Eine Familie ist am Foto abgebildet. Eine Frau mittleren Alters mit brünetten Haaren sitzt am Esstisch und schaut zu ihrem Sohn, der gerade eine Packung öffnet. Der Junge hat dunkelblondes Haar und ein weißes kurzärmliges T-Shirt an. Er hat Trisomie-21. Auf dem schlichten, robusten Holztisch steht unter anderen Leckereien, ein Geburtstagsguglhupf mit ein paar angezündeten Kerzen. Gegenüber liegt ein Mädchen im Bett. Sie ist zugedeckt und schaut lächelnd zu ihrem Bruder.

Sehr eindrücklich war Willis Geburtstag, an dem Olivia sich gewünscht hatte, ihr Bett an den Tisch zu schieben, obwohl sie wusste, dass es eigentlich zu anstregend war.

Foto: © Matthias Wittkuhn
aus Heft 3/2023 – Aus Elternsicht
Birte Müller

Wo ist eigentlich Willi?

Vielleicht haben sich einige von Ihnen seit Anfang letzten Jahres gefragt, wo eigentlich Willi geblieben ist. Zehn Jahre hatte ich hier in „Menschen.“ über unser Familienleben geschrieben.

Auch ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich einen Schreckmoment lang denke: „Wo ist eigentlich Willi?“, wenn es so leise bei uns im Haus ist. Die Frage könnte sich auch der:die eine oder andere Nachbar:in von uns gestellt haben, weil es auf unserer Terrasse und im Garten oft ungewohnt ruhig ist. Ist den Nachbar:innen wohl aufgefallen, dass kein Schulbus mehr bei uns hält und dass Willi nur noch selten mit seinem iPad auf dem Gehweg tanzt oder Schuhe aus der Haustür wirft, weil er keine Lust hat, sie anzuziehen?

Ich weiß es nicht, angesprochen hat mich niemand. Aber mir selber fällt es noch jeden Tag auf, dass Willis Bett leer ist, dass kaum noch Krümel und Murmeln unter dem Tisch liegen, dass ich viel weniger Brot kaufen und Wäsche waschen muss. Ich spreche auch nicht mehr täglich Nachrichten auf Willis Talker und ich weiß nicht mehr, was bei ihm in der Schule passiert.

Willi ist letztes Jahr ausgezogen.

Mit nur ein paar Monaten Vorlaufzeit, mit nur 15 Jahren, ganz ohne mich an seiner Seite. Eigentlich typisch: So wie Willis Geburt, seine Kleinkindzeit, seine Schullaufbahn – so lief auch sein Auszug ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

Die Pandemie hatte uns an unsere Grenzen gebracht. Uns war klar geworden, dass wir für den Fall, dass meinem Mann oder mir etwas passieren sollte, unbedingt einen Plan B für Willi brauchten. Darum schauten wir uns im Januar letzten Jahres in Hamburg eine Einrichtung für Jugendliche mit Behinderung an. Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich dort das erste Mal zu Besuch war. Matthias musste arbeiten und Olivia war gerade krank. Sie war zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, hatte gerade Corona gehabt und lag noch erschöpft auf dem Wohnzimmersofa. Ich hatte ein gutes Gespräch in der Einrichtung und konnte eine der Gruppen besuchen. Die Atmosphäre war entspannt. Es gab helle Räume, einen großen hölzernen Esstisch im Zentrum und eine Korbschaukel auf der Terrasse. Ich erfuhr, dass sie nur in Ausnahmefällen verschließbare Pflegebetten hatten. Für nachtaktive Kinder gab es eigene Nachtwachen, die aufblieben, um sich zu kümmern, und nicht – wie Mütter – schlafen mussten. Mich beruhigte das, denn es ist eine meiner größten Ängste, Willi könnte irgendwo weggeschlossen werden. Ich konnte mir vorstellen, dass Willi an dem Ort im Notfall gut aufgehoben wäre, und das fühlte sich gut an.

Trotzdem rechnete ich nicht mit dem Notfall. Ich wollte nicht, dass Willi vor dem Erwachsenenalter auszieht. Er sollte seine zwölf Jahre Schule zu Ende bringen und dann mal schauen … Mein Mann war bereiter, Willi in die Welt zu entlassen. Vielleicht war er aber auch einfach nur erschöpfter. Ich wollte Matthias damals entgegenkommen und außerdem eine Absicherung, dass Willi gut untergebracht wäre, sollte ich krank werden.

Wer aber krank wurde, war Olivia.

Sie erholte sich nicht von ihrer Corona-Infektion, sondern erkrankte an einer schweren Form von Long Covid: an ME/CFS, dem postviralen, chronischen Fatigue-Syndrom. Was mit körperlicher Erschöpfung begann, weitete sich zu einer Multi-Systemerkrankung aus, die ihr Immun- und Nervensystem in einen schweren Ausnahmezustand versetzte. Unsere Tochter wurde innerhalb von drei Monaten komplett bettlägerig, sie konnte nicht mehr sitzen oder auch nur den Kopf heben. Sie hatte starke Schmerzen sowie extremen Schwindel und Geräuschempfindlichkeit. Sie litt unter der – für diese Erkrankungen typischen – „Belastungsintoleranz“, was bedeutet, dass sich ihr Zustand durch Belastung verschlechterte. Und belastend war für Olivia bald jedes Geräusch und jede Person, die sich im Raum bewegte. Das hieß nicht nur, dass alle Krankenhausaufenthalte sie noch kranker machten, sondern auch, dass ein Leben mit ihrem lebensfrohen, laut Musik hörenden und lautierenden Bruder im selben Haus unmöglich wurde. Olivia war plötzlich schwerer behindert als Willi. Im Pflegebett vegetierte sie vor sich hin, zu schwach, um auf den Toilettenstuhl zu kriechen.

Dazu kam, dass kein Krankenhaus sie behandeln wollte. Die Diagnosemöglichkeiten und medizinische Versorgungslage für ME/CFS sind denkbar schlecht, da klinische Studien fehlen. Man versuchte außerdem, die Erkrankung als psychosomatisch abzutun: Aus der Sicht der Ärzt:innen lag es auf der Hand, dass bei einem Mädchen mit einem schwer behinderten Bruder die Psyche der Auslöser sein musste.

Es wurde die größte Zerreißprobe unseres Lebens, unsere beiden Kinder nebeneinander im selben Haushalt zu pflegen.

Willi konnte den Zustand seiner Schwester nicht verstehen. Krankheit, Gesundheit – das ist für ihn zu abstrakt. Willi fragte oft nach Olivia, akzeptierte aber, dass er nicht zu ihr durfte. Doch sich leise zu verhalten, ist für Willi unmöglich. Ich weiß nicht, was wir getan hätten ohne unsere Eltern, die Willi abwechselnd an den Wochenenden zu sich nahmen.

Ich beantragte auch Unterstützung durch einen Pflegedienst. Willi war nach der Coronazeit, in der wir das Haus kaum verlassen konnten, nicht annährend auf sein altes Aktivitätsniveau zurückgekehrt. Ich hatte das Gefühl, er sei deutlich „autistischer“ geworden. Er wollte nicht mehr nach draußen, außer um zur Schule oder zu Oma und Opa zu fahren. Neben meinem massiv schlechten Gewissen, Willi so viel fremdbetreuen zu lassen, machte ich mir Sorgen, ob die Mitarbeiter:innen vom Pflegedienst mit ihm überhaupt zurechtkommen würden. Wie sollten sie Willi dazu bringen, mit ihnen zu gehen, wenn das schon für mich enorm schwierig geworden war. Doch es zeigte sich etwas Überraschendes: Willi war begeistert, dass plötzlich junge Leute kamen, um mit ihm etwas zu unternehmen! Er zog sofort freiwillig seine Schuhe an, winkte kurz in meine Richtung und rannte mit ihnen los – egal wohin.

Das war für mich wie eine Offenbarung: Willis Verhalten war gar nicht grundsätzlich abwehrender und seine Bereitschaft, das Haus zu verlassen, nicht geringer. Es hatte nur einfach keine Lust mehr, mit seiner Mutter loszuziehen – das normalste Verhalten der Welt für einen 15-Jährigen.

Wir hatten keine Wahl, wir stellten einen Antrag auf „Unterbringung“.

Als sich abzeichnete, dass für Olivia keine Therapie in Aussicht war und ihr Zustand chronisch sein würde, nahmen wir Kontakt zu der Wohneinrichtung auf, die ich im Januar besichtigt hatte, und stellten bei der Behörde einen Antrag auf „Unterbringung“. Das war in dem Moment keine schwierige Entscheidung, denn wir hatten keine Wahl.

Es ging mir zu dem Zeitpunkt sehr schlecht. Meiner Arbeit konnte ich, trotz vertraglicher Verpflichtungen, nicht mehr nachkommen. Es gab für mich wortwörtlich keine freie Minute. Neben der Pflege der beiden Kinder wurde ich vom Gesundheitssystem bei der Behandlung der Erkrankung meines Kindes praktisch alleingelassen: Ich las unzählige Studien und nahm verzweifelt Kontakt zu Ärztezentren auf, die mein Kind aber allesamt nicht behandeln wollten oder konnten.

Auf der anderen Seite erlebten wir auch großartige Unterstützung. Die Sachbearbeiter:innen in der Behörde bearbeiteten unseren Fall in nur wenigen Wochen. Die Wohneinrichtung setzte alles daran, einen freien Platz für Willi zu schaffen, und organisierte sogar eine Mitarbeiterin, die Willi zweimal in der Woche bei uns zu Hause abholte und mit ihm in die Gruppe fuhr, um ihn dort einzugewöhnen. Die Pflegeeinrichtung, in der Willi jährlich eine Woche Urlaub verbrachte, gab ihm einen frei gewordenen Platz, damit wir seine Schulferien überbrücken konnten. Außerdem trugen uns unsere wundervollen Freunde, unsere Familie durch diese schreckliche Zeit: Wir bekamen Briefe, Päckchen und Hilfsangebote jeglicher Art. Ich fand immer wieder Blumen, Karten oder Kuchen vor meiner Tür, und niemand trug es uns nach, dass wir uns nicht einmal bedankten.

Als der Tag von Willis Auszug kam, war ich mit Olivia in einem Krankenhaus außerhalb Hamburgs, in dem man bereit war, einen Behandlungsversuch zu wagen.

Ich konnte Willi nicht begleiten.

Bis heute schmerzt mich das. Ich habe weder seine Sachen gepackt noch sein Zimmer für ihn eingerichtet. Willi war das wahrscheinlich ziemlich egal. Sein Vater war bei ihm. Dem wäre ich wohl ohnehin nur auf die Nerven gegangen, wenn ich beim Schrankeinräumen gemeckert hätte, weil er die zu kleinen oder kaputten Hosen eingepackt hatte. Trotzdem, für mich wäre es gut gewesen, dabei zu sein. Ich habe es bis heute nicht ganz verarbeitet, dass mein behindertes Kind vor seinem 18. Geburtstag ausgezogen ist. Das war nicht der Plan. Aber was ist mit Willi schon jemals nach Plan gelaufen?

Heute, ein Dreivierteljahr später, geht es Olivia wieder gut. Die Behandlung – eine Immunadsorption – hat angeschlagen und sie erholte sich zu fast 100 Prozent im darauffolgenden halben Jahr. Willi kommt jedes zweite Wochenende zu uns nach Hause. Schon beim Abholen fragt er nach seiner Schwester. Als es ihr endlich besser ging und er zu ihr ins Bett durfte, hat er sich wahnsinnig gefreut – und dann für den Rest des Tages mit der Fernbedienung das Pflegebett hoch- und runtergefahren.

Willi kommt gerne nach Hause. Aber er fährt auch gerne zurück in sein neues Zuhause.

Oft werde ich gefragt, was er dort an den Nachmittagen macht. Aber ich weiß das ehrlich gesagt nicht so genau, und das ist wahrscheinlich auch altersentsprechend. Ich weiß, dass er einen Freund hat, der aus Mazedonien stammt. Sie chillen zusammen auf dem Bett und hören extrem lauten und schnellen Balkanbrass – wie auch immer man dabei „chillen“ kann. Und ich weiß, dass es mir nicht gefällt, dass er keine Murmeln in seinem Zimmer haben darf, weil er sie überall verteilt.

Ich weiß auch, dass ich Willi vermisse. Gleichzeitig aber genieße ich es, nach 15 Jahren zum ersten Mal nicht mehr 24 Stunden verantwortlich zu sein und nicht mehr jede freie Stunde abwägen zu müssen, wie ich sie verwende: für Arbeit, Olivia, Zeit mit meinem Mann oder sogar für mich allein?

Matthias würde am liebsten sofort einen VW-Camper für einen Urlaub zu zweit kaufen. Während ich mich frage, wie wir nach so langer Zeit der Fremdbestimmung wohl „allein“ miteinander auskommen, stellt er Fragen zu Allradantrieb und Klappdächern. Olivia empört sich darüber, dass ihr Vater sagt, sie würde bald ohnehin alleine Urlaub machen wollen. Und Matthias ist überrascht, dass ich im Sommer weiterhin mit Willi Urlaub machen möchte. Natürlich nicht die ganzen Ferien – eine oder zwei Wochen reichen. Denn nach jedem Wochenende mit Willi wundere ich mich, wie wir das eigentlich so viele Jahre durchgängig ausgehalten haben.

Manchmal werde ich gefragt, warum Willi jetzt nicht wieder nach Hause kommt.

In dem Moment spüre ich dann deutlich mein schlechtes Gewissen. Ich muss mir dann eingestehen, dass ich in den Zustand des dauerhaften Funktionierens zwar zurückkönnte, es aber nicht möchte. Ich möchte nicht mehr jeden Nachmittag meines Lebens mit Murmeln und Blasmusik und den Abend neben der Toilette verbringen oder nachts schlimme Windeln wechseln. Ich möchte Sport treiben, arbeiten und wieder etwas unternehmen. Ich möchte Freunde besuchen und Konzerte, die nicht von Blasorchestern gespielt werden. Ich möchte nicht mehr jeden Wochentag um 6:30 Uhr ein Kind zum Schulbus bringen müssen. Ich möchte nachts durch- und jedes zweite Wochenende ausschlafen!

Das alles erzähle ich aber nur guten Freunden und anderen Eltern behinderter Kinder. Denn sie verstehen mich. Sie verstehen auch, dass ich mich dafür schäme, dass mein Kind „im Heim“ ist, obwohl ich weiß, dass ich mich nicht schämen müsste.

Gegenüber denjenigen, die schon seit Jahren fanden, wir hätten Willi „weggeben“ sollen, gebe ich das nicht zu. Diesen Leuten erzähle ich weder von meinem Schmerz noch davon, wie sehr ich meine neue Freiheit genieße. Ihnen erzähle ich, dass sich Willi in seiner Gruppe sehr wohlfühlt und er viel mehr Kontakt mit Gleichaltrigen hat, dass er viel aktiver ist und sich dort auf seinem Weg ins Erwachsenenleben unabhängiger entwickeln kann. Denn auch das ist die Wahrheit.

Autorin: 

Birte Müller, geboren 1973 in Hamburg, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Seit sie Kinder hat (eins davon mit extra Chromosom), schreibt die ausgebildete Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Kolumnen – zurzeit für die taz über ihre „Schwer mehrfach normale Familie“. Sie erschienen auch in Buchform unter dem Titel „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“.

E-Mail: birte@illuland.de