Beschreibung

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David Rott, Marcus Kohnen

Kritisches Denken: Ein Bildungsziel für (wirklich) alle?

Junge Menschen sollen lernen, Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt hin einzuschätzen (Stichwort: Fake News). Sie sollen mit widerstreitenden Argumenten umgehen können. Sie sollen aktiv Entscheidungen treffen. Sie sollen sich für die gute Sache einsetzen – für Demokratie, Klima- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit, ein gutes Miteinander – und Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenwirken.

In den gesellschaftlichen und vor allem auch pädagogischen Diskursen, in denen diese Forderungen an junge Menschen gestellt werden, fungiert das kritische Denken als eine Fähigkeit, die benötigt wird, um diesen oben angesprochenen, komplexen Anliegen, Fragen und Problemen angemessen zu begegnen. Dies klingt zunächst logisch und nachvollziehbar. Doch ein genauer Blick auf die Beschreibungen des kritischen Denkens zeigt, dass anscheinend gar nicht so klar ist, was damit eigentlich gemeint ist. Ist Denken nicht immer kritisch? Und ist das kritische Denken etwas, das nur einige Menschen können? Oder können das viele bzw. alle?

Dieser Text geht diesen Fragen nach:

  • Was versteht man unter kritischem Denken?
  • Wie kann man kritisches Denken lernen?
  • Und wie können alle Menschen kritisches Denken lernen?

Denn – und das ist ein zentrales Argument dieses Artikels – kritisches Denken ist nicht nur einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft zuzuschreiben, sondern etwas, das alle angeht. Wenn hehre Ziele wie Demokratie im Raum stehen, muss es darum gehen, dass alle Menschen in der Lage sind, partizipativ in Prozesse einzugreifen und diese mitzugestalten.

Nur dann kann kritisches Denken eine emanzipatorische Kraft entwickeln, die im Sinne einer inklusiven Gesellschaft alle Menschen anspricht. Werden Gruppen aufgrund von Zuschreibungen nicht in diese Prozesse integriert, schreiben sich Diskriminierung und Marginalisierung fort.

Was ist unter kritischem Denken zu verstehen?

Kritisches Denken kann als eine Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Partizipation begriffen werden. Wer kritisch denken kann, ist in der Lage, komplexen gesellschaftlichen oder auch ökologischen Fragen zu begegnen, auf die es keine einfache, vielleicht auch keine eindeutige Antwort gibt. Kritisches Denken ist dabei auf die Zukunft gerichtet. Es geht um Fragen, die auch perspektivisch eine Relevanz haben oder sich noch dramatisch weiterentwickeln können (vgl. Rott und Kohnen 2023). Schlagworte an dieser Stelle sind etwa die Künstliche Intelligenz und deren Einfluss auf moderne Gesellschaften, die Ausgestaltung demokratischer Strukturen oder die Frage, wie die Menschen dem Klimawandel begegnen können.

Der Philosoph Jonas Pfister fokussiert in seinen Überlegungen auf den Zusammenhang zwischen kritischem Denken und dem Zusammenleben der Menschen: „Wenn wir in einer modernen Gesellschaft leben und unseren Beitrag zu ihr leisten wollen, dann müssen wir im positiven Sinne möglichst kritische Denkerinnen und Denker werden“ (Pfister 2020, 7). Kritisches Denken ist demnach etwas Positives, dem eine gestalterische Kraft zugeschrieben wird.

Orientiert an der Kritischen Theorie lässt sich mit Max Horkheimer (2020) argumentieren, dass mit dem kritischen Denken ein emanzipatorisches Potenzial verbunden ist. Menschen, die kritisch denken, können gesellschaftliche Machtstrukturen aufdecken und auf Basis dieser Erkenntnisse selbst aktiv in die Gesellschaftsgestaltung eingreifen.

Kritisches Denken in diesem Sinne hebt sich vom alltäglichen Denken ab. Das alltägliche Denken sieht Horkheimer als stark kulturell und historisch beeinflussten, trägen Prozess, der sich in unhinterfragten Routinen niederschlägt. Das Aufbrechen solcher Gewohnheiten ist anstrengend, bietet aber die Chance auf Veränderungen – für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft, in der sich die einzelne Person bewegt. Horkheimer schreibt, kritisches Denken enthalte „einen Begriff des Menschen, der sich selbst widerstreitet, solange diese Identität nicht hergestellt ist“ (Horkheimer 2020, 35). Gemeint ist damit die Nicht-Passung zwischen den althergebrachten Denkroutinen und neuen Erfahrungen, die eine Veränderung erfordern. Kritisch denkende Menschen versuchen nicht einfach, Irritationen zu ummanteln und in das eigene Gedankengerüst zu integrieren, sondern sind bereit, sich selbst zu verändern.

Kritisches Denken benötigt aber auch einen normativen Rahmen, wie er durch die oben angezeigten Diskurse schon angesprochen wurde. Ein Leitmotiv kritischen Denkens sollte eine demokratische Orientierung darstellen und die Einbindung aller Menschen explizit einfordern. Es geht also nicht um das Erreichen persönlicher Vorteile, sondern um die Gestaltung einer Gesellschaft, die sich durch einen starken Zusammenhalt und Rücksichtnahme auszeichnet.

Wie kann man kritisches Denken lernen?

Gehen wir von solchen Zielsetzungen aus, dann stellt sich die Frage, wie Menschen zu kritischen Denkerinnen und Denkern werden können. Ein wichtiger Sozialisationsort hierfür ist die Schule. Hier können Angebote gezielt auf das Erlernen von kritischem Denken hin ausgerichtet werden. Die Schule kann kritisches Denken provozieren und dazu anleiten.

Der Amerikaner Robert Ennis unterscheidet in seinem Modell von 1989 vier Ansätze kritischen Denkens. Der allgemeine Ansatz (vgl. Ennis 1989) sieht kritisches Denken unabhängig von konkreten Fachgegenständen, wie sie sich etwa in den Schulfächern widerspiegeln. In diesem Sinne ist kritisches Denken eine logische Fähigkeit, vergleichbar mit einem Werkzeug zur Bearbeitung von Fragen und Problemen. Demgegenüber steht der integrativ-direkte Ansatz, in dem das Fach mit den jeweiligen Spezifika und Logiken selbst im Mittelpunkt steht. Ausgehend vom Fach werden „die Methoden und Prinzipien kritischen Denkens im jeweiligen Fachunterricht besprochen und dort anhand von fachbezogenen Beispielen“ (Jahn 2012, 126) bearbeitet. Hier findet also eine direkte Bezugnahme auf das kritische Denken statt. Der integrativ-indirekte Ansatz wiederum nutzt Aufgabenstellungen und Methoden, um kritisches Denken anzuregen. Zu guter Letzt lässt sich der kombinierende Ansatz beschreiben, der den allgemeinen Ansatz mit je einem der integrativen Formate verknüpft. Dieser beinhaltet zwei Schritte: Vorgelagert werden konkrete Übungen und Hinweise zum kritischen Denken, etwa spezielle Fragemethoden oder Strategien. Dann folgen Formate, mit denen kritisches Denken in den Unterrichtsfächern gefördert werden kann (vgl. Ennis 1989; Jahn 2012, vgl. auch Janke, Rott & Kohnen, 2024).

Einen anderen Zugang Marcus Kohnen und David Rott haben gewählt, um eine Systematisierung herzustellen. Im Sinne eines „Zwiebelmodells“ (Kohnen & Rott 2023) gehen sie davon aus, dass sich kritisches Denken in fachspezifischen, fachübergreifenden und außerfachlichen Settings anregen lässt. Dabei erscheint mit Blick auf die Schule die Umsetzung in einem spezifischen Unterrichtsfach am häufigsten. Je weiter der Kern eines Faches verlassen wird und je mehr Verbindungen zu anderen Formaten hergestellt werden, desto wahrscheinlicher ist es, eine größere Komplexität zu erreichen, mit der die Schülerinnen und Schüler zu kritischem Denken angeregt werden können.

Um Prozesse des kritischen Denkens anzustoßen, braucht es Irritationen von außen. Denn nur so lassen sich Gewohnheiten und Routinen aufbrechen. Diese werden schließlich von Menschen selbst nur selten als solche wahrgenommen. Ein Modus dieser Irritation kann in der schulischen Bildung mit forschendem Lernen beschrieben werden. Lernende nutzen die Grundhaltung, wie sie sich auch in der Wissenschaft findet: Sie stellen Dinge infrage, suchen nach Fragen, überlegen, wie sie zu einer guten Antwort kommen können, und gehen dabei systematisch und strukturiert vor. Routinen haben bei diesem Vorgehen nur wenig Platz. In diesem Modus werden Entscheidungen gründlich abgewogen.

Die Irritationen können sich aus unterschiedlichen Quellen speisen: Lehrpersonen können im Unterricht Fragen und Probleme aufwerfen und sich mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam auf die Suche nach stichhaltigen Lösungen machen. Sie können Lernende mit neuen Situationen oder Menschen konfrontieren, die das Gewohnte auf den Kopf stellen. Ein anderer Zugang kann über ästhetische Angebote erfolgen: Bücher, Filme, Theaterstücke, Bilder oder Fotografien. Es ist dabei der viel zitierte Blick über den eigenen Tellerrand, die Erweiterung des eigenen Horizonts, die mit dem kritischen Denken angesprochen ist. Die Lehrpersonen können solche Verschiebungen provozieren, indem sie geeignete Aufgaben oder Gegenstände in den Unterricht einbringen – oder den Schülerinnen und Schülern den Raum geben, ihre Lebenswelt mit offenen Augen zu betrachten.

Und wie können es alle Menschen lernen?

Ein Zugang, der mit dem kritischen Denken verbunden wird, sind die Critical Thinking Skills (vgl. Faccione 1990). Diese Skills können als eine Art Werkzeugkiste verstanden werden, mit der Menschen durch die Nutzung unterschiedlicher Strategien komplexen Fragen oder Problemen begegnen können. Hier geht es darum, Informationen verstehen, einordnen und auch prüfen zu können, oder auch um Fragen der Argumentationsfähigkeit.

Kritisch werden die Critical Thinking Skills dann gesehen, wenn zu vermuten ist, dass Probleme oder Fragen in der Schule durch diese Strategien in überschaubare Inhalte Stückchen geschnitten werden und die Komplexität der Fragen und Probleme dadurch verloren geht (vgl. Martens 1999). Wenn kritisches Denken gelernt werden soll, scheint es wichtig zu sein, dass Fragen und Probleme komplex bleiben. Denn so begegnen diese Aspekte auch den Schülerinnen und Schülern in ihrem Alltag.

Dabei sind Überforderungen zwar zu vermeiden, aber dennoch Herausforderungen zu stellen. Offene Fragen und Probleme bieten den Schülerinnen und Schülern durchaus die Möglichkeit, sich komplizierte Kontexte zu erschließen. Die großen Fragen können dann – wie mit einer Lupe – punktuell und in die Tiefe gehend betrachtet werden. Hier können Lehrpersonen die Lernenden unterstützen, dieses Hineinzoomen in komplexe Phänomene strukturiert anzugehen.

Die Schule hat die Chance, Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, diese komplexen Anliegen zu bewältigen. In der Schule können durch Hilfestellungen seitens der Lehrpersonen Scharfzeichnungen stattfinden. Zudem sind die Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt einem direkten Handlungs- oder Entscheidungsdruck unterworfen. Vielmehr können die Schule und der Unterricht ihnen einen Rahmen geben, in denen sich die Schülerinnen und Schüler ausprobieren können und auch Zeit haben, in den Austausch zu gehen.

Differenzsensibler Unterricht kann dabei besonders unterstützend sein, wenn es darum geht, Problemlösungen vielperspektivisch anzugehen. Die Schülerinnen und Schüler bringen eigene Fähigkeiten, Erfahrungen und Hintergründe ein, die eine Grundlage bieten, um sich einem Gegenstand zu nähern. Es ist gerade die Vielfalt der Argumente und Ideen, der Standpunkte und Erfahrungen, die den Austausch bereichern können. Denn wenn alle beteiligten Personen im Unterricht ernst genommen werden und eine Stimme bekommen, können alle den eigenen Standpunkt überdenken und die eigenen Überlegungen schärfen. Und dabei ist es nicht entscheidend, wer mehr weiß, wer vermeintlich klüger ist oder sich sprachlich besser ausdrücken kann.

In eigenen Studien (vgl. Kohnen und Rott 2023; Janke et al. 2023; Rott und Kohnen 2023) haben wir versucht, Materialien für die Schule zu entwickeln, mit denen sich kritisches Denken anregen lässt. Das Ziel ist, dass die Materialien so angelegt sind, dass sie potenziell für alle Lernenden entsprechende Anregungen bieten – egal, mit welchen Vorkenntnissen oder mit welchem Vorwissen die Schülerinnen und Schüler auf die Aufgaben treffen.

Ein erster Anknüpfungspunkt auf der Aufgabenebene sind Dilemmata – Probleme, die sich nicht eindeutig lösen lassen und die dazu auffordern, unterschiedlichen Positionen gerecht zu werden. Hierzu haben wir verschiedene Szenarien entwickelt und in unterschiedlichen schulischen Settings eingesetzt. Die Dilemmata betreffen etwa den Kauf eines Smartphones und die Frage, für welche Art Handy man sich entscheiden sollte (neu, gebraucht, fair produziert etc.) oder die Frage, ob in einer strukturschwachen Region seltene Metalle abgebaut werden sollten, und zwar auf Kosten einer seltenen Tierart, die durch den Abbau im Bestand bedroht wäre.

Die Aufgaben wurden im Laufe der Zeit so ausgestaltet, dass sie etwa auch in Leichter Sprache zur Verfügung stehen. Erprobt wurden die Aufgaben in Grundschulen, Förderschulen, einer inklusiven Sekundarschule und an Gymnasien. Somit wurden verschiedene Altersgruppen ebenso angesprochen wie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen, was etwa den Sprachgebrauch betrifft. In den schriftlichen Bearbeitungen und den Diskussionen zwischen den Schülerinnen und Schülern zeigt sich, dass die Dilemmata geeignet erscheinen, unterschiedliche Positionen hervorzubringen. Im Gespräch konnten die Schülerinnen und Schüler die unterschiedlichen Stellungnahmen mit der eigenen Perspektive vergleichen. Dabei wurde in den Klassen oder Gruppen nicht unbedingt die eine Lösung formuliert, die für alle galt. Aber im Sinne der Ambiguitätstoleranz war erkennbar, dass die Lernenden zunehmend bereit waren, die anderen Argumente wahrzunehmen und zu prüfen.

In einem zukünftigen Forschungsvorhaben sollen Schülerinnen und Schüler perspektivisch selbst mit eingebunden werden, um entsprechende Aufgabenformate zu entwickeln. Hierfür soll vornehmlich mit Schülerinnen und Schülern der ersten Klassen gearbeitet werden, um deren Lebenswelt aufnehmen und in die Aufgaben integrieren zu können. Wir gehen davon aus, dass Schülerinnen und Schüler sehr wohl wahrnehmen und beschreiben können, welche fundamentalen Fragen und Probleme sich in ihrem Umfeld stellen. In dem partizipativen Projekt sollen die Schülerinnen und Schüler ausgehend von ihren Wahrnehmungen Aufgaben entwickeln, die sie dann anderen Schülerinnen und Schülern vorstellen. Hiermit ist die Idee verbunden, dass sie sich stark in andere Menschen hineinversetzen müssen, also ihre Empathiefähigkeit weiterentwickeln können, und vor allem auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auf eine Weise ansprechen, wie es den Erwachsenen oftmals schwerfällt. 

Literatur

Facione, P. (1990): Critical thinking: a statement of expert consensus for purposes of educational assessment and instruction. Millbrae: California Academic Press.

Horkheimer, M. (2020): Traditionelle und kritische Theorie. Ditzingen: Reclam.

Jahn, D. (2012). Kritisches Denken fördern können – Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals. Herzogenrath: Shaker.

Kohnen, M. & Rott, D. (2021): Critical Thinking: Teachers Perspectives, its Meaning for School and their Assessment of Students. Conference Paper EERA 2021. https://eera-ecer.de/ecer-programmes/conference/26/contribution/51215/

Kohnen, M. & Rott, D. (2022): Critical Thinking in Science – Teachers Perspectives. In: Carvalho, G. S., Afonso, A. S. & Anastácio, Z. (Hrsg.): Fostering scientific citizenship in an uncertain world (Proceedings of ESERA 2021), S. 555–561. Braga: CIEC, University of Minho. Online unter https://drive.google.com/file/d/183GuTjwOOxSQqXpf0MjXJrZCcO6TOKdL/view

Kohnen, M. & Rott, D. (2023): Kritisches Denken lehren und lernen. Schulische Partizipation und Teilhabe aller Schüler*innen in der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Gemeinsam leben (2), 118–125. DOI: 10.3262/GL2302118

Janke, S., Rott, D. & Kohnen, M. (2023): Kritisches Denken aus der Perspektive von Lehrkräften. Eine explorative Fragebogenstudie. In: Fischer, C., Fischer-Ontrup, C., Käpnick, F., Neuber, N. & Reintjes, C. (Hrsg.): Potenziale erkennen – Talente entwickeln – Bildung nachhaltig gestalten. Münster: Waxmann. 225–234

Martens, E. (1999). Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart: Reclam.

Pfister, J. (2020): Kritisches Denken. Ditzingen: Reclam.

Rott, D. & Kohnen, M. (2023): Kritisches Denken lehren: Inklusionsorientierte Konzeption von Lernarchitekturen und Aufgabenformaten. Qualifikation für Inklusion. Online-Zeitschrift zur Forschung über Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. DOI: 10.21248/QfI.102

Kontaktdaten der Autoren:

david.rott@uni-muenster.de

m.kohnen@uni-muenster.de