Eine Person im schwarzen, langen Mantel und mit schwarzem Zylinderhut hält ein Papiersackerl mit der Aufschrift „adhs“ in der Hand.

Modediagnose? Illustration: Eva-Maria Gugg

Foto: © emg
aus Heft 4/5/2023 – Essay
Anna Bischoff

Das ADHS-Dilemma: Hilft oder schadet die Diagnose?

Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, ist eine der am meisten verbreiteten Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen und seit ca. 30 Jahren in der fachlichen, aber auch außerfachlichen Öffentlichkeit in aller Munde. Was hat es mit dieser Diagnosekategorie auf sich? Ist sie Fluch oder Segen, Chance oder Risiko, Last oder Entlastung, Krankheit oder Mythos? ADHS wird gegenwärtig nicht nur häufig, sondern auch sehr schnell diagnostiziert und geht mit einer breiten Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Psychostimulanzien wie Ritalin einher.

Die Diagnose ADHS schafft – wenn auch vordergründig – Beruhigung, sie suggeriert Klarheit. Das Problemfeld um Aufmerksamkeitsstörungen, Unruhe und Impulsivität bekommt im wahrsten Sinne des Wortes einen Namen. Damit erscheint ein schwieriges Verhalten weniger fremd und bedrohlich, es kann eingeordnet und erklärt werden. Außerdem wird das störende Verhalten behandelbar, die Biomedizin bietet mit der Verabreichung von Psychostimulanzien die Möglichkeit, die Symptomatik relativ schnell zu lindern beziehungsweise zu unterdrücken. Ist die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung einmal gestellt, gibt es eine direkte Möglichkeit, zu (be-)handeln. Dies bietet eine vergleichsweise schnelle Lösung im Hinblick auf die (Wieder-)Herstellung von sozial erwünschtem Verhalten. Gleichzeitig öffnet die Diagnose der Etikettierung, Stigmatisierung, Pathologisierung und Medikamentierung von Kindern und Jugendlichen Tür und Tor, die aus den unterschiedlichsten Gründen störendes, schwieriges oder abweichendes Verhalten zeigen.

Die Ursache wird in das Kind verlagert

Zunächst führt die Diagnose, verknüpft mit der im ADHS-Diskurs dominanten Annahme einer genetisch bedingten Hirnstoffwechselstörung, zu einer Entlastung und Beruhigung des Umfelds. Weder Eltern noch Pädagog:innen müssen sich über psychosoziale Problemstellungen und Konflikte Gedanken machen. Die Ursache der Störung wird in das Kind verlagert, das Kind hat den (Gen-)Defekt und das Umfeld trägt keine Verantwortung für die Ursachen hyperaktiven, impulsiven und unaufmerksamen Verhaltens. Natürlich wollen Eltern mit großer Mehrheit das „Beste“ für ihr Kind. Sie wollen nicht an schwierigem, störendem Verhalten schuld sein, als Eltern nicht versagen. Dies ist ein zentraler Aspekt, der zur breiten Akzeptanz und zum Bestehen auf einer Diagnose führt. Die Vorstellung, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung gleiche einer Infektionskrankheit oder einer genetisch bedingten Störung, kann große Entlastung schaffen. Dabei ist die Anerkennung mannigfaltiger Faktoren, die zu Unruhe, Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen können, nicht mit einer Schuldzuweisung gleichzusetzen. So kann eine Familie beispielsweise von schweren Schicksalsschlägen, Verlust- und Trennungserfahrungen betroffen sein, die zu ungünstigen Entwicklungsbedingungen führen. Weiterhin verlaufen Erziehungs- und Sozialisationsprozesse nur teilweise geplant – vieles spielt sich auf unbewusster Ebene ab. Einerseits fließen also unbewusste Erfahrungen, Dynamiken und Vorstellungen in die Erziehung ein – laut Siegfried Bernfeld hat es die erziehende Person stets mit zwei Kindern zu tun, dem Kind vor ihr und dem Kind in ihr –, andererseits sind sich Eltern der Wirkung bestimmter Verhaltensweisen, Haltungen und Interaktionen auf das Kind und seine Entwicklung nicht immer im Klaren, genauso, wie sie selbst von unbewussten Einflüssen aus ihrer eigenen Kindheit geprägt sind.

Nicht belegte Hypothesen für das genetische Erklärungsmodell

Beschäftigt man sich aus einer transdisziplinären Perspektive mit den ätiologischen Hintergründen von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, wird deutlich, dass eine Vielzahl von biopsychosozialen Faktoren diese Verhaltensweisen hervorbringen können und dass das genetische Erklärungsmodell nach wie vor auf nicht belegten Hypothesen beruht. Auch andere psychiatrische Krankheitsbilder wie Depressionen, Angststörungen, Autismus etc. werden mit hyperaktivem, scheinbar unkonzentriertem und impulsivem Verhalten assoziiert. Auf diesen Umstand reagiert die Biomedizin mit der Angabe einer hohen Komorbiditätsrate. Genau genommen zeigt sich hier aber der enorme Mangel an Spezifität der Symptome. Sie können zwar auf die unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen hindeuten, genauso aber auch auf individuellen Wesens- und Charaktereigenschaften beruhen, auf Lebensprobleme unterschiedlichster Ausformung verweisen oder, entsprechend des Konzepts der Neurodiversität, als Ausdruck vielfältiger Varianten der neurologischen Konstitution eingeordnet werden.
Betrachtet man Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität nun aus psychodynamischer Perspektive, können unterschiedlichste Lebens- und Beziehungserfahrungen zu ebendiesen Symptomen führen. Es ist menschlich und durchaus verbreitet, sich aufgrund von schwierigen, belastenden Lebenssituationen – wie zum Beispiel traumatischen Erfahrungen, Trauer und Verlusterleben, fehlenden stabilen Bindungen und Beziehungen und einer Vielzahl weiterer Notlagen – nicht konzentrieren zu können beziehungsweise unruhig und nervös zu werden.
Gleichzeitig sollte auch die Bedeutung von Bewegung nicht unterschätzt werden, schließlich ist Bewegung bereits vorgeburtlich ein zentrales Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Bewegung wird von Gabriele Häußler und Hans Hopf (2002) als körperliches Äquivalent der Psyche beschrieben, wodurch belastende Erfahrungen und innere Konfliktdynamiken nach außen gerichtet und ausagiert werden können. Fehlen reifere Formen der Verarbeitungs- und Regulationsfähigkeit beziehungsweise sind sie nicht ausreichend ausgebildet, bleibt häufig nur die Abfuhr durch Bewegung.
Betrachtet man Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität aus soziokultureller Perspektive, so ergibt sich eine große Vielfalt an möglichen Bedingungsfaktoren für ebendiese Verhaltensweisen. Vor dem Hintergrund beschleunigter, reizüberflutender Lebensverhältnisse, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen in ihren Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazitäten überfordern, lassen sich Rastlosigkeit, Getriebenheit, Unruhe sowie eine mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Probleme bei der Fokussierung auf einzelne Inhalte durchaus als Anpassung an unsere moderne Welt deuten – man könnte auch sagen, an die Aufmerksamkeitsdefizitkultur, wie Christoph Türcke (2002) es formuliert.
Bereits dieser kurze Überblick über mögliche Hintergründe ADHS-typischer Symptome macht deutlich, dass es nicht den einen wahren Grund für hyperaktives, unaufmerksames und impulsives Verhalten gibt, sondern eine Vielzahl möglicher Entstehungshintergründe. Die mit der Diagnose ADHS verknüpften beruhigenden, erklärenden und entlastenden Wirkungen erweisen sich folglich als vordergründig und oberflächlich: So liefert die Einordnung in die diagnostische Kategorie keine wirklichen Erklärungen, sie vermag nichts weiter auszusagen, als dass eine Person Verhaltensweisen zeigt, die unter die Symptomkategorien Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität fallen und hier aufgrund ihrer Häufigkeitsdichte erfasst werden können. Was hinter diesen Verhaltensweisen steckt, was sie ausdrücken, worauf sie hinweisen, wird durch das Label nicht erfasst. Das heißt, es handelt sich um einen rein deskriptiven Zugang, der aber insofern überbeansprucht wird, als aus der Bündelung von bestimmten Verhaltensweisen zu einer Krankheitskategorie keine Rückschlüsse zum jeweiligen lebensgeschichtlichen Hintergrund gezogen werden können. Darüber hinaus ist der Umstand frappierend, dass ein großer Teil der ADHS-diagnostizierten Kinder und Jugendlichen den genauen Diagnosekriterien nicht einmal entspricht.

Diagnoseanstieg und Schulsystem

Mit dem Eintritt in die Schule steigt die Diagnosehäufigkeit massiv an. Da es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung aber um keine Infektionskrankheit handelt, liegt es nahe, den starken Diagnoseanstieg mit dem Schulsystem und den entsprechenden Verhaltenserwartungen in Verbindung zu bringen.
Kinder, die den Vorstellungen von schulischem Wohlverhalten nicht entsprechen, laufen Gefahr, pathologisiert, mit psychiatrischen Diagnosen belegt und entsprechend medikamentös behandelt zu werden. In Astrid Lindgrens Kinderbuch „Die Kinder aus Bullerbü“ (1988) ist von Lasse die Rede, der in der Schule keine Minute richtig still sitzen konnte. Die Lehrerin bezeichnete ihn als noch nicht schulreif und schickte ihn nach Hause. Er solle im nächsten Jahr wiederkommen und erst noch ein wenig mehr spielen. Kinder müssen mit dem Eintritt in die Schule in der Lage sein, still zu sitzen und den schulischen Erwartungen zu entsprechen, ansonsten laufen sie Gefahr, medikamentös in die gewünschte Richtung gelenkt zu werden. Es ist anzunehmen, dass Lasse aus Bullerbü heutzutage auch diesem Risiko ausgesetzt wäre.
Unterzieht man die Verhaltensvariablen, die in gängigen Diagnosemanualen wie ICD und DSM herangezogen werden, einer genauen Betrachtung, so erscheinen viele der aufgeführten Verhaltensmuster zunächst nicht als pathologisch, sondern als typische Verhaltensweisen von Kindern und zeitweise bzw. situationsbedingt auch von Erwachsenen. Je nach Situation und Befinden haben wir alle Schwierigkeiten, länger still zu sitzen und uns zu konzentrieren, ebenso ist die Neigung, unliebsame Aufgaben aufzuschieben, durchaus sehr verbreitet. Kommt nun eine bestimmte Anzahl von Verhaltensvariablen (zum Beispiel 6 von 9 im Bereich Unaufmerksamkeit) zusammen, und zwar in einem dem Alters- und Entwicklungsstand des Kindes nicht entsprechenden Ausmaß, so führt dies zur Diagnose ADHS. Aber wie kann trennscharf unterschieden werden, ab wann ein bestimmtes Verhalten nicht dem Alters- und Entwicklungsstand eines Kindes entspricht? Schließlich verläuft die kindliche Entwicklung auf unterschiedlichen Ebenen höchst individuell.
Abgesehen von extremen Ausprägungen scheinen die zur Diagnosestellung notwendigen Einordnungen sehr ungenau und wiederum abhängig vom Toleranzniveau der beurteilenden Person. Somit leidet ein großer Teil der ADHS-diagnostizierten Kinder wohl eher an Zufällen als an einer zweifelsfrei diagnostizierbaren Krankheit.
Stellt man die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung nun als abgrenzbare Krankheitskategorie infrage und betrachtet das Diagnoseetikett mit entsprechender Skepsis, so eröffnet sich eine größere Palette an möglichen Hintergründen und Ursachen – dies bedeutet aber auch einen Weg ins Ungewisse. Schließlich können eine Vielzahl individueller, lebensweltlicher, biografischer, aber auch soziokultureller und gesellschaftlicher Faktoren zu Unruhe, Impulsivität und Unaufmerksamkeit führen. Damit wird der Mitteilungscharakter der Symptome in den Fokus gerückt und es gilt, den Fragen nachzugehen: Worauf weist das jeweilige unruhige, unaufmerksame und impulsive Verhalten hin? Worauf lenken die Symptome die Aufmerksamkeit? Was teilen sie der Umgebung und dem Umfeld mit? Was wird mit den Symptomen unbewusst ausgedrückt? Aus dieser Perspektive erscheint die medikamentöse Unterdrückung der Symptome besonders fragwürdig, unterbindet sie doch eine vertiefende Suche nach Ursachen, die durch das individuelle Gewordensein verständlich werden.

„Das Kind hat bestimmt ADHS“

Ein Teil der Eltern, Lehrer:innen und Pädagog:innen scheint froh über schnelle und einfache Erklärungen von störenden, hyperaktiven Verhaltensmustern in Form einer Diagnose und dankbar für eine rasch umsetzbare Behandlungsmöglichkeit. Die medikamentöse Behandlung bietet eine schnelle, wirksame Lösung in Hinblick auf eine Linderung störender Verhaltensweisen. Kinder scheinen zu funktionieren. Ein Heilungserfolg ist von einer rein medikamentösen Behandlung allerdings nicht zu erwarten, die Symptome werden während der Dauer der Einnahme lediglich unterdrückt.
Es ist verständlich, dass ein hoher Leidensdruck bei Eltern und Lehrer:innen dafür sorgt, sowohl die Diagnose als auch die damit einhergehende Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen zu akzeptieren. In einer beschleunigten, leistungsorientierten Gesellschaft ist insbesondere die Angst von Eltern groß, ihre Kinder könnten in der Schule nicht erfolgreich sein. Es entsteht ein Teufelskreis, ein Kind „funktioniert“ im schulischen Setting nicht, Eltern bangen um den Schulerfolg, Lehrer:innen sind überfordert und durch zu große Klassen nicht in der Lage, einzelnen Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Dann kommt die Empfehlung – häufig seitens der Schule – eines Arztbesuchs, die oft schon mit der Vordiagnose verbunden ist: „Das Kind hat bestimmt ADHS.“ Nun wird anhand der Manuale eine Diagnose gestellt. Damit wird der Grad der Anpassung an schulische Verhaltenserwartungen zum Kriterium für Gesundheit oder Krankheit. Die unter dem Label ADHS zusammengefassten Verhaltensweisen werden schließlich besonders im schulischen Setting prekär. An dieser Stelle drängen sich gewichtige Fragen auf: Wer muss sich an wen anpassen? Schüler:innen an die Schule oder die Schule an die Schüler:innen?

Verheerende Folgen für das Selbstbild

Hier müsste verstärkt in den Blick genommen werden, was die Diagnose für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet. Zunächst kann sich auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine gewisse Entlastung einstellen. Das Kind mit der Diagnose ADHS ist von Verantwortung und Schuld an seinem Verhalten, das in den unterschiedlichsten Settings stört und das Umfeld herausfordert, befreit. Es ist nicht einfach unangepasst, aufmüpfig und oppositionell, sondern krank. Für Betroffene kann das diagnostische Etikett folglich – trotz oder sogar wegen der mangelnden differenzierten Verwendung – zur Beruhigung beitragen. Dieses hilft zwar nicht dabei, individuelle Hintergründe zu verstehen, aber es schafft eine Entlastung des Umfelds und kann damit zu einer Verbesserung der sozialen Interaktion und Kommunikation führen.
Bezogen auf das Selbstbild sowie auf die Position in der Peergroup kann die Diagnose jedoch verheerenden Schaden anrichten. Betroffene Kinder und Jugendliche nehmen sich selbst als ungenügend, defizitär, anders als die anderen und nicht liebenswert wahr, insbesondere wenn sie ihre Medikamente nicht einnehmen. Was jedoch noch verheerender ist – sie werden nicht verstanden, weil der Sinngehalt hinter den Symptomen nicht erschlossen wird und Problemlagen nicht erkannt werden.
Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist die Aussagekraft des Etiketts sehr begrenzt. Je eingehender man sich mit ADHS beschäftigt, desto mehr verschwimmt die Bedeutung dieses Begriffs. Einerseits erscheint das Label zunehmend als Sammelbegriff für sämtliche Abweichungen von sozialen Verhaltenserwartungen, andererseits handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose, das heißt, andere Störungen, die zu ähnlichen Symptomen führen können, müssen vor einer ADHS-Diagnose ausgeschlossen werden. Betrachtet man nun die mangelnde Spezifik der Symptome wie Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, so scheint diese Abgrenzung äußerst schwierig. Auf das diagnostische Etikett ADHS wirken folglich gegensätzliche Kräfte ein. Vielleicht ist dies eine Chance, um festgefahrene Vorstellungen zu durchbrechen und den Blick für eine ganzheitliche Perspektive zu weiten.

Fluch oder Segen?

Um die eingangs formulierte Fragestellung zur ADHS-Diagnose nochmal aufzugreifen: Ist sie Fluch oder Segen, Chance oder Risiko, Last oder Entlastung, Krankheit oder Mythos? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, sie kann alles sein. Je nach Perspektive haften an dem Begriff ADHS unterschiedlichste Bedeutungen und Implikationen. Vordergründig kann sie ein Segen, eine Chance oder eine Entlastung sein. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass das Etikett ADHS Gewissheit, Klarheit und Handlungssicherheit suggeriert, indem es die individuellen Lebenszusammenhänge der Betroffenen – die oft alles andere als klar sind – aber ausklammert.
Das Label Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung beendet gewissermaßen den Diskurs hinsichtlich der mannigfaltigen Hintergründe von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Die ADHS-typischen Symptome werden als Beweis für eine genetisch bedingte Erkrankung gedeutet, ungeachtet des lebensgeschichtlichen, biografischen, soziokulturellen oder psychodynamischen Zusammenhanges.
Die Diagnose ADHS hilft denjenigen, die eine schnelle und „einfache“ Erklärung für herausforderndes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen suchen. Sie leistet insofern Hilfe, als sie die unterschiedlichsten, mehr oder weniger problematischen Verhaltensweisen zu einem Problemfeld bündelt. Betroffene und Angehörige haben das Gefühl, nicht als Einzige betroffen zu sein. Dies vermag zwar den Leidensdruck und Ängste zu reduzieren und eine gewisse Erleichterung zu schaffen, die große Gefahr besteht aber darin, die breite Pathologisierung und Medikamentierung weiter voranzutreiben. Ob die ADHS-Diagnose hilft oder schadet, hängt davon ab, wie differenziert man sich dem Feld nähert. Gibt man sich nicht mit vordergründigen Erklärungen zufrieden und sucht man stattdessen nach komplexen Zusammenhängen, um Betroffenen langfristig zu helfen, können auch Gründe für das Verhalten gefunden und bearbeitet werden und ein langfristiger Symptomverzicht erreicht werden.

Verstehender Zugang für die „Beweg-Gründe“

Je intensiver man sich mit der Diagnose ADHS auseinandersetzt, desto mehr schwindet ihre Berechtigung als klar abgrenzbare Krankheitskategorie. Zugunsten eines verstehenden Zuganges wäre zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität als unspezifische Symptome anzuerkennen und eine damit verbundene Ungewissheit, Unklarheit und Unsicherheit zu akzeptieren. Der biomedizinische Blick, verbunden mit der Diagnosepraxis und der medikamentösen Behandlung, bricht den Diskurs über und die Suche nach lebensgeschichtlichen Hintergründen schließlich ab.
Was wäre nun ein Ausweg aus dem ADHS-Dilemma? Dieses lässt sich nicht einfach so auflösen. Aufgrund der Existenz der psychiatrischen Kategorie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und, nicht zuletzt, deren Popularität meinen auch Laien, die entsprechenden Symptome dem Krankheitsbild zweifelsfrei zuordnen und so ADHS diagnostizieren zu können. Ein erster Schritt aus dem Dilemma wäre die Aufklärung über die vielfältigen Hintergründe hyperaktiven, impulsiven und unaufmerksamen Verhaltens und die mangelnde Spezifik der ADHS-Symptome. Ebenso wichtig ist die Aufklärung über Stigmatisierung, Etikettierung sowie die Gefahren einer medikamentösen Behandlung. Die begrenzte Aussagekraft des diagnostischen Etiketts in Hinblick auf die Hintergründe von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität müsste allgemein anerkannt werden.
Weiterhin müssten wir uns – als Eltern, Professionelle und als Gesellschaft – Gedanken über unser Bild vom Kind machen und darüber, wie wir förderliche Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schaffen. Das bedeutet ganz konkret, unsere Erwartungen in Bezug auf gesundes kindliches Verhalten zu hinterfragen, ebenso wie das Schulsystem, das sehr stark an Anpassung und Leistung orientiert ist und wenig Raum für Individualität lässt. Nach dem Motto, wer stört, müsse eine Störung haben, geht es also verstärkt darum, das Kind an das System und nicht das System an das Kind anzupassen. Hier wäre ein Umdenken sicherlich ein wichtiger Schritt in Richtung Ausweg aus dem ADHS-Dilemma. Ausgangspunkt für den Umgang mit hyperaktivem, unaufmerksamem und impulsivem Verhalten sollte zudem der Leidensdruck der betroffenen Personen sein und nicht das Anpassungsinteresse des Umfelds.
Abschließend sei noch einmal betont, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und all ihren Konsequenzen das Problemfeld um ausgeprägte Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität nicht bagatellisiert. Im Gegenteil: Um diesen Verhaltensweisen gerecht zu werden und begegnen zu können, ist ein tiefer gehendes Verstehen und Erkennen der wörtlich zu verstehenden „Beweg-Gründe“ notwendig.

Literatur
Bernfeld, S. (1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt: Suhrkamp.
Bischoff, A. (2019): Die Jungenkrankheit der Moderne? Zur Dekonstruktion von ADHS. Frankfurt: Psychosozial-Verlag.
Lindgren, A. (1988): Die Kinder aus Bullerbü. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger.
Häußler, G. & Hopf, H. (2002): Psychoanalytische Theorien. In: Bovensiepen, G., Hopf, H. & Molitor, G. (Hrsg.) (2002): Unruhige und unaufmerksame Kinder. Psychoanalyse des hyperkinetischen Syndroms. Frankfurt: Brandes und Apsel, 20–44.
Türcke, C. (2012): Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur. 2. durchgesehene Auflage. München: C. H. Beck.

Dr. Anna Bischoff
Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwesen und Koordinatorin des Masterstudiengangs Sozialpädagogik in Aus-, Fort- und Weiterbildung der Universität Kassel.
Diplom-Sozialpädagogin / Master „Soziale Arbeit und Lebenslauf“.
Veröffentlichung: Die Jungenkrankheit der Moderne? Zur Dekonstruktion von ADHS. Frankfurt: Psychosozial-Verlag 2019
abischoff@uni-kassel.de