-gemacht-Werdens zu tun hat, durch die Art und Weise, wie der Betreuer auf die körpersprachlichen Antworten von Frau B. in der Situation seinerseits antwortet. Diese Form der Antwort lässt Frau B. einerseits zu einer abgeschotteten Gemeinschaft dazugehören (Pflegeheim), andererseits gehört sie auf eine merkwürdige Weise nicht zu einer Gesellschaft; es werden ihr – allein in der Art des Antwortgebens – wenig Möglichkeiten eröffnet, als jemand verstanden zu werden, die etwas zu sagen hat, der man zuhört, mit der man in ein Verhältnis des Fragens und Hörens eintritt – und sei es über ihr Gefühl des Alleinseins, des Verlassenseins. Nach Bedorf (vgl. 2015) gilt es, das Leid eines Menschen überhaupt wahrzunehmen und auch die „Abschaffung“ von Leiden. Dafür bedürfe es keiner Begründung. – Ist die Linderung, die Veränderung und die Abschaffung von Leid überhaupt begründungsbedürftig? Und wenn wir vermeinen, dies zu benötigen, wäre es nicht „ein moralischer Bankrott“? (Grüny 2012, 249, zit. nach Bedorf 2015) Weltweit, so Liebsch (2018), würden unzählige Menschen sprachlos und unsichtbar gemacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wir kennen die Bilder von verarmten Menschen (vgl. Bourdieu 1997; Weiß 2000), von fliehenden Menschen, die Gefahr laufen, jeden Moment in rechtliche Grauzonen zu geraten, abgeschoben in ein Schattendasein, und auf so etwas wie ein Dach über dem Kopf oder ein Zuhause hoffen. Ihnen werde die Flucht vor Hunger und tiefer Not nicht als Asylgrund angerechnet. Und wir kennen die Verzweiflung von „Systemsprenger:innen“, die oftmals nur noch in Grauzonen leben können. Wir kennen das Leiden von Menschen, die einsam sind, weil sie z. B. in institutionalisierten Wohnformen leben, und zum Teil auch keine Verwandtschaftsbeziehungen mehr unterhalten können, weil gerade die Menschen, die ihnen mehr oder weniger vertraut waren, nicht mehr in ihrem Leben sind. Oft haben sie keine Ansprüche und zugleich machen sie die Erfahrung, wie Frau B., dass sie von niemandem in Anspruch genommen werden und dass übersehen, überhört wird, was sie körpersprachlich ausdrücken. Wie können diese Erfahrungen vergemeinschaftet werden, wie kann ihnen eine kollektive Bedeutung zukommen, sodass mit gutem Willen und einer Reflexion der Machtmatrix der (unreflektierten) Normen eine Veränderung der Lebenssituationen ermöglicht wird?

Allerdings wurde schon (siehe oben) angedeutet, dass dies nur eine mögliche Lesart des Beispiels sein könnte. Ebenso möglich ist, dass Frau B. sehr wohl gesehen und gehört wird vom Betreuer. Es kann sein, dass er mit einer Hilflosigkeit seiner selbst konfrontiert wird, weil er auf die körpersprachlichen Antworten von Frau B. auf ihre Situation keine Antworten weiß, die „stimmig“ wären. Worauf antwortet Frau B. mit ihrem körpersprachlichen Ausdruck? Auf Verluste, für die es kaum Antworten gibt?

b) Vielleicht gelingt eine andere Möglichkeit, mit dem dichten szenischen Beispiel umzugehen? Betrachten wir, wie der Betreuer und Frau B. einander begegnen: Wenn beide Personen sich als ein „Du“ ansprechen, so dürfen wir doch erwarten, dass sich ein „Ich“ darin wiedererkennt. Das „Ich“ muss sich jedoch gegen die verschiedenen Bedeutungen, die mit diesem „Du“ verknüpft werden, wehren, sie ablehnen, sie weit von sich weisen können. Judith Butler schreibt (in ihren phänomenologisch orientierten Veröffentlichungen): „Ja, ich bin es, aber ich bin nicht die [der; U. St.], für die [den; U. St.] du mich hältst.“ (Butler 2015, 22) Eine solche Sicht verschließt nicht nur (Betreuungs-)Räume, sondern eröffnet auf eine Suche hin, in der sich die/der Andere in keiner geübten Geste je „festschreiben“, „identifizieren“ ließe. Am Beispiel: Frau B. ist weder nur verwirrt, noch ist sie nur dement. Das Ich ist „[…] nichts anderes als die Differenz der Masken, die die Artikulationen seiner Lebensformen darstellen, seiner Selbstbilder, in denen sich der Blick der anderen fängt und deren imaginärer Charakter in keinem letzten Bild zum Stillstand kommt. Es ist die Vakanz der Masken, die sowohl ein Interagieren von Menschen und Menschen als auch eine Verwicklung des Menschen in die Sinnenwelt […] ermöglicht.“ (Meyer-Drawe 1991, 398) Die Frage, ob wir als Identität gegeben sind, ließe sich auch mit dem Diskurs um Anerkennung, den Thomas Bedorf (2010) als eine Verkennung enthüllt hat, darlegen: Wenn in Anerkennungsverhältnissen die Identitätsstiftung unabwendbar auf dem Spiel stehe (x anerkennt y als z), riskieren wir beständig eine Verkennung des/der Anderen. Es gibt keine „stimmige“ Kategorisierung, keine „stimmige“ Identitätsstiftung. Wir sind beständig mehr und anderes, als sich die jeweils anderen vorstellen. Wir sind eine „Differenz der Maskierungen“, wie Käte Meyer-Drawe unter Bezug auf Foucault ausdrückt (Meyer-Drawe 1991; vgl. 2007), die eine Balancierung zwischen Rolle und Ich, aber auch unserer Wirklichkeit und Möglichkeiten erforderlich macht. Als Personen sind wir ein mehrdimensionales Selbst, das erst im Spiel zwischen verschiedenen Dimensionen der Existenz seine Form gewinnt – und immer wieder verliert, weil wir leiblich verwickelt sind mit einer Welt, zu der wir in der Lage sind, in Distanz zu treten und in ein Spiel von Masken, Rollen einzutreten, oder aber: dazu gezwungen werden. Das Offenhalten von Spielräumen und die Vielfalt sowie die Ambivalenzen der Deutungen etc. können daher den Risiken der Vereinnahmung, der Aneignungs- und Enteignungsformen die Stirn bieten. Was würde geschehen, wenn wir diese kursorischen Überlegungen miteinbeziehen in behindertenpädagogische Versuche, Begriffe für Behinderung zu finden, von denen wir immerzu ausgehen, dass sie eine begriffliche „Passung“ für das leibliche, verletzbare und offene wie „werdende“ Subjekt darstellen?

c) Gefühle, die wir haben, rühren von etwas her, wovon wir affiziert werden. Sie beziehen sich auf etwas, an dem wir nicht konstitutiv beteiligt waren, was uns jedoch (positiv/negativ) befremden kann. Wir antworten darauf, indem wir unsere Antworten körpersprachlich realisieren unter den Verstrickungen und Verwicklungen unseres Lebens mit Normen, kulturellen und biografischen Rahmungen. Da Gefühle sich merkwürdig sperrig gegenüber Argumentationen verhalten, können wir davon ausgehen, dass trotz normativer, menschenrechtlicher, kultureller Vorgaben, Gesetze, Gepflogenheiten, trotz erkennbaren Leids und wider besseres Wissen Menschen aufgrund von Erkrankungen, Not (beispielsweise fliehende Menschen) und Schädigungen abgelehnt werden? Rechnen wir mit dem Zuweisen dieser Menschen an Asyle und Niemandsorte, die sich in einem merkwürdigen Nebelfeld zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit befinden – displaced persons ohne Rechte (vgl. Liebsch 2018)?

Literatur

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1 Der vorliegende Text wurde (leicht verändert) bereits in der Zeitschrift „Sonderpädagogische Förderung heute“ (1/2024) abgedruckt.

2 Zu der Thematik der Verflechtung oder der chiasmatischen Struktur allen Lebens entsteht zurzeit ein Buchprojekt (Stinkes, Seitzer): Die chiasmatische Struktur.

3 Dies betrifft die schriftlich festgehaltene und am situativen Beispiel dargestellte Erfahrung über Erfahrung im Pflegeheim (Verflechtung von Vollzug und der ersten Reflexion) sowie die Verflechtung von Eigen- und Fremdwahrnehmung und dem Zur-Welt-sein des Menschen.)

4 Vgl. Meyer-Drawe (2011) zum Begriff des Staunens als einem philosophischen Gefühl.

5 An dieser Stelle gilt mein Dank Käte Meyer-Drawe, welche mich auf die Ausführungen von Josef Früchtl (2004) aufmerksam gemacht hat.

6 Das „sein“ im Begriff „Zur-Welt-sein“ ist absichtlich kleingeschrieben, weil der performative Charakter hervorgehoben werden soll – ähnlich bei Heideggers Begriff des „In-der-Welt-seins“. Ich verdanke diesen Hinweis Käte Meyer-Drawe.

7 Damit wir solche Emotionen als politische Gefühle überhaupt (an)erkennen, bedarf es nach Bedorf (2015) und Liebsch (2018) mindestens dreier Komponenten: Artikulation von negativen Gefühlen, die zu einem politischen Eingreifen veranlassen (a), Vergemeinschaftung (b) und des Willens zur Handlung und Veränderung von Ordnungen (c). Politisch werden diese Gefühle, wenn – nach Liebsch (2018) und Bedorf (2015) – ihre notwendige Artikulation als Form der Bezeugung geschieht und aufgewiesen wird, dass diese nicht nur private Gefühle einer einzelnen Person sind, die sich unter bestimmten Bedingungen einstellen, sondern von einer bestimmten Form der Sozialität Zeugnis ablegen. Ein Gefühl muss nach Bedorf kollektiv geteilt werden, andere anstecken, affizieren, sich als kollektive Erfahrung verbreiten, um politischen Sinn zu erhalten (vgl. Bedorf 2015, 260). Zugleich brauche es einen Aufweis des unreflektierten Fungierens von ausschließenden Normen, sodass die zugrunde liegende Machtmatrix deutlich würde (ebd., 263). Daran schließe sich der Wille zur Handlung an. Eine reine Beobachtung, ein Aufweis eines Zustandes als einer Sachgegebenheit, reicht nicht hin. Es braucht Beachtung, Artikulation und Vergemeinschaftung sowie den Willen, etwas zu verändern.

8 Bernhard Waldenfels (2010, 319) akzentuiert, dass die Subjektivierung der Gefühle ihr Gegenstück in der Entzauberung des Kosmos fände: „Als bloßer Inbegriff kausal erklärbarer und beherrschbarer Mechanismen ist die Natur fortan nicht nur sinnfrei, sondern auch gefühlsfrei. […] Wie Husserl in seiner Krisis-Schrift zeigt, wird die Reduktion der kosmischen Lebenswelt auf eine physische Außenwelt wettgemacht durch die ,ergänzende Abstraktion‘ einer psychischen Innenwelt.“ (Hua VI, 231)

9 Grüny (2004) stellt unter Bezug auf Buytendijk die Bewegung der Gefühle am Beispiel der Schmerzerfahrung dar: Durch die Schmerzerfahrung fände ein „Erlebnis eines Bewegtwerdens“ (Waldenfels, zit. nach Grüny 2004, 117) statt. Gegenüber einer Zuwendung zur Welt fände beim Schmerz eine zentripetale Bewegung statt: „Freuds Charakterisierung des Körpers als ‚innere Peripherie‘ ist hier aufschlußreich: Ohne daß man notwendigerweise ein Zentrum unterstellen müßte, sei es nun das Gehirn oder ein ominöses Selbst, das im Körper lokalisierbar ist und für das alles andere Peripherie wäre, wird die betroffene Körperstelle als Ort des Schmerzes allein aufgrund der zentripetalen Bewegung zu einer solchen Peripherie; sie wird welthaft.“ (Grüny 2004, 122)

10 Waldenfels spricht vom Pathos nicht im Sinne einer bloßen Erfahrung, sondern das Pathos sitze „[…] im Herzen der Erfahrung wie die Unruh in der Uhr“ (2010, 325).

11 Das Fremde lässt sich keinen normativen Kategorien zuordnen, denn es ist weder positiv noch negativ. Allerdings kann es durch negative Affizierungen von etwas (etwa die Wahrnehmung einer bestimmten Hautfarbe oder die Wahrnehmung eines bestimmten Verhaltens wie das schnelle Hin-und-her-Bewegen der Hände vor den Augen) zu einer negativen Fokussierung und zu negativen Attribuierungen kommen, die sich festsetzen und „den“ Fremden als negativ definieren.

12 „Das Liebäugeln mit einer ganz und gar inklusiven Gemeinschaft, der im Grunde nichts und niemand äußerlich wäre, gehört zu den Ideen, die verblassen, sobald man sie zu realisieren versucht.“ (Waldenfels 2006c, 10)

13 Trotz der Vielzahl der synonym genutzten Begriffe für das Gefühl (Emotion, Empfinden, Sensationen etc.) sollte nach Früchtl (2021) ein wesentlicher Unterschied zum Affekt hervorgehoben werden: „Das fundamentale Problem dieser affektivistischen Emotionstheorie liegt freilich in der Verwirrung kausaler und normativer Beziehungen, wenn sie kausalen Mechanismen psychologische Eigenschaften (wie ‚denken‘, ‚entscheiden‘, ‚wählen‘) zuspricht. Kausalität ist nicht hinreichend, um so etwas wie ‚Bedeutung‘, ‚Intentionalität‘ (Gedanken sind auf etwas, ein Objekt oder einen Sachverhalt, gerichtet) und Werte zu erklären. Die neurowissenschaftliche Redeweise, dass Nervenzellen etwas ‚bewerten‘ oder dass ‚das Gehirn urteilt‘, zum Beispiel im limbischen System als jenem Bereich des Gehirns, der hauptsächlich für Emotionen und Triebverhalten zuständig ist, erweckt den Eindruck, es gäbe auf der materiell-neurophysiologischen Ebene etwas, das einer Bedeutung oder einer Begründung auf der mentalen und normativen Ebene entspricht.“ (Früchtl 2021, 101)

14 Vgl. dazu die Arbeiten von Emmanuel Levinas (1983; 1987; 1992).

15 Eigenes und Fremdes bilden ein Art Geflecht mit Überkreuzungen, ohne dass sie „zusammenfallen“.

16 Angemerkt sei, dass der verführerische Begriff des „Gefühlsausdrucks“ nicht bedeutet, ein „innen“ liegendes Gefühl würde sich irgendwie nach „außen“ drücken. Aus phänomenologischer Sicht „sind“ wir unser Gefühl, d. h., es realisiert sich z. B. in der Körpersprache des Weinens, der Modulation des Rufens „Allein. Bitte. Hilfe.“, in der Art, wie die Hände die Rollstuhllehnen umklammern, der Körper zittert, der Kopf nach vorn und unten gesenkt wird, wie sich gegebenenfalls das autonome Nervensystem als vermehrte Atmung und Herztätigkeit äußert.

17 Bedenken wir dies, dann bietet sich in der Tat erneut die Figur der Verflechtung an: Vielleicht wird gerade mit der radikalen Fremdheit deutlich, dass „das Fremde“ verwoben ist mit der Fremderfahrung.

18 Das radikale Fremde können wir somit als Außer-Ordentliches, als eine Bezugnahme zu einer Ordnung im paradoxen Modus des Entzugs verstehen.

19 „Das Liebäugeln mit einer ganz und gar inklusiven Gemeinschaft, der im Grunde nichts und niemand äußerlich wäre, gehört zu den Ideen, die verblassen, sobald man sie zu realisieren versucht“ (Waldenfels 2006c, 8).

20 Der Ausdruck „an Stelle des/der Anderen“ meint keine relationale Ortsbestimmung (x steht an der Stelle von x). Diese Haltung würde implizieren, dass wir die Perspektive eines neutralen Beobachters einnehmen. „Stellvertretung bedeutet mehr, nämlich dass jemand an jemandes Stelle tritt.“ Damit ist ein Ort in der Welt und kein beliebiger Raumpunkt gemeint. „Das Rätselhafte der Stellvertretung liegt nun darin, […] dass man sie als etwas Sekundäres betrachtet, so dass man nicht eigentlich dort ist, wo der Andere sich aufhält. […] Stellvertretung beschränkt sich dann darauf, dass ich primär dort bin, wo der Andere nicht ist, und nur sekundär dort, wo der Andere ist, und umgekehrt würde das gleiche gelten.“ (Waldenfels 2012, 237 f., Herv. der Verf.)

Autorin:

Ursula Stinkes, Prof. Dr.

Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Leibphänomenologische Theorie geistiger Entwicklung; Konzepte zur Arbeit mit dem Körper, der Körpersprache und der Körpererinnerung / schwerer Behinderung; Anthropologische und ethische Fragen zur Konditionalität menschlicher Existenz; Bildung von Kindern und Jugendlichen mit (schwerer) geistiger Behinderung; Möglichkeiten integrativer Beschulung und Chancen/Grenzen der Vision von Inklusion.

stinkes@ph-ludwigsburg.de