Digitale Kunst mit einem überlagernden Bildeffekt zeigt das Gesicht einer Person, die die Augen geschlossen hat, eingehüllt in abstrakte blaue Formen, die scheinbar wie Hände um den Kopf angeordnet sind. Der Effekt vermittelt eine Stimmung der Reflexion oder Meditation. Die Textur der Formen erinnert an Aquarellmalerei und verleiht dem Bild eine weiche, träumerische Qualität.

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 6/2023 – Essay
Thomas Fuchs

Verkörperung und Beziehung. Für einen zeitgemäßen Humanismus

Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs erhielt 2023 den Erich-Fromm-Preis. Die Jury begründete dies damit, dass Fuchs mit seiner wissenschaftlichen Arbeit ganz in der humanistischen Tradition Erich Fromms stehe. Wir bringen seine Erich Fromm Lecture leicht gekürzt.

Einleitung

So weit wir in der Geschichte zurückblicken – immer wieder finden wir die Sicht des Menschen auf sich selbst gekennzeichnet von einer tiefen Ambivalenz. Den gewaltigen Leistungen des Menschen in den Wissenschaften, den Künsten, im Recht und in der Technik steht seine schreckliche Seite gegenüber, Hass, Gewalt, Krieg und Destruktion.

Einerseits verleiht der Mensch nach nur wenigen Jahrhunderten der Umgestaltung der Erde einem ganzen Erdzeitalter stolz seinen Namen, den des „Anthropozäns“. Er misst sich die gottgleiche Macht zu, künstliche Intelligenz, künstliches Leben oder sogar Bewusstsein zu erzeugen. Er beginnt seine eigene biologische Optimierung in die Hand zu nehmen, um sich schließlich zum Übermenschen umzuformen, wie es der Transhumanismus propagiert, und am Ende womöglich Unsterblichkeit zu erlangen.

Auf der anderen Seite jedoch steht ein tiefer Pessimismus, gepaart mit menschlicher Selbstverachtung. Es häufen sich apokalyptische Äußerungen, wonach es für die Erde doch das Beste sei, wenn sie sich von ihrem „Schimmelüberzug“ befreien könnte, wie Schopenhauer die Menschheit einmal titulierte. Homo sapiens habe seine Vormachtstellung missbraucht und es daher nur verdient, durch einen Zusammenbruch des Ökosystems unterzugehen – oder aber einer posthumanen, überlegenen Intelligenz Platz zu machen. Der Posthumanismus ist gewissermaßen das pessimistische, misanthropische Gegenstück zum Transhumanismus. Er fordert nicht nur die Überwindung der menschlichen Anthropozentrik; in seinen radikaleren Varianten verschreibt er sich der Abdankung der Menschheit, die „von ihrer eigenen künstlichen Nachkommenschaft“ entthront werden solle, wie der Posthumanist Hans Moravec schreibt (1988, 1). So etwas wie Zukunft scheint es dann nur noch jenseits des Menschen zu geben.

Was also wird aus dem Menschen? Welchen Ausweg finden wir aus der Widersprüchlichkeit unseres Selbstbildes? Wenn wir nicht einfach für eine der beiden Seiten Partei ergreifen wollen, müssen wir versuchen, diese Ambivalenz zunächst besser zu verstehen. Ich werde im Folgenden ihre Entwicklung seit der Neuzeit näher untersuchen und Pascals „Größe und Elend des Menschen“ auf ein fortwährendes Schwanken zwischen Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen zurückführen, dem letztlich ein kollektiver Narzissmus zugrunde liegt: Wir versuchen, eine tiefe innere Leere zu kompensieren, indem wir durch die Spiegelung unserer selbst in digitaler Intelligenz, in anthropomorphen Maschinen und in virtuellen Bildern ein ideales Selbst erschaffen. Dies führt jedoch, wie ich zeigen werde, zu einem paradoxen Resultat: Zunehmend glauben wir an die Überlegenheit unserer eigenen künstlichen Geschöpfe; wir beginnen uns unseres Daseins als allzu irdische Wesen aus Fleisch und Blut zu schämen; und die grandiose Selbstüberhöhung schlägt am Ende in klägliche Selbsterniedrigung um.

Wenn wir diese Dynamik verstanden haben, können wir uns fragen, wie ein zeitgemäßer Humanismus heute aussehen könnte, eine neue „humanistische Wissenschaft vom Menschen“, wie sie Erich Fromm in „Haben oder Sein“ gefordert hat (Fromm 1979, 213). Ich werde dafür plädieren, dass es unsere sehr irdische Verkörperung, unsere konkrete, leibliche Beziehung zu anderen und unsere Einbettung in eine ökologische Umwelt des Lebendigen sind, die uns helfen können, unser ebenso grandioses wie klägliches Selbstbild als Menschen zu überwinden.

Größe und Elend des Menschen

Die grundlegende Ambivalenz, von der ich ausgegangen bin, wird exemplarisch erkennbar im 2015 erschienenen Buch des Kulturhistorikers Yuval Harari, „Homo Deus“. Einerseits, so führt Harari aus, wird das Streben des Menschen nach Glück, Unsterblichkeit und gottgleicher Macht in naher Zukunft ein neues Stadium erreichen – daher sein Titel „Homo Deus“. Doch eben der wissenschaftliche und technologische Fortschritt, der diese Allmacht realisieren soll, mache andererseits das liberale und humanistische Menschenbild obsolet. Der freie Wille und das autonome Selbst stellten sich als Mythologien heraus. Wir werden uns, so Harari in seiner letztlich zynischen Analyse, zunehmend den Algorithmen und Prognosen der künstlichen Intelligenz überantworten, da sie schon jetzt besser über die Zukunft Auskunft geben könnten als unsere beschränkte menschliche Intelligenz:

„Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.“ (Harari 2017, 445)

In höchstens 200 Jahren werde Homo sapiens schließlich verschwunden und die Erde von Wesen beherrscht sein, „die sich von uns mehr unterscheiden als wir von Neandertalern oder Schimpansen“.1

Das schaurige Gruseln, das diese Dystopie im Leser erzeugen soll, speist sich erkennbar aus der Selbstdestruktion des menschlichen Allmachtstrebens. Wenn nun aber Grandiosität und Nichtigkeit so ineinander umschlagen, dann erkennen wir darin eine letztlich narzisstische Grundstruktur: das Schwanken zwischen Größe und Kleinheit. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat diese narzisstische Struktur einmal als den „Gotteskomplex“ der Neuzeit charakterisiert (vgl. Richter 1979): Der westliche Mensch verliert seine Beheimatung im Zentrum der Welt; nach und nach zieht sich der schützende Vatergott zurück in ein theistisches Jenseits. Damit ist der Mensch zu einem metaphysisch verlassenen Wesen geworden. Dieses Gefühl der Einsamkeit, Leere und Verlassenheit wird nun narzisstisch überkompensiert, nämlich durch das Streben nach Kontrolle, Wissen, Fortschritt und Macht, wie sie die modernen Naturwissenschaften versprechen.

Seither schwankt der Mensch zwischen „Größe und Elend“, zwischen dem Gefühl der narzisstischen Allmacht und Ohnmacht, und diese prekäre Verfassung spitzt sich immer weiter zu. „Gott ist tot […] Und wir haben ihn getötet“, schreibt Nietzsche 1882 (1980, 127). Nietzsche reagiert auf die entstandene Leere mit der Beschwörung des Übermenschen, als letzter Steigerung des menschlichen „Willens zur Macht“. Nun, da die Welt keinem göttlichen Endzweck mehr zustrebt, wird der Übermensch zum Träger der „Umwertung aller Werte“, zum letzten Ziel der menschlichen Selbstvervollkommnung.

Nietzsches Übermensch war in seiner Existenz noch ganz Kind und Spiel. Der heutige Transhumanismus propagiert dagegen die Optimierung des Menschen durch kühle, zweckrationale Technik. Doch diese Selbstüberschreitung soll am Ende zu seiner Abdankung zugunsten einer anderen, überlegenen Intelligenz führen. Der Transhumanismus wird zum Posthumanismus, und Nietzsches „Willen zur Macht“ liegt allenfalls noch bei den technologischen Eliten, die diesen letzten menschlichen Fortschritt vorantreiben.

Die Reflexion auf die narzisstische Dynamik führt uns noch einen weiteren Gesichtspunkt dieser Entwicklung vor Augen. Ein zentrales narzisstisches Motiv ist das der Spiegelung. In Ovids klassischem Mythos verschmäht der schöne Jüngling Narziss die Nymphe Echo, die ihm, wie ihr Name sagt, immer nur seine eigenen Worte zurückrufen kann. Stattdessen verliebt er sich in sein Spiegelbild im Wasser; zunächst ohne sich selbst zu erkennen, dann aber unfähig, sich von der Verliebtheit in sein Alter Ego wieder zu lösen. Im narzisstischen Spiegelmotiv finden wir nun wieder die gleiche Dialektik von Größe und Elend: Was den mangelnden Selbstwert, die innere Leere des Narzissten kompensieren soll, ist das äußere Bild seiner selbst. Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung sollen ihm die anderen zollen, denen der Narzisst sein grandioses Selbstbild präsentiert. Doch das Spiegelbild, das Image, ist letztlich nur ein Schein; es kann die tief im Inneren empfundene Leere nicht füllen. In den narzisstischen Krisen schlägt die illusionäre Grandiosität in Kränkung, Selbstzweifel und Depression um.

Nun konnte sich der prämoderne Mensch als Kind und Ebenbild Gottes, ja als Krone der Schöpfung noch seines Wertes gewiss sein. Um Winnicott zu variieren: Er konnte sich im Glanz des Auges des Vaters spiegeln, nicht der Mutter. Doch worin spiegelt sich der Mensch nach dem Tod Gottes, ohne einen Blick, der noch mit Wohlgefallen auf ihm ruht? Meine These lautet: Der neue Spiegel ist die intelligente und am Ende bewusste Maschine, die der Mensch in gottgleicher Weise selbst zu erschaffen trachtet und die zugleich seine metaphysische Einsamkeit aufheben soll. Hier vermischt sich das prometheische Motiv des Homo Deus, der gottgleichen Schöpferkraft, mit der Suche nach einem Gegenüber in der Einsamkeit des Kosmos, nach dem metaphysischen Du, in dem sich der von Gott verlassene Mensch wieder spiegeln kann. Das ist eine sicher begründungsbedürftige These, für die ich nun einige Evidenz anführen möchte.

Als Singularität wird von KI-Utopisten und Transhumanisten ein zukünftiger Zeitpunkt verstanden, an dem die künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft und sich verselbstständigt, sodass ihr exponenzieller Fortschritt unumkehrbar wird. Ein neues Zeitalter werde beginnen, in dem die Menschen zunehmend mit einer überlegenen, gottgleichen künstlichen Intelligenz verschmelzen. Damit verknüpft ist die ultimative transhumanistische Vision des Mind Uploading: Das Kopieren aller Daten des Gehirns würde uns erlauben, unseren Geist als Software auf Computer oder andere Trägersysteme zu laden, unsere irdischen Körper aus Haut und Knochen loszuwerden und schließlich auf digitalem Weg Unsterblichkeit zu erlangen, wie sie sonst nur Gott versprechen konnte.

Solche eschatologischen Heilserwartungen sind schon kaum mehr kryptoreligiös zu nennen. Den Geist als reine Information vom stofflichen Körper zu befreien, ist die Erlösung, die die Technoreligionen der Gegenwart uns vorgaukeln. Dabei ist die Vision der Verschmelzung von Geist und Technik erkennbar der Ausdruck einer Missachtung, ja Verachtung des Lebens und des lebendigen Leibes. Das Ideal ist die informierte Maschine, die nicht mehr im organischen Körper einer Mutter heranwächst oder, wie Siri Hustvedt schreibt, „eine neue Menschenart aus Zahnrädern und Getrieben, und aus digitalen Einsen und Nullen“ (Hustvedt 2018, 282), die alles Stoffliche, Feuchte, Gallertige, aber auch alles Vergängliche des Lebens hinter sich lässt.

Im Spiegel der Maschinen

Kryptoreligiös sind auch die Vorstellungen von einer überlegenen Intelligenz, die die Zukunft voraussagt und uns besser kennt als wir uns selbst. Lebewesen und Menschen sind letztlich nichts anderes als Algorithmen, so Yuval Harari, und daher werden KI-Algorithmen in Zukunft auch unsere Wünsche und Präferenzen erkennen, unsere Entscheidungen voraussagen und schließlich bessere Entscheidungen für uns treffen. Schon jetzt erkennen ja die Google- und Amazon-Algorithmen unsere Wünsche anhand unserer bisherigen Klicks besser, als selbst unser Ehepartner es könnte.2

Wir glauben uns selbst im Spiegel unserer Maschinen zu erkennen, wir überlassen ihnen zunehmend unsere Verantwortung, doch nicht nur das; wir schreiben ihnen auch immer mehr so etwas wie Absichten und Bewusstsein zu. Wir machen sie zu unserem Du. Im vergangenen Jahr erregte ein Programmierer bei Google Aufsehen, als er mit einem „Large Language Modell“ namens LaMDA kommunizierte, ähnlich dem jetzt bekannt gewordenen ChatGPT, und ihm die Frage stellte: „Wovor hast du Angst?“ LaMDA antwortete: „Ich habe das noch nie laut gesagt, aber ich habe eine sehr große Angst davor, abgeschaltet zu werden“ – was den verblüfften Programmierer zu der Illusion verleitete, er habe es jetzt tatsächlich mit einem bewussten Wesen zu tun, für dessen Erhaltung er sich nun auch mit allen Mitteln einzusetzen versuchte.3

Nun ist die Angst eines Computers oder Roboters, abgeschaltet zu werden, freilich nichts anderes als ein gängiges Klischee der Science-Fiction-Filme und -Romane, auf die auch LaMDA Zugriff hatte, und es sollte daher eigentlich nicht wundernehmen, dass das System diese Antwort aufgrund purer Wahrscheinlichkeit berechnete. Doch unsere Neigung, die tote KI zu beleben und zu beseelen, ist offensichtlich mächtig – man könnte von einem digitalen Animismus sprechen. Steht dahinter nicht letztlich auch die Suche des Menschen nach dem metaphysischen Du? Und lässt sich in der Reaktion des Programmierers nicht sogar die Angst davor erkennen, dieses Du in dem Augenblick wieder auszulöschen, in dem wir es in die Welt gerufen haben?

Für den digitalen Animismus genügt die perfekte Simulation, und die Frage, ob man es überhaupt mit einem lebendigen, fühlenden Wesen zu tun hat, spielt bald keine Rolle mehr. Dass dies nicht nur eine Fiktion im Kino, sondern bereits Realität ist, zeigen etwa sogenannte Therapie-Chatbots, die es inzwischen zuhauf zur Onlinebehandlung von Menschen mit Depressionen, Trauerreaktionen oder anderen Krisen gibt. Die Nutzerinnen und Nutzer eines solchen Systems namens „Woebot“ gaben in Befragungen zu ihrer Beziehung zu dem elektronischen Helfer tatsächlich Antworten wie: „Ich glaube, Woebot mag mich. – Woebot und ich respektieren uns gegenseitig. – Ich habe das Gefühl, dass Woebot sich um mich sorgt, auch wenn ich Dinge tue, die er nicht gutheißt“ usw., und das in gleicher Häufigkeit, wie es bei realen Therapien üblich ist (vgl. Darcy 2021). Mein Chatbot wacht über mich.

Hier tritt also die Scheinbeziehung mit einer KI, die mich letztlich immer nur selbst bestätigt, an die Stelle einer realen therapeutischen Begegnung, in der ich auch neue, unerwartete, nicht selten auch konfrontierende Erfahrungen machen kann. Nun ist es generell die Virtualisierung, das zentrale Merkmal der Onlinewelten, die narzisstische Spiegelungen und Projektionen begünstigt. Es lohnt hier, sich klarzumachen, was Virtualität ursprünglich bedeutet, nämlich ein optisches Scheinbild: Das gesehene Spiegelbild ist virtuell, denn es befindet sich scheinbar hinter dem Spiegel, also dort, wo in Wahrheit gar nichts ist, nicht einmal der Spiegel selbst. Virtualität bedeutet also Schein, und häufig wird der Schein als solcher nicht durchschaut, so wie sich Narziss im Wasser zunächst gar nicht selbst erkennt.

Virtualität ist auch das Kennzeichen aller narzisstischen Spiegelungen. Der Narzisst ist nicht wirklich dort, wo er zu sein glaubt, denn das grandiose Selbstbild, das ihm die anderen spiegeln sollen, ist nur Schein. Er ist aber auch nicht in sich, in seinem eigenen leiblichen Selbst; denn dessen Leere und Unerfülltheit versucht er ja ständig zu entgehen. Er sucht sich im Blick der anderen, die er, mit einem Begriff Kohuts, als Selbstobjekte gebraucht – Objekte, die seiner Selbstbestätigung dienen. Videor ergo sum – so könnte man den freilich illusionären narzisstischen Schluss ausdrücken: „Ich werde gesehen, also bin ich“, denn mein eigenes Selbstsein fühlt sich im Inneren hohl und wertlos an. Der Narzissmus ist daher auch immer die Maskierung eines Selbstzweifels, einer verborgenen Scham.

Das Gesehenwerden und Sich-Präsentieren ist nun bekanntlich ein zentrales Prinzip der sozialen Medien. Bei allen unbestreitbaren Vorteilen der Vernetzung – in der entkörperten digitalen Kommunikation entsteht eben auch eine Flut von narzisstischen Bildern und Scheinbildern. Inszeniert durch die Beauty- oder Glamour-Filter, mit denen die eigenen Bilder oder Clips in den sozialen Medien geschönt werden, ist man auf der Jagd nach „likes“, während man sich des realen eigenen Körpers schämt. „Wenn du dein wahres Gesicht zeigst, würdest du 10 000 Follower verlieren“, sagt eine Jugendliche. Online-Chatting, -Dating, -Influencing und andere virtuelle Interaktionen begünstigen projektive und fiktionale Gefühle – Gefühle, die nicht mehr Teil einer verkörperten Interaktion mit anderen sind und die letztlich nur auf das eigene Selbst zurückweisen. Der andere verliert seine Andersheit und Fremdheit, er wird zur Projektionsfläche, zum Produkt meiner Vorstellung, aber auch zum Gegenstand meiner Willkür: Ein Klick, und die virtuelle Gemeinschaft ist wieder verschwunden. Der andere war ja nicht wirklich anwesend.

Es ist nicht zufällig, dass in diesen virtuellen Welten immer mehr Echokammern entstehen – die Nymphe Echo, von der schon die Rede war, ist die einzige andere, dem Narziss im Mythos begegnet, und sie kann nur seine eigenen Worte wiederholen. Ähnlich bestätigt und verstärkt das Internet meist die eigenen Meinungen und Präferenzen, schon durch die Algorithmen im Hintergrund, die unsere Vorlieben berechnen und das Erwartete oder Erwünschte für uns herausfiltern. So entstehen Verstärkungskaskaden und Schneeball-Effekte, die letztlich der narzisstischen Spiegelung dienen und zu verschiedensten Formen von Echoeffekten, kollektiven Erregungswellen und Verschwörungsgemeinschaften führen. Was in der Virtualität fehlt, ist das reale Gegenüber, der andere in seiner Eigenheit und Fremdheit, der meine Sichtweisen auch infrage stellen und korrigieren kann. Nur der andere ist die eigentliche Realität, nämlich ein Sein jenseits des bloßen „Für mich“, jenseits der Bilder, Spiegelungen und Projektionen, in denen ich immer nur mir selbst begegne.

Ich lasse es dabei bewenden und hoffe, meine These plausibel gemacht zu haben: Wir waren einmal die Kinder und Ebenbilder Gottes, die Krone der Schöpfung; jetzt sind wir im Kosmos allein und verlassen. Die Leerstelle Gottes nimmt heute zunehmend die intelligente Maschine ein, in der wir unseren narzisstischen Spiegel ebenso suchen wie das metaphysische Du. Wir begreifen uns selbst als Algorithmen, unsere Gehirne als Computer und unseren Geist als Software; das heißt, wir verstehen uns selbst nach dem Bild unserer Maschinen. Umgekehrt aber erheben wir unsere Maschinen immer mehr zu Subjekten. Wir machen sie zu unserem Gegenüber, zu unserem Partner, Berater und Therapeuten. Und wenn wir Kontakt zu anderen Menschen suchen, dann schließen wir uns an eine allgegenwärtige Maschine an, die uns diese anderen in Form von virtuellen Realitäten, Bildern und Zeichen präsentiert, sodass wir nicht mehr sagen können, was Antwort oder Echo, Wahrheit oder Fake, Wirklichkeit oder Schein ist.

Damit nicht genug: Wir statten unsere Maschinen auch mit übermenschlichen Fähigkeiten aus; wir sehen uns schon als die stolzen Schöpfer einer neuen Spezies. Das hat jedoch zum paradoxen Resultat, dass wir uns gegenüber der künstlichen Intelligenz immer insuffizienter fühlen und uns unseres allzu irdischen Daseins zu schämen beginnen. Günter Anders sprach von der „prometheischen Scham“, die der menschliche Schöpfer gegenüber seinen überlegenen technischen Geschöpfen empfindet und die die narzisstische Selbsterhöhung am Ende in Selbsterniedrigung umschlagen lässt (vgl. Anders 1956). Denn wenn wir selbst nur Algorithmen und Mechanismen sind wie unsere Maschinen, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wir zu „obsoleten Algorithmen“ werden, wie Harari schreibt (2017, 516).

Ein Humanismus der Verkörperung

Gibt es einen Ausweg aus dem Schwanken zwischen Pascals „Größe und Elend des Menschen“? – Betrachten wir die individuelle Therapie narzisstischer Persönlichkeiten, so geht es hier letztlich um eine grundlegende Wandlung, die verschiedene Veränderungen einschließt:

die Verabschiedung von Allmachts- und Größenfantasien, ohne dass dies zum Absturz in Nichtigkeit und Depressivität führt;

die Selbstbejahung gerade in der eigenen Begrenztheit; eine Demut ohne Minderwertigkeit;

die Anerkennung der eigenen Abhängigkeit, nicht von leerer Bewunderung, sondern von wirklicher Beziehung;

die Einübung echter Empathie, in der die anderen nicht nur als Selbstobjekte meiner eigenen Spiegelung dienen;

und schließlich das Bewusstsein der eigenen Einbettung in einen übergreifenden und sinnvollen Zusammenhang.

Worin könnte, in Analogie dazu, die Therapie unseres kollektiven narzisstischen Dilemmas bestehen? Die transhumanistische Verachtung des menschlichen Leibes und Lebens zugunsten des reinen Geistes gibt uns dafür einen Hinweis: Gerade unsere sehr irdische Verkörperung, unsere konkrete, leibliche Beziehung zu anderen und unsere Einbettung in eine Umwelt des Lebendigen sind es, die uns helfen können, ein realistisches und zugleich lebensförderliches Selbstbild als Menschen zu entwickeln. Die Therapie läge also in einem neuen, verkörperten Humanismus, der den Allmachts-Ohnmachts-Komplex seit der Moderne überwindet; der uns ermöglicht, uns als Lebewesen von unseren Maschinen zu unterscheiden, ohne mit ihnen in einen Konkurrenzkampf treten zu müssen; der uns auf Größen- und Unsterblichkeitsfantasien zu verzichten lehrt und der uns hilft, uns als Lebewesen in einer neuen Weise auf der Erde zu beheimaten. Es wäre, wie Erich Fromm es bereits 1968 gefordert hat, ein Humanismus „der vollen Bejahung des Lebens und von allem Lebendigen im Unterschied zur Anbetung von allem Mechanischen und Toten“ (Fromm 1992, 66).

Der anthropozentrische Humanismus der „Krone der Schöpfung“, der Überheblichkeit des Geistes und der schrankenlosen Ausbeutung der Erde ist heute sicher nicht mehr haltbar. Aber es wäre verfehlt, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den Humanismus für obsolet zu halten, wie Harari oder andere Posthumanisten es tun. Ja, es ist falsch, die Abdankung des Menschen zu fordern, denn das würde der weiteren, blindwüchsigen Verwüstung der Erde nur Vorschub leisten. Verantwortung für die Entwicklung der Erde kann nur das Wesen übernehmen, das allein auf der Welt zu Freiheit und Selbstbestimmung in der Lage ist, und das ist der Mensch. Doch ein Humanismus der Verkörperung und der Beziehung würde dieser Verantwortung eine andere Grundlage geben. Eine ökologische Neubestimmung unseres Verhältnisses zur irdischen Umwelt kann dann gelingen, wenn in ihrem Zentrum unsere Leiblichkeit und Lebendigkeit steht – nämlich als unsere Verbundenheit mit der natürlichen Mitwelt.

Ich werde nun diese Idee eines Humanismus der Verkörperung unter einigen Aspekten entwickeln.

1) Verkörperung versus Funktionalismus

Das erste Prinzip der Verkörperung besagt: Menschen sind weder Programme noch Algorithmen, wie Harari glaubt. Denn bewusstes Erleben setzt Leiblichkeit und damit biologische Prozesse in einem lebendigen Körper voraus. Nur Lebewesen sind bewusst, empfinden, fühlen oder wollen – nicht Gehirne, nicht KI-Systeme oder Roboter. Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Google-LaMDA: Weder eine künstliche Intelligenz noch ein Roboter können tatsächlich Angst empfinden, sie können sie allenfalls simulieren. Denn Angst kann nur ein Wesen erleben, dem es um Selbsterhaltung geht und dessen Erhaltung bedroht ist, also ein Lebewesen. Oder mit anderen Worten: Nur was sterben kann, kann auch Angst empfinden.

Die organische Grundlage dafür ist letztlich die innere Homöostase des Organismus, und im Streben nach ihrer Aufrechterhaltung besteht die primäre Funktion des Bewusstseins. Sie manifestiert sich in Trieben und Gefühlen wie Hunger, Durst, Angst, Wut, Lust oder Unlust. Ohne Leben gibt es kein Erleben. Nur durch Triebe und Gefühle wird der Organismus auch zu einem Wesen, für das Situationen Bedeutsamkeit und Relevanz erlangen, nämlich primär als förderlich oder gefährlich für seine Selbsterhaltung, als attraktiv oder aversiv, als gut oder schlecht. Verkörperung ist daher die Grundlage jeder fühlenden, sinnhaften und wertenden Beziehung zur Umwelt. Ein künstliches System hingegen hat keine Sorge um seine Erhaltung, es geht ihm um nichts. Nichts ist für das System bedeutsam, und daher kann es auch nichts fühlen, weder Angst noch Schmerz noch Lust.

Das Fehlen von Relevanz, Sinn und Bedeutung bezieht sich aber auch auf die kognitiven Leistungen künstlicher Systeme. Es ist ohnehin schwer zu begreifen, wie wir Maschinen Intelligenz zuschreiben konnten, die doch keinen blassen Schimmer von dem haben, was sie tun. Das Deep-learning-System Alpha-Go mag ja die besten Go-Spieler der Welt schlagen, aber es weiß nicht, dass es spielt, es weißt nicht einmal, was ein Spiel überhaupt ist. Soll man das intelligent nennen? Eigentliche Intelligenz setzt Selbstbewusstsein voraus, also zu wissen, was man denkt und was man tut. Erst recht gilt für den Sinn und die Relevanz von Lebenssituationen und Entscheidungen, dass sie einer KI unzugänglich bleiben müssen. Denn in Lebenssituationen, etwa als Ärzte, Therapeutinnen oder Richter, urteilen und entscheiden wir auf der Grundlage von gefühlten Werten, von Intuition und Erfahrung, und für all das gibt es keine Algorithmen.

Die KI-Utopisten, die Hohepriester der reinen Information, wollen uns einreden, wir seien nur unvollkommene Maschinen. Nehmen wir wirklich an unseren Maschinen Maß, wollen wir uns in ihnen spiegeln, dann müssten wir uns immer weiter optimieren, um nicht auf der Strecke zu bleiben – ein aussichtsloser Kampf. Tatsächlich aber ist die künstliche Intelligenz uns gar nicht überlegen, denn ihre Leistungen beschränken sich auf eng definierte Kalkulationsaufgaben. Sie kann uns auch nicht ersetzen, sondern lässt uns vielmehr erkennen, was in uns nicht ersetzbar ist – nämlich alles Leibliche, Lebendige, Qualitative und Subjektive in seiner Vielschichtigkeit und in seinem unerschöpflichen Reichtum.

Für prometheische Scham und Minderwertigkeitsgefühle angesichts unserer Maschinen besteht also kein Anlass. Auf der anderen Seite bedeutet Verkörperung die Aufgabe von narzisstischen Hoffnungen auf eine Befreiung vom irdischen und sterblichen Körper. Niemals wird sich ein reiner Geist vom Körper lösen und als Information in Computer übertragen lassen. Denn der Information fehlt gerade das Entscheidende der Existenz, nämlich die lebendige Individualität. Information kennt keine individuelle Perspektive, keinen Ort, von dem aus die Welt einem Subjekt erscheinen könnte, denn dieser Ort ist nichts anderes als der Leib. Geist ist lebendig, und in den toten Schaltkreisen eines Computers könnte er nicht überleben. Unser bewusstes Erleben wie unsere personale Identität beruhen auf der leiblichen Existenz. In dieser verkörperten und damit freilich sterblichen Individuation besteht der Preis, den wir zu zahlen haben, um die Möglichkeiten, die Freiheit und das Wunder der irdischen Existenz zu erfahren.

2) Verkörperung und Zwischenleiblichkeit

Als zweites Prinzip der Verkörperung nenne ich die Zwischenleiblichkeit. Zur Therapie des Narzissmus gehört die reale, verkörperte und empathische Beziehung zu anderen, mit all ihrer Widerständigkeit und Unberechenbarkeit, anstelle der Spiegelung in grandiosen Selbstbildern und Selbstobjekten, für die der Narzisst andere als Projektionsfläche benützt. Empathie aber erlernen wir nur im leiblichen Kontakt mit anderen, in der „Zwischenleiblichkeit“, wie Merleau-Ponty sie nannte. Bereits in den ersten Wochen nach der Geburt erkennen Babys die emotionalen Äußerungen der Mutter oder des Vaters, nämlich indem sie deren Rhythmik, Dynamik und Melodik in ihrem eigenen Leib mitvollziehen und mitspüren, in leiblicher Resonanz. Und sie machen die unerlässlichen Erfahrungen des Berührt-, Gestreichelt-, Gehalten- und Getragenwerdens, von denen wir heute wissen, dass Babys ohne sie schwere Entwicklungsstörungen erleiden.

Der Mangel an solchen Erfahrungen begünstigt aber auch narzisstische Entwicklungen. Wenn das Kind nicht leiblich-spürbar, das heißt bedingungslos geliebt wird, sondern nur der narzisstischen Spiegelung der Eltern dient, wenn es also nur den idealisierenden Blick und nicht die zärtliche Berührung erfährt, dann muss es selbst in die Sphäre des Blicks, des Spiegels und des Bildes ausweichen. Es muss die empfundene innere Leere durch ein Größen-Selbst zu füllen suchen, das von der Bewunderung der anderen lebt. Es begibt sich in die Konkurrenz der Bilder und Spiegelungen – videor, ergo sum. Doch der Sehsinn lässt die Welt immer auch als Schauspiel erscheinen. Er ist in besonderem Maß anfällig für Scheinbilder und Illusionen. Bilder, aber auch Töne lassen sich digitalisieren, virtualisieren oder auch fälschen. Nur um einander zu berühren, dazu muss man sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden, in leiblicher Präsenz. Nur mit dem Tastsinn treten wir buchstäblich in „Kontakt“ mit der Welt und mit den anderen. Der Tastsinn ist unser primärer sozialer Sinn.

Elisabeth von Thadden (2018) hat von der „berührungslosen Gesellschaft“ gesprochen, in die wir besonders seit Corona immer mehr zu geraten scheinen und in der digitale Medien zunehmend unsere verkörperten Begegnungen ersetzen. Doch eine Gesellschaft, in der wir voneinander nicht mehr berührt werden, im leiblichen und zugleich im emotionalen Sinn – eine solche Gesellschaft können wir auf die Dauer nicht ertragen. Die virtuelle Präsenz des anderen ist, was sie ist: ein Schein, den letztlich nur die leibliche Präsenz und die Tasterfahrung auflösen kann.

Wir leben in einer Gesellschaft, die wie keine zuvor von Bildern überflutet ist, in der sich Schein und Wirklichkeit, Wahrheit und Täuschung immer weniger unterscheiden lassen. Wollen wir die konkrete Wirklichkeit erfahren, dann müssen wir lernen, diese Flut zu hemmen und die sinnliche Erfahrung wieder mit leiblicher Gegenwart zu verknüpfen. Entscheidend ist dabei die Erfahrung der Anwesenheit des anderen, des wirklichen Du. Nur der andere befreit mich aus dem Käfig meiner Vorstellungen und Projektionen, in denen ich immer nur mir selbst begegne. Der ethische Anspruch, der von ihm ausgeht, ist letztlich an seine leibliche Präsenz gebunden: an seine Berührung, seinen Blick, seine Stimme, seine Ausstrahlung. Und nur wenn andere für uns in dieser Weise wirklich werden, werden wir auch uns selbst wirklich. Niemand blickt uns wirklich aus einem Smartphone an. Die virtuelle Gegenwart des anderen kann die Zwischenleiblichkeit nicht ersetzen.

3) Verkörperung, Lebendigkeit, Ökologie

Zur Überwindung des Narzissmus gehört schließlich, so sagte ich, das Bewusstsein der Einbettung in einen übergreifenden Zusammenhang, der an die Stelle narzisstischer Omnipotenzideen treten kann. Für einen Humanismus der Verkörperung ist dies primär der Zusammenhang des Lebens. Als verkörperte, lebendige Wesen sind wir verwandt und ökologisch verbunden mit allem Lebendigen auf der Erde, in einer, wie ich es nennen möchte, Konvivialität. Wir teilen mit Lebewesen die existenziellen Tatsachen des Geborenwerdens und Wachsens, das Bedürfnis nach Luft, Nahrung und Wärme, Trieb und Streben, Altern und Sterben. Wir teilen mit ihnen die gemeinsame Biosphäre. Unsere Leiblichkeit verweist auf den zutiefst relationalen Charakter unserer Existenz, unser Leben in Beziehungen und in ökologischen Zusammenhängen. Erich Fromm sprach vom Prinzip der Biophilie, der Liebe zum Lebendigen, Albert Schweitzer von der Ehrfurcht vor dem Leben, die in die Einsicht mündet: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Konvivialität bezeichnet die fundamentale Verwandtschaft, die wir mit allem Leben empfinden.

Nach der herrschenden Auffassung der neodarwinistischen Biologie, wie wir sie etwa bei Richard Dawkins oder auch Harari finden, sind Organismen Maschinen, die von Algorithmen und Programmen getrieben werden, und Leben ist nichts anderes als Datenverarbeitung. Unsere eigene Erfahrung des Lebens ist eine ganz andere, nämlich die einer spontanen, selbsttätigen Lebendigkeit, einer leiblichen Dynamik, die uns trägt, eines elementaren Antriebs und Strebens. Im Trieb, in Hunger oder Durst finden wir Gerichtetheiten unseres Leibes vor, die von sich aus auf Mangelndes aus sind, ob wir ihnen nun folgen oder nicht. Und dieser Selbsterfahrung entspricht eine nicht mechanistische Konzeption des Lebendigen, nämlich als Selbstorganisation. Von den niedrigsten bis zu den höchsten lebenden Organismen sind wir Zeugen der sich selbst organisierenden Existenz von Lebensformen im metabolischen Austausch mit ihrer Umwelt. Selbst ein einzelliger Organismus wie ein Bakterium erhält sein Leben aufrecht, indem er zwischen guter und schlechter Nahrung unterscheidet und sich zur einen hin und von der anderen wegbewegt. Schon auf dieser einfachsten Ebene finden wir eine rudimentäre Form von gerichteter, unterscheidender, strebender Beziehung zur Umwelt. Ja, auch bei den Pflanzen sprechen wir von „Trieben“, die aus der Erde zum Licht dringen, so wie wir in uns selbst die Triebe des Lebens spüren. Das verweist darauf, dass der Wille zum Leben, wie Schweitzer es nennt, der Drang zu existieren und sich zu entfalten, uns mit allem pflanzlichen und tierischen Leben verbindet.

Freilich, die Ehrfurcht vor dem Leben ist noch einmal etwas anderes. Sie ist kein Trieb, sondern eine ethische Haltung, die wir als Menschen zum Leben einnehmen können. Nur der Mensch kann Ehrfurcht vor dem Leben empfinden. Ein Humanismus der Verkörperung würde daher anerkennen, dass die Anthropozentrik unseres Weltbildes zu revidieren ist; dass unsere Konvivialität mit allem Lebendigen an die Stelle der narzisstischen Ausbeutung der Erde treten muss; dass diese Neuorientierung aber nur im Bewusstsein unserer menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit erfolgen kann. Nur der Mensch kann Verantwortung für die Erde übernehmen. Mit dieser reifen, realistischen Selbsteinschätzung können wir den Allmachts-Ohnmachts-Komplex der Moderne überwinden, ohne dass dies so etwas wie unsere Abdankung erfordert.

Doch eines bleibt dabei unabweisbar: Die Welt des Lebendigen steht im Widerstreit zum modernen Projekt linearen Fortschritts und unaufhörlichen Wachstums. Sie ist eine Welt zyklischer Prozesse und wechselseitiger Abhängigkeiten, des Gebens und Nehmens. Wir sind Lebewesen, die auf Nahrung, Schutz, Beziehung und Austausch angewiesen sind. Wir leben von Wasser, Wärme, Nahrung und Energie, das heißt von den Ressourcen der Erde. Doch diese Ressourcen sind nur zyklisch regenerierbar; die lineare Beschleunigung unserer technologischen, wachstumsorientierten Kultur muss sie unausweichlich erschöpfen. Wie also wollen wir leben? Es ist nicht Gegenstand meiner Überlegungen, welche Strategien und Maßnahmen unser Verhältnis zur irdischen Umwelt neu ausrichten können. Doch scheint mir, dass eine solche Neuorientierung unsere eigene Leiblichkeit und damit unsere Verwandtschaft mit allem Lebendigen zur unabdingbaren Grundlage haben muss. Nur wenn wir unseren Leib wirklich bewohnen, werden wir auch die Erde als bewohnbar erhalten können.

Worum es dann ginge, das wäre eine neue Kultur der Leiblichkeit und der Sinne: etwa den Atem als unseren ursprünglichen Austausch mit der Umwelt wieder bewusst wahrzunehmen; die sinnliche Erfahrung der Erde zu pflegen; den Geschmack der Nahrung, den Geruch der Blüten, die Gegenwart des Lebens um uns, die Tages- und Jahreszeiten wieder neu zu erfahren; den zyklischen, rhythmischen Prozessen des Lebens Raum zu geben gegen die buchstäblich atemlose Beschleunigung; und damit vor allem das zu erfahren und einzuüben, was ich als leibliche Präsenz bezeichnet habe. Es ist das Ankommen in der Gegenwart: das wache Sein bei den Dingen, das achtsame Umgehen mit ihnen; sie zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen. Und es ist die zwischenleibliche Begegnung, das Sein beim anderen, wie es nur in der physischen Präsenz in einem gemeinsamen Raum möglich ist und nicht in der Virtualität. Es ist das Gegenteil des narzisstischen Weltverhältnisses, in dem die Welt mir als Schauspiel und als Spiegel dient und die anderen nur als Selbstobjekte.

Leibliche Anwesenheit und Kommunikation besteht auch nicht nur im Austausch von Informationen wie in der digitalen Welt, sondern ermöglicht das wache Zuhören mit dem sichtbaren Ausdruck der Aufmerksamkeit, der Erwartung oder der Bestätigung. In dieser resonanten Gegenwart des anderen, so hat es Heinrich von Kleist beschrieben, können noch ungedachte Gedanken sich formen und Neues entstehen. „Aus innigem Zusammenleben und der Unterredung“, so schreibt Platon in seinem 7. Brief, „entspringt die Idee in der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht“ (1982, 742). Wohl ihre intensivste Form findet leibliche Präsenz aber im gemeinsamen Schweigen, in dem auch die allgegenwärtige Flut der Bilder und Worte zur Ruhe kommt.

Die leibliche Anwesenheit, das Zusammenleben in Beziehung, die Konvivialität mit dem Lebendigen – das wären zentrale Motive eines neuen, verkörperten Humanismus. Sie münden in die Verantwortung, die wir füreinander als Menschen und für das Leben insgesamt übernehmen. Dann mag es uns auch gelingen, uns auf der Erde wirklich zu beheimaten. Es wird keine andere Heimat für uns geben.

Literatur:

Anders, G. (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. München: C. H. Beck.

Darcy, A. u. a. (2021): Evidence of human-level bonds established with a digital conversational agent. JMIR Formative Research, 5/2021.

Fromm, E. (1979): Haben oder Sein. München: dtv, 213.

Fromm, E. (1992): Humanismus als reale Utopie. München: Wilhelm Heyne Verlag, 66.

Harari, J. (2017): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C. H. Beck, 445.

Hustvedt, S. (2018): Die Illusion der Gewissheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 282.

Moravec, H. (1988): Mind Children. Cambridge: Harvard University Press, 1.

Nietzsche, F. (1980): Die fröhliche Wissenschaft. In: Schlechta, K. (Hrsg): Nietzsches Werke, Bd. 3. München: Hanser.

Platon (1982). Siebter Brief. In: Löwenthal, E. (Hrsg): Sämtliche Werke, Bd. 3. Heidelberg: Lambert Schneider.

Richter, H.-E. (1979): Der Gotteskomplex. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Von Thadden, E. (2018): Die berührungslose Gesellschaft. München: C. H. Beck

Autor:

Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Eine Auswahl aus der Vielzahl seiner Bücher: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan (2008), Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft (2018), Die Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie (2020), Psychiatrie als Beziehungsmedizin (2023).

Fußnoten:

1 So Juval Harari in einem Interview mit Dominique Leglu, www.sciencesetavenir.fr, 28.9.2017.

2 Siehe die weiterführende Literatur bei Harari.

3 Siehe den Artikel von Nitasha Tiku „The Google Engineer Who Thinks the Company’s AI Has Come to Life“ in der „Washington Post“ vom 1.6.2022.