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"Ich finde das nicht normal, dass ich nichts kriege, das ist nicht in Ordnung."
Zu den Zusammenhängen von Beschäftigung, Behinderung und Armut
„Man muss halt wirklich schauen, wenn man sich ein Leiberl kauft, dass es im Abverkauf ist. Also maximal fünf oder eventuell vielleicht sieben oder zehn Euro“ koste, erzählt Anna Fischer1. Marlene Mahler würde gerne mit Freundinnen ins Kino gehen, hat dazu aber kein Geld und führt weiter aus, dass sie am nächsten Tag zwar noch telefonieren könne, aber „dann am Freitag nicht mehr, dann ist aus“. Beide sind Frauen mit Lernschwierigkeiten, arbeiten in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung und waren Interviewpartnerinnen in einem partizipativen Forschungsprojekt (vgl. Sigot 2017).
Die Mehrzahl von Menschen mit Behinderungen lebt in Armut (vgl. Salzburger Monitoringausschuss 2012). Weltweit ist etwa jede fünfte Person, die in Armut lebt, auch von einer Behinderung betroffen.2 In einigen Ländern ist dieser Anteil sogar doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderungen.3 Armut hat dabei viele Gesichter und Auswirkungen.
„Ich finde das nicht normal, dass ich nichts kriege, das ist nicht in Ordnung“, sagt Jessica Singer, eine junge Frau mit Lernschwierigkeiten, die in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen arbeitet und dafür lediglich ein kleines „Taschengeld“ erhält. Es sind vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten, die vom ersten Arbeitsmarkt oft ausgeschlossen sind und deshalb keiner existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachgehen können. Die Beratungsstelle Wibs (Wir informieren beraten bestimmen selbst) in Tirol schreibt in einer Stellungnahme, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nur schwer Arbeit finden, und fordert „richtige Arbeit und richtiges Geld“ als Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben!4
Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten, sind nicht selbst krankenversichert und haben keinen Pensionsanspruch. Dies wird von Selbstvertretungsbewegungen und Initiativen wie Wibs zwar schon lange kritisiert, geändert hat sich aber kaum etwas – auch nicht seit der Ratifizierung der UN-BRK durch Österreich im Jahr 2008. Im Gegenteil: Laut dem Monitoringausschuss, der die Umsetzung der BRK in Österreich überwacht, hat sich die Zahl der Menschen in Werkstätten seit 2013 erheblich erhöht.5
Wie andere Frauen berichtet auch Sonja Baier im Interview, dass sie hin und wieder „von den Eltern noch was zugesteckt“ bekomme. Auch für Anna Fischer ist dieses „Zustecken“ üblich, stattdessen wünscht sie sich aber einen normalen Lohn. Mit den eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten gehen, wie die Ausführungen zeigen, eingeschränkte Möglichkeiten der Partizipation, Abhängigkeit und fehlende Selbstbestimmung einher. Die Auszahlung von „Taschengeld“ und das „Zustecken“ von Geld verweist auf nicht altersgemäße, hierarchische Beziehungsstrukturen, in denen sich viele Menschen mit Lernschwierigkeiten vor allem auch aufgrund eines Mangels an selbst gewählter Assistenz befinden. Insbesondere wenn man, aufgrund mangelnder existenzsichernder Erwerbstätigkeit, auch im Erwachsenenalter noch materiell von den Eltern abhängig ist, ist die Beziehungsstruktur selbst von einem Ungleichgewicht geprägt. Dies kann sich auf das Selbstbild und die Handlungsspielräume der betroffenen Menschen auswirken, wie das Forschungsprojekt feststellte (vgl. Sigot 2017, 224 ff.).
Gehalt als Basis für Selbstbestimmung
Wie sehr finanzielle Unabhängigkeit die Basis für Selbstbestimmung und Teilhabemöglichkeiten darstellt, zeigt sich am Interview mit Eva Moser, einer jungen Frau mit Lernschwierigkeiten. Sie hat es mit Unterstützung geschafft, aus der Werkstätte in ein Arbeitsverhältnis mit Lohn anstelle von Taschengeld zu kommen. Für sie wird dadurch möglich, was für Frau Fischer und Frau Mahler nicht möglich ist: „Du kannst dein eigenes Leben finanzieren, du kannst dir deine Wünsche erfüllen, du bist ein ganz normaler Teil der Gesellschaft, du erwirtschaftest dein Leben sogar, du gehst sogar einkaufen, du zahlst deine Arztrechnungen, deine Telefonrechnungen, alles, egal in welcher Hinsicht, Job, Privatleben, finanzielle Dinge, man ist für sein Leben komplett selber verantwortlich.“
Mosers Situation ist nicht typisch für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die meisten erleben Armut als allgegenwärtige Barriere. Oft fehlen grundlegende finanzielle Ressourcen für gesellschaftliche Teilhabe. Dazu zählt laut UN-BRK auch die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen darüber, wo und mit wem sie leben. Für ein selbstbestimmtes Leben bedarf es umfassender De-Institutionalisierungsprozesse, oder genauer: bedarfsgerechter und flexibler Assistenz in den Bereichen Arbeit und Freizeit anstelle von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Wie jedoch der UN-Ausschuss anlässlich der im August 2023 stattgefundenen Staatenprüfung bezüglich der Umsetzung der UN-BRK kritisierte, erfolgen Anstrengungen zur De-Institutionalisierung in Österreich sehr unkoordiniert und unzufriedenstellend (vgl. Vereinte Nationen 2023). Anstatt De-Institutionalisierung zu forcieren, ist die Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen als billige Arbeitskräfte in vielen Einrichtungen nach wie vor gängige Praxis, indem diese, quasi als Systemerhalter:innen, wertvolle Arbeit als Küchen- und Reinigungsgehilf:innen leisten und dafür lediglich 30 bis 50 Euro monatlich als Taschengeld bekommen. Eine sozialversicherungsrechtliche Anstellung würde, wie auch der Ausschuss der Vereinten Nationen in seinen Empfehlungen für Österreich anführt, hingegen eine wirksame Maßnahme zur Beseitigung der Armut von Menschen mit Behinderungen darstellen.
Ganzheitlich gedacht, braucht es für mehr Chancen am Arbeitsmarkt vor allem eine konsequente Umsetzung inklusiver Bildung. Diesbezüglich hat Österreich laut UN-Ausschuss nicht nur großen Aufholbedarf – es wurden sogar Rückschritte verzeichnet. Das in Österreich weiterhin segregierende Schulsystem bereitet behinderte Schüler:innen kaum auf ein selbstbestimmtes Leben vor, sondern ebnet häufig einen Lebensweg in von Fremdbestimmung geprägten Einrichtungen. Die bekannte deutsche Rechtswissenschaftlerin, Aktivistin und Wegbereiterin der UN-BRK Theresia Degener übt an Segregation im Bildungssystem deutliche Kritik und betont: „Aus Sonderschulen kommt man behinderter raus, als man hineingeht.“6
Zur Verhinderung oder zumindest Minderung der Armut von Menschen mit Behinderungen können also ernst gemeinte Anstrengungen zur De-Institutionalisierung sowie Inklusion im Bildungswesen beitragen. Dies wird auch im Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderungen in Österreich aus dem Jahr 2016 festgehalten (vgl. BMASK 2017, 135). Die Armutsbekämpfung müsse sich ganz wesentlich auf Menschen mit Behinderungen konzentrieren, und deren Möglichkeiten am Arbeitsmarkt müssten verbessert werden. Nachhaltige Strategien gegen Armut von Menschen mit Behinderung, die viele Gesichter hat – wie unter anderem aus der hier zitierten partizipativen Forschung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten deutlich wird –, müssen dringend umgesetzt werden.
Literatur:
BMASK (2017): Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderung in Österreich. Wien: BMASK.
Monitoringausschuss: Bericht des unabhängigen und weisungsfreien Monitoringausschusses zur Umsetzung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen an das Komitee zur Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Vorbereitung auf den Dialog über den Ersten Staatenbericht Österreichs im September 2013.
Monitoringausschuss (2022): Stellungnahme zum Nationalen Aktionsplan „Behinderung“ 2022–2030.
Salzburger Monitoringausschuss. Armut und Behinderung. Online verfügbar unter: https://www.monitoringausschuss.at/wp-content/uploads/download/stellungnahmen/armut/MA_SN_armut_2012_08_01_LL.pdf
Sigot, M. (2017): Junge Frauen mit Lernschwierigkeiten zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Opladen: Budrich. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.25656/01:15833
Vereinte Nationen (2023): Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten Bericht Österreichs. Online verfügbar unter: https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:a0700fa3-63ae-444f-962c-11edf3360bf5/UN-BRK_Abschlie%C3%9Fende_Bemerkungen_2023.pdf
Autor:in:
Ernst Kočnik, Beratungs-, Mobilitäts- und Kompetenzzentrum und Arbeitsbereich Sozialpädagogik und Inklusionsforschung, Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt
Kontakt: ernst.kocnik@aau.at
Foto: privat
Dr.in Rahel More, Projektleitung: Ableism, the dis/ability binary and beyond, Universität Wien, Institut für Bildungswissenschaft
rahel.more@univie.ac.at
Foto: derknopfdruecker.com
Dr.in Marion Sigot, Arbeitsbereich Sozialpädagogik und Inklusionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt
Kontakt: marion.sigot@aau.at
Foto: privat
Fußnoten:
1
Alle im Text angeführten Frauen mit Lernschwierigkeiten wurden durch Pseudonyme anonymisiert.
2
http://www.entwicklung.at/uploads/media/Fokus_Behinderung_Mai2011_02.pdf
3
https://www.behindertenrat.at/2023/10/welternaehrungstag/
4
https://www.wibs-tirol.at/wp-content/uploads/2020/07/Stellungnahme-Richtiges-Geld-2018-mit-Bilder.pdf
5
Siehe Stellungnahme des Monitoringausschusses zum Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022–2030, Mai 2022.
6
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/radikal-normal-8471218.html