Eine Frau in einem roten Mantel und ein Mann im Rollstuhl mit schwarzer Jacke blicken gemeinsam aus einer verglasten Gondel auf eine weitläufige Stadtlandschaft mit Bergen und Wasser im Hintergrund. Der Mann deutet mit seiner Hand nach draußen, während beide die Aussicht genießen.

In Norwegen können Menschen mit Behinderung aufgrund ausreichender Assistenzleistung leben wie andere auch.

Foto: © Innovation Norway, https://www.visitnorway.com
aus Heft 6/2024 – Anderswo
Franz Wolfmayr

"Mein neues Auto macht mir viel Freude" - In Norwegen ist Leben mit Behinderung normal

Ein neues Auto ist ja nichts Besonderes, werden Sie denken. Das Auto, in diesem Fall ein Mini Clubman, ist ja für viele Menschen eine aufregende Anschaffung. Auch für Britt-Evy S. Ich habe sie in Norwegen, in Mikkelsveien, einem ländlichen Stadtteil von Drammen, getroffen. Sie erzählt mir begeistert von ihrem Leben hier am Land, geprägt von geringer Besiedelung, einem See und Flüssen, von ihren Mitgliedschaften in Vereinen, den ländlichen Festen, an denen sie teilnimmt, und von ihrer Käppi-Sammlung, die mittlerweile 170 Stück umfasst.

Frau S. ist 42 Jahre alt und lebt seit ihrer Jugendzeit allein in einem eigenen Apartment. Seit einigen Jahren ist sie mit Erik befreundet und lebt mit ihm zusammen. Sie bezahlen im Monat ungefähr 1 000 Euro Miete für diese Wohnung. Die Geschichte wäre nicht weiter erzählenswert, würde Frau S. nicht mit Trisomie 21 leben. Sie sitzt mir bei einem Kaffee gegenüber und erzählt auf Englisch, was sie gerne macht und wie wohl sie sich in ihrer eigenen Wohnung fühlt, die sie ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet und mit vielen Dingen wie ihren 170 Käppis angereichert hat. Frau S. versorgt sich selbst. Das hat sie bereits in jungen Jahren in einer Haushaltungsschule mit Internat gelernt. Zur Unterstützung und Klärung diverser Fragen und Herausforderungen kommt einmal pro Woche jemand von den Sozialen Diensten der Stadt vorbei. Das Tageszentrum, in dem sie unter anderem Mitglied in einer Theatergruppe ist, erreicht sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß. Das Auto verwendet sie für Einkäufe bzw. wenn sie weiter entfernte Veranstaltungen oder Freunde besuchen möchte. Dazu bittet sie eine Nachbarin, sie zu fahren, da sie selbst keinen Führerschein hat.

Wohnheime wurden aufgelöst

Norwegen hat zwischen 1990 und 1995 alle Wohnheime für Menschen mit Beeinträchtigungen aufgelöst. Kritik an institutionellen Wohnformen für diese Bevölkerungsgruppe kam in Norwegen bereits ab 1960 auf. 1966 wurde das Normalisierungskonzept eingeführt. 1973 wurde ein Komitee beauftragt, die Heime zu untersuchen. Es beschrieb die Lebensbedingungen als unwürdig. 1987 lebten In Norwegen 5 250 Personen in Institutionen. Aufgrund von Elterninitiativen entschied das norwegische Parlament 1988, alle Institutionen zu schließen, und sah dafür den kurzen Zeitraum von 1991 bis 1995 vor. Per Gesetz wurde gleichzeitig die Zuständigkeit für alle Sozialen Dienstleistungen von der Bezirks- auf die Gemeindeebene übertragen. Dieses Gesetz legt auch fest, welche Dienstleistungstypen jede Gemeinde anbieten muss. Für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es heute umfassende Leistungen zur sozialen Sicherung und zum Sozialschutz. Zu den allgemeinen Leistungen gehört auch eine Invalidenrente zum finanziellen Ausgleich einer etwaigen Erwerbsunfähigkeit für 18- bis 67-Jährige. Anspruch haben Personen, deren Erwerbsfähigkeit aufgrund von Krankheit, Unfall oder sonstiger Beeinträchtigung um mindestens 50 Prozent gemindert ist. Sie können eine Invalidenrente von bis zu 2 494 Euro erhalten, vorausgesetzt, sie haben zuvor medizinische Behandlungen und Maßnahmen zur Wiedereingliederung in die Arbeitswelt absolviert, ohne dass die Erwerbsminderung dadurch verbessert werden konnte. Die Invalidenrente wird wie normales Einkommen besteuert und die Menschen, die sie beziehen, bezahlen davon sämtliche Kosten ihres Alltagsleben, wie alle anderen Norwegerinnen und Norweger auch. Auch Frau S. tut das.

Keine Betteleien notwendig

Frau S. muss nicht laufend um Unterstützungsleistungen ansuchen. Sie hat ein berechenbares Einkommen, mit dem sie auskommen muss. Sie konnte damit auf ihr Auto sparen und es selbst kaufen. „Mein neues Auto macht mir viel Freude“, sagt sie und erzählt, dass das Behindertentaxi der Stadt Drammen immer dann, wenn sie es brauchen würde, keine Zeit hat. Mit einem eigenen Auto ist sie unabhängiger, obwohl sie jemanden bitten muss, sie zu fahren. Frau S. ist beeindruckend selbstbewusst, klar in der Organisation ihres Alltags sowie in ihren Wünschen und Zielen. Ich glaube, das hat auch mit dieser Form der Finanzierung zu tun. Sie bezahlt wie jede andere Bürgerin und jeder andere Bürger ihre Lebenshaltungskosten und muss nicht regelmäßig um etwas bitten. Die unwürdige Bettelei, die wir aus Ländern wie Österreich kennen, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen jährlich wieder Anträge auf Verlängerung ihrer notwendigen Unterstützungsleistungen (Existenzsicherung und Assistenzleistungen) einbringen müssen, obwohl sich nichts an ihrer Situation verändert hat, gibt es in Norwegen nicht. Auch andere Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, mit denen ich sprechen konnte, haben mir erzählt, wie sehr das ihr Leben lebenswert macht.

Politische Strategie

Die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit allen notwendigen sozialen Dienstleistungen in riesigen Gemeindegebieten stellt die norwegischen Gemeinden natürlich vor große Herausforderungen. Drammen ist Teil der Metropolregion um Oslo, eines der am schnellsten wachsenden Gebiete Norwegens. Die Gemeinde beschäftigt 6 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nach der Zusammenlegung im Jahr 2020 wurden als Teil der politischen Strategie für die Organisation der sozialen Dienstleistungen der Stadt drei wesentliche Prinzipien beschlossen:

1.         Die Dienstleistungen müssen nahe an den Menschen sein.

2.         Es geht um Kooperation in allen Belangen, um gemeinsam individuelle gute Lösungen zu finden.

3.         Die Gemeindeentwicklung soll weiterhin das „Dorfgefühl“ erhalten.

Daher wird in zehn kleineren Planungsregionen gedacht und Menschen mit Beeinträchtigungen werden in die jeweiligen Planungen eingebunden.

Damit Frau S. und all die Menschen, die künftig Unterstützung benötigen, diese auch bekommen, planen Städte wie Drammen für zukünftige Bedarfe. Dazu gehört die Planung von Kindergarten- und Schulplätzen genauso wie von Wohnungen. Bereits im Alter von 14 Jahren werden Personen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien gefragt, wann sie ausziehen wollen und wo sie wohnen möchten (angeblich ziehen junge Menschen in Norwegen in der Regel mit 18 Jahren in eine eigene Wohnung). In der Folge bauen und halten die Gemeinden entsprechende Wohnungen und Dienstleistungen zur Verfügung.

Das eigene Leben leben

Frau S. ist mit ihrem Partner in Mikkelsveien glücklich. Sie hat sich entschieden, nicht in einem Unternehmen zu arbeiten, obwohl sie dies könnte. Ihr Partner arbeitet und erledigt Zustellaufträge mit seinem Mopedauto. Gemeinden stellen grundsätzlich Arbeit in Werkstätten mit Entlohnung bereit (das Modell heißt „inkludierende Gemeinden“), aber viele Personen mit Behinderungen arbeiten regulär in Unternehmen der Wirtschaft. Sie erhalten dazu Unterstützung durch Supported-Employment-Dienste. Dass dieses Leben für Frau S. und ihren Partner möglich wurde, begann mit der Schließung der Wohnheime und der Schaffung klarer gesetzlicher Grundlagen für ein normales Leben in den Gemeinden. Natürlich gibt es in der Umsetzung auch Schwierigkeiten. Doch Norwegen zeigt, dass selbstständiges Leben für alle Menschen mit Beeinträchtigungen möglich ist. Sie leben als selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger ihr eigenes Leben.

Autor:

Franz Wolfmayr, Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der „Chance B Gruppe“ in der Steiermark. Von 2008 bis 2016 Vorsitzender des größten Europäischen Dachverbandes der Behindertenhilfe (EASPD – www.easpd.eu ), Mitbegründer und Gesellschafter beim Zentrum für Sozialwirtschaft GmbH (www.zfsw. at).

franz.wolfmayr@zfsw.at