Sie wollen weiterlesen?

Dann Ausgabe bestellen und den ganzen Heftinhalt genießen …

… oder jetzt gleich für das Online-Abo entscheiden und vollen Zugriff auf mehr als 1000 Artikel der Zeitschrift Menschen. erhalten.

Ein schwarz-weiß gemaltes Bild. Auf einem Ast sitzt ein Hahn und auf dem sitzt ein Igel, der einen kleinen Dudelsack hält. Im Hintergrund sieht man Berge.

Foto: © Hannah Jessen-Asumssen
aus Heft 2/2023 – Serie
Anna Buning

Krisen- und Konfliktverarbeitung in Märchen

Gestalt und Inhalt von bildender und darstellender Kunst sind abhängig von den Bedürfnissen ihrer Rezipient:innen. Doch welchen Bedürfnissen entspricht das Märchen?

Neben der künstlerischen Form mit seinem unverwechselbaren Stil und der einheitlichen Struktur bieten Märchen die Möglichkeit, differenziert innere Prozesse anzuregen, die individuelle Problemlösungen aufzeigen. In den verschiedenen Märchenforschungen besteht Einigkeit darüber, dass durch Märchen Erfahrungswerte über einen sehr langen Zeitraum weitergegeben werden. Diese Erfahrungen beziehen sich in erster Linie auf den Umgang mit Problemen und Konflikten der menschlichen Existenz. Märchen sind demnach substanzielle Erzählungen, die gelungene oder nicht gelungene Lösungen dieser Krisen beispielhaft darlegen und somit Entwicklungsprozesse offenbaren. Menschen in Krisen hilft es häufig, über ihre Probleme und deren bewusste und unbewusste Verarbeitung, z. B. in ihren Träumen, zu sprechen oder diese niederzuschreiben. Eine interessante Frage wäre daher, ob Märchen vielleicht aus dem erinnernden Erzählen des Umgangs mit krisenhaften Lebenssituationen entstanden sind.
Auf jeden Fall hat das Märchen als Anregung zur Lösung von innerseelischen, aber auch äußeren Konflikten seine Beliebtheit über Jahrhunderte erhalten. Das Besondere dabei ist, dass es nicht rational faktisch vorgeht. Es stellt den Lernprozess in symbolischer Sprache bzw. in überindividuellen Bildern dar. Sie sprechen nicht nur den Verstand, sondern auch die Seele an und wirken somit ganzheitlich. Anhand des Märchens „Hans mein Igel“ (Brüder Grimm 2008, 118–123) und in Anlehnung an den „Komplementär-Spiralweg – Krise als Chance“ von Erika Schuchardt (2018), der verblüffende Parallelen zum Handlungsverlauf des Märchens aufweist, soll die Darstellung von Krisenbewältigung in Märchen beispielhaft verdeutlicht werden.

„Hans mein Igel“
Kinder, die nicht den Erwartungen entsprechen

Ein Bauernehepaar, dem es materiell an nichts fehlt, möchte unbedingt ein Kind. Dies auch, um der sozialen Norm zu entsprechen, denn die anderen Bauern spotten schon. So will der Vater ein Kind „erzwingen“ „und sollt’s ein Igel sein“ (Brüder Grimm 2008, 118). Und das geschieht: Die Frau bekommt ein Kind, „das war oben ein Igel und unten ein Junge“ (ebd.). Vielleicht ein Kind mit einer Auffälligkeit? Ein Kind, das nicht den Erwartungen der Eltern entspricht? Die Mutter ist über ihren Sohn tief erschrocken und gibt ihrem Mann die Schuld: „‚Siehst du, du hast uns verwünscht‘“. (ebd.) Am Anfang einer Krise stehen nach Schuchardt (2018, 37) in der Spiralphase „Ungewissheit“ der Schock und die Abwehr. „Der Krisenauslöser […] schlägt wie ein Blitz ein, zerstört ein durch Normen geordnetes […] Leben.“ (ebd.) „Euer Markus ist ja gar kein richtiger Mensch, das ist ja ein halbes Tier“, zitiert Schuchardt die Äußerung eines Mädchens über ein Kind mit Behinderung (Müller-Garnn 1977, zit. in ebd., 95).
„Was kann das alles helfen, getauft muss der Junge werden“ (Brüder Grimm 2008, 118). Der Vater will die Fassade wahren, einen Namen soll er bekommen: „Hans mein Igel“ (ebd.). Nicht einfach „Hans“, nicht „Hans mein Sohn“, als Ausdruck von Fürsorge, auch nicht nur „Hans der Igel“, was eine völlige Ablehnung bedeuten würde. In der zweiten Spiralphase „Gewissheit“ (Schuchardt 2018, 39) wird die Krise rational erfasst, aber sie kann noch nicht emotional verarbeitet werden. Der Name zeigt das Hin-und-her-gerissen-Sein der Eltern.
Der Pfarrer bestärkt die Eltern: „‚Der kann wegen seiner Stacheln in kein ordentlich Bett kommen.‘ Da ward hinter dem Ofen ein wenig Stroh zurechtgemacht und Hans mein Igel daraufgelegt.“ (Brüder Grimm 2008, 118) Die Mutter ist nicht einmal bereit, ihr Kind zu stillen: „Er konnte auch […] nicht trinken, denn er hätte sie mit seinen Stacheln gestochen“ (ebd.). In der dritten und vierten Spiralphase, „Aggression“ und „Verhandlung“ (Schuchardt 2018, 41–43), wird nach einem Weg gesucht, um mit der Situation umzugehen. Das Erkennen der Krise ist nach Schuchardt mit einer emotionalen Aggressivität verbunden. Hans wird von der Mutter weggestoßen, sie will ihn nicht stillen und nicht zärtlich umsorgen. Er wird acht Jahre lang hinter den Ofen gelegt. Die Aggression wird gerade durch die knappe Darstellung im Text als besonders brutal wahrgenommen.
Der Vater wünscht sich sogar, dass Hans stirbt. Der Todeswunsch macht die Verzweiflung der Eltern deutlich. Sie lassen durch ihre Resignation acht Jahre ungenutzt, um ihr Kind zu fördern. Schuchardt zitiert die Mutter eines Kindes mit einer schweren Intelligenzminderung: „Wie oft entrang sich meinem Herzen der Aufschrei, es wäre besser, wenn mein Kind stürbe.“ (Buck 1952, zit. in ebd., 60) Kennzeichnend für die fünfte Spiralphase „Depression“ sind das „Vergraben der Hoffnung“ und das Sinken „in den Abgrund […] der Resignation“ (ebd., 43).
Als der Vater zu einem Markt fährt, fragt er Hans, was er mitbringen soll. Dieser bittet ihn: „‚Väterchen, […] bring mir doch einen Dudelsack mit.‘“ (Brüder Grimm 2008, 118) Hans sucht sich einen Dudelsack aus, ein Instrument, das in der Kunstmusik kaum eingesetzt wird, mit dem er aber lautstark auf sich aufmerksam machen kann. Er sagt: „‚Väterchen, […] lasst mir meinen Göckelhahn beschlagen, dann will ich fortreiten.‘“ (ebd., 119) Hans akzeptiert, dass er sich in seinem Umfeld nicht weiterentwickeln kann. Er nutzt einen Hahn zur Fortbewegung, ein Tier, das mit einem Pferd als Reittier nicht mithalten, aber fliegen kann und einen gewissen Stolz ausdrückt. Hans kann „stolz wie ein Hahn“ sein, da er selbst die Initiative ergreift. In der sechsten Spiralphase „Annahme“ können die Betroffenen ihre individuellen Eigenarten anerkennen, sie wollen ihr Leben „erleben und erlernen“, „nicht mehr gegen, sondern mit der Krise“ leben (Schuchardt 2018, 44). In der Auswahl seiner Wünsche zeigt Hans, dass er sich innerhalb seiner Grenzen akzeptiert. 
Hans reitet fort und nimmt Schweine und Esel mit, die er hütet und die sich reichlich vermehren. Er lernt, auf dem Dudelsack Musik zu spielen, „die war sehr schön“ (Brüder Grimm 2008, 119). Er hat Begabungen entdeckt, durch die er sich ausdrücken und entfalten kann. Diese Entwicklung wird durch Begegnungen beeinflusst, die er aktiv mitbestimmt: Er hilft zwei Königen, die sich verirrt haben, den Weg zu finden. Für die Leistung möchte er Lohn, seine Fähigkeiten sind etwas wert. Die Könige sollen ihm das geben, was ihnen „zuerst begegnete am königlichen Hofe“ (ebd.). Hans erfährt aber auch Negatives: Als er die riesige Herde Schweine zurück ins Dorf führt, um zu zeigen, was aus ihm geworden ist, kann ihn sein Vater immer noch nicht annehmen. Der Vater hat sich nicht weiterentwickelt. Hans lässt sich nicht entmutigen und reitet zum ersten Königreich. Auch dort wird er enttäuscht, der König will das Versprechen nicht halten, denn es war die Königstochter, die ihm zuerst begegnet war. Hans zwingt die Königstochter, mit ihm in einer Kutsche mitzufahren. Jedoch merkt er, dass ihn eine Beziehung, die auf Zwang aufbaut, nicht erfüllen kann. Er schickt die Königstochter zurück. In der siebten Spiralphase „Aktivität“ erkennen die Betroffenen, „dass es ja nicht entscheidend ist, was man hat, sondern was man aus dem, was man hat, macht“ (Schuchardt 2018, 45, Herv. im Original). Hans nutzt seine Möglichkeiten zur Entwicklung und Begegnung. Indem er aktiv mit den Erfahrungen umgeht, kann er sogar aus dem Negativen lernen.
Der zweite König und seine Tochter halten ihr Versprechen. Die Tochter ist trotz seiner Eigenarten bereit, sich auf ihn einzulassen. Hans kann seine Igelhaut ablegen, weil er angenommen wird. Die „Solidarität“ als letzte Phase einer erfolgreichen Krisenverarbeitung in Schuchardts Spiralmodell ist Ausdruck „einer angemessenen sozialen Integration“ (ebd., 46). Es erwächst „der Wunsch, selbst in der Gesellschaft verantwortlich zu handeln“ (ebd., 45). Hans übernimmt Verantwortung, indem er das Königreich übernimmt und sowohl seinen Vater als auch seine Braut in sein neues Leben integriert. So kann er als Vorbild seine Erfahrungen an andere weitergeben und zu einem Umdenken im bestehenden Werte- und Normsystem der Gesellschaft beitragen.

 

Literatur

Brüder Grimm (2008). Kinder und Hausmärchen (Bd. II). Stuttgart: Reclam, 118–123.
Schuchardt, E. (2018). Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen (14., veränderte und erweiterte Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Autorin:

Anna Buning ist Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie leitet das bundesweite Hilfsprojekt KidKit, arbeitet in einer psychotherapeutischen Praxis am Niederrhein und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung der Katholischen Hochschule NRW.