
Willi änderte seinen Kleidungsstil rapide, als er seine Faszination für den Film "Blues Brothers" entdeckte.
Willi will wählen
Ein Meilenstein in der Entwicklung unseres Sohnes Willi war der Moment, in dem er auf Dinge zeigen konnte, die er haben wollte. So konnte er endlich Spielsachen, Filme oder Wurstsorten auswählen, die aus guten Gründen außerhalb seiner Reichweite lagerten. Oft glaubte ich seine Vorlieben zu kennen. Aber immer wieder durfte ich Überraschungen erleben – beispielsweise als Willi vehement die Karten eines Quizspiels einforderte, die er dann vor sich auf den Tisch ausleerte, um sie, Karte für Karte, unter genüsslichem Lautieren zurück in die Metalldose zu legen. Eine Beschäftigung, der er bis heute ausgiebig nachgeht.
Diese vermeintlich einfache Geste – das Zeigen mit dem Finger – machte für uns im Alltag vieles einfacher und steigerte Willis Zufriedenheit merklich, da er endlich die Möglichkeit hatte, selbstständiger zu entscheiden. Zuerst musste er zum Auswählen die realen Gegenstände sehen. Dann konnte er auch anhand von Fotos oder Bildkarten, später mit den Symbolen auf dem Talker seine Bedürfnisse ausdrücken. Seit einigen Jahren kann Willi sogar auf verbal gestellte Fragen antworten. Doch müssen diese für ihn richtig formuliert sein. Wenn ich ihn frage: „Möchtest du Pizza oder Nudeln?“, kenne ich seine Antwort. Er wird begeistert „Jaaaaa“ rufen und sich breit grinsend an den Tisch setzen. Auf „Möchtest du Pizza oder Rosenkohl?“ würde er mit einem empörten Schrei und Kopfschütteln reagieren. Vielleicht würde er mit zusammengekniffenen Augen noch „Ii i i iiii“ hinzufügen. Entweder-oder-Fragen kann er nicht sinnvoll beantworten. Trotzdem werden ihm ständig und überall solche gestellt, was immer wieder für Verwirrung sorgt oder dafür, dass doch ein anderer für Willi entscheidet. Um Willi mitreden zu lassen, muss man ihm klare Ja-Nein-Fragen stellen.
Im Laufe von Willis Leben kommen immer neue Bereiche hinzu, die er selbst gestalten möchte. Nachdem es Willi zum Beispiel jahrelang völlig egal zu sein schien, was für Kleidung er trägt – solange sie gemütlich war –, hat er plötzlich einen eigenen Kleidungsstil entwickelt. Er möchte sich so kleiden wie seine Vorbilder Jake und Elwood aus dem Film „Blues Brothers“ (den wir jedes Wochenende zweimal anschauen). Er zieht nun regelmäßig ein schwarzes Jackett mit weißem Hemd und Krawatte an (der maximale Kontrast zu seiner sonstigen Kleidung), die ich ursprünglich nur als Karnevalskostüm für ihn besorgt hatte. Lediglich auf ungemütliche Schuhe und die Anzughose verzichtet er gerne und trägt stattdessen Turnschuhe und Jogginghosen zu seinem neuen Outfit. Ein bisschen lustig sieht das tatsächlich aus, aber ich freue mich, dass Willi einen weiteren Schritt in Richtung Selbstbestimmung gemacht hat. Die weißen Oberhemden sind zwar bei den vielen Tomatensoßenflecken etwas unpraktisch, aber Willi stören sie genauso wenig wie der Umstand, dass seine Anzüge allesamt aus dem Secondhandladen kommen.
Vor einigen Wochen wurde in Deutschland eine neue Regierung gewählt. Wären die Wahlen nicht vorgezogen worden, hätte auch Willi in diesem Jahr zum ersten Mal an der Bundestagswahl teilnehmen können. Bis vor Kurzem waren die rund 80 000 Menschen in Deutschland mit sogenannten „geistigen“ Behinderungen, die in allen Bereichen betreut werden, von politischen Wahlen ausgeschlossen. Nachdem allerdings mehrere Betroffene Beschwerde eingelegt hatten, stellte das Bundesverfassungsgericht 2019 fest, dass dieser pauschale Wahlausschluss verfassungswidrig war. Ich kann mich nicht erinnern, dass in einem Wahlkampf jemals so hitzig gestritten wurde wie in diesem. Wenn ich irgendwo erwähnte, dass theoretisch auch Willi an den nächsten Wahlen teilnehmen dürfe, wurde darüber allerdings nur gelacht. Da Willi nicht sprechen kann, wird ihm regelmäßig auch die Fähigkeit zu denken abgesprochen. Gerade in diesem Jahr konnte man sich jedoch in vielen Wahlkampfreden wieder einmal gründlich davon überzeugen, dass die Fertigkeit zu sprechen ganz und gar nicht im Zusammenhang mit der Fähigkeit zu denken stehen muss. Es wurde gelogen und beleidigt, es wurden Versprechungen gemacht und Ängste geschürt, die wohl langfristig das politische Klima beeinflussen werden.
Solche Falschheiten wird Willi zum Glück nie äußern; trotzdem muss ich zugeben, dass es auch mir zuerst skurril vorkam, dass Willi bald wahlberechtigt sein wird. Als gesetzliche Betreuerin dürfte ich ihm zwar Hilfestellung geben, aber ich dürfte ganz ausdrücklich nicht in seinem Sinn für ihn entscheiden. Im Bundeswahlgesetz heißt es dazu:
„Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen. Die Hilfeleistung ist auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung beschränkt. Unzulässig ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert.“
Bezogen auf Willis Nudel-Pizza-Angelegenheit könnten eine solche technische Hilfe einfach Symbole sein, auf die er zeigen kann (wobei ich in diesem Fall damit rechnen muss, dass er gleich mehrfach auf Nudeln und Pizza tippen und ein Rosenkohl-Bild erbost vom Tisch fegen würde). Aber wie soll ich Willi politische Inhalte erklären, die oft auch mich selbst überfordern? Andererseits drängt sich mir angesichts der extremen Zunahme rechtspopulistischer und fremdenfeindlicher Tendenzen die Frage auf, ob es nicht doch einen Weg für Willi geben könnte, seine Interessen zu vertreten. Rassismus ist Willi vollkommen fern. Die Hälfte seiner Freunde hat einen Migrationshintergrund, und in der Öffentlichkeit spricht (beziehungsweise fasst) Willi mit Vorliebe People of Color an, wahrscheinlich weil er die Erfahrung gemacht hat, dass sie oft eine höhere Kompetenz oder Bereitschaft zu nonverbaler Kommunikation haben.
In einer Facebook-Gruppe fragte ich nach, wie es andere betroffene Eltern mit dem Wählen hielten. Einige Familien hatten bei der Bundestagswahl 2021 die Erfahrung gemacht, dass man sie mit ihren erwachsenen Kindern trotz des veränderten Wahlrechts nicht in die Kabine lassen wollte. Sie entscheiden sich deshalb für die Briefwahl und bleiben somit wieder einmal gesellschaftlich unsichtbar. Ein Vater gab zu, er würde einfach für sein Kind das Kreuz machen, und wurde daraufhin als Wahlbetrüger beschimpft. Die meisten Eltern, die sich äußerten, scheinen ihren Kindern keine politische Meinung zuzutrauen, ließen sie nicht wählen und wählten auch selber nicht für sie.
Die Teilnehmer:innen einer Veranstaltung unseres örtlichen Elternvereins „Leben mit Behinderung“ zur Bundestagswahl hatten eine ganz andere Einstellung. Sie waren allesamt sehr daran interessiert, ihren volljährigen Kindern die Wahl zu lassen. Manche schilderten, dass sie gemeinsam mit ihnen die Wahlprogramme in einfacher Sprache lasen, die alle größeren Parteien zur Verfügung stellen. Viele fanden auch den „Wahlomat“ sehr hilfreich, eine Website, die sich besonders an junge Wähler:innen richtet und ihnen nach der Beantwortung einer Reihe von Fragen die Parteien nennt, mit denen die höchste Übereinstimmung besteht. Ein Vater erzählte, er zeige seinem Sohn Fotos der Spitzenkandidat:innen und lasse ihn so aussuchen, wen er am sympathischsten fände. Eine Mutter wiederum berichtete, dass sich die Familie mit allen Kindern zusammensetze, um gemeinsam zu entscheiden, welche Partei aus ihrer Sicht die Interessen des behinderten Familienmitglieds am besten vertrete. Anschließend stellte man dann nur noch die rhetorische Frage, ob er oder sie diese oder jene Partei wählen wolle – wohl wissend, dass fröhlich zugestimmt werde. Auf die Frage, ob das nicht eine „missbräuchliche Einflussnahme“ darstelle, entgegnete die Mutter, dass viele Eltern ihre politische Einstellung ihren Kindern gegenüber offen verträten – und Kinder somit im Grunde immer beeinflusst würden, egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung.
Ich frage mich, wie man für Willi politische Themen und Informationen so stark vereinfachen könnte, um ihn wirklich teilhaben zu lassen. Auf vielen Wahlplakaten versuchen die Parteien anscheinend auch schon genau dies für alle Wähler:innen zu tun. Allerdings kommen dabei meist nur nichtssagende Schlagworte wie „Freiheit“, „Sicherheit“ oder „Zusammenhalt“ heraus, mit denen bestimmt nicht nur Willi wenig anfangen kann.
Auch ich weiß so manches Mal nicht, welche Partei ich wählen sollte. Aber ich weiß eigentlich immer, welche Parteien ich NICHT wählen werde. Vielleicht ist es deshalb auch gar nicht so bedeutend, wen Willi genau wählt, solange es nicht eine Partei ist, die ihm definitiv schaden würde, wenn sie mitregiert, da sie beispielsweise Inklusion offen als einen Irrweg bezeichnet oder rassistische Zusammenhänge zwischen Migration und Behinderung herzustellen versucht. Es müsste doch auch für Willi konkrete Formulierungen mit Bezug zu seiner Lebensrealität geben, um herauszufinden, ob er so eine Partei wählen möchte. Das könnte dann in etwa so lauten: „Willi, sollen Egemen und Achmad weg?“ Wenn Willi das verneint, wäre dann immerhin schon mal der Rosenkohl unter den Parteien aussortiert, und das ist vermutlich das Wichtigste.
Autorin:
Birte Müller, geboren 1973 in Hamburg, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Seit sie Kinder hat (eins davon mit extra Chromosom), schreibt die ausgebildete Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Kolumnen – zurzeit für die taz über ihre „Schwer mehrfach normale Familie“. Sie erschienen auch in Buchform unter dem Titel „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“.
E-Mail: birte@illuland.de