Thema der Ausgabe 2/2023:

Die Macht der Zärtlichkeit

In der Welt der Starken, Mächtigen und Gewaltvollen breitet sich Verrohung aus und schleichend gewöhnen wir uns daran. Zärtlichkeit ist ein wirksames Mittel gegen diese Verrohung.

(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Die Macht der Zärtlichkeit

 

Wenn uns die Zärtlichkeit streift, wird die Welt tatsächlich zu einem Ort, in dem wir noch leben können. Es geht um einen zärtlichen Akt des Protestes gegen die Entfremdung, die Isolation und Verhärtung, die uns und die Wirklichkeit verletzen.
(Isabella Guanzini)
 
In einer Welt, in der Marginalisierten beigebracht wird, dass der Hass gegen sie legitim ist und sie diesen Hass verinnerlichen, ist der gemeinsame Kampf für eine andere Welt vielleicht die größte Zärtlichkeit, die ich mir und anderen Menschen entgegenbringen kann.
(Şeyda Kurt)
 
In einer zartsinnigen, den BewohnerInnen zärtlich zugewandten Institution wird deren Eigensinn zunächst einmal anerkannt, ihm nach Möglichkeit Raum gegeben und im Idealfall kultiviert.
(Jan Volmer)

 

Wir sind nicht naiv und haben schon in mehreren Heften gegen gewaltvolle, entwürdigende, furchtbare Übergriffe angeschrieben. Diesmal setzen wir dem vorherrschenden Monolog, in dem meist nur der Ton des Abgesangs und der Stärke vorherrscht, die Kraft und den Mut der Zärtlichkeit entgegen. Das Heft wurde konzipiert und kuratiert von Thomas Müller, einem Garanten für Qualität.

Şeyda Kurt will radikal und unnachgiebig sein. „Ich besitze eine Würde, die mir das uneingeschränkte Recht gibt, Zärtlichkeit zu empfangen und zu geben.“ Isabella Guanzini denkt Zärtlichkeit als Protest. Trotz der Hypothek, die auf diesem Wort lastet, ist sie davon überzeugt, dass gerade jetzt ein zärtlicher Akt des Protestes gegen die Isolation und Entfremdung neue, humanere Horizonte für unser Zusammenleben freisetzen kann.

Pierre-Carl Link und Robert Langnickel sind sich des ambivalenten Charakters von Zärtlichkeit bewusst, sie appellieren trotzdem: „Habt keine Angst vor der Zärtlichkeit!“ Zärtlichkeit stellt für sie einen äußerst wichtigen Bestandteil in der emotional-sozialen Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen dar.

Der Weg zur Zärtlichkeit führt nach Dieter Fischer über die Begegnung mit und die Erarbeitung von Schönem. Er spürt das Schöne sogar im Gefängnisalltag auf. „Zärtlichkeit lässt sich aus dem Schönen schöpfen, während Gewalt das Schöne zerstört.“
weiß, dass Menschen mit Komplexer Behinderung vielfach ausgrenzenden Erfahrungen ausgesetzt sind. Indem wir ihnen mit Zärtlichkeit begegnen, werden sie als Individuen mit Bedürfnissen und Rechten anerkannt. Dies bringt ihnen Anerkennung und Wertschätzung.
nicht einmal ein Tag im Kinderhospiz denkbar: Zärtlichkeit ist die Sprache jenseits aller Sprachen, die tragende Kraft, der unsagbare Trost, der in seiner lebendigen Macht auf das Leiden antwortet und es transformiert. „Es gilt, die eigene Zärtlichkeit verschwenderisch fließen zu lassen, um das Gegengewicht einer intimen, beseelten und mutigen Kommunikation zu schaffen, damit dem Tod der Ort gegeben werden kann, der ihm gebührt: nämlich mitten unter Menschen.“

Wäre es – für die Bewohner:innen wie für die Mitarbeiter:innen – nicht schön, wenn Zartsinn die Atmosphäre in unseren Institutionen prägen würde, fragt Jan Volmer. „Neben dem Sinn für die Ästhetik wäre es wohl vor allem die Kultur des Miteinanders zwischen den dort arbeitenden und lebenden Menschen, die über Wohl oder Weh des institutionellen Zartsinns bestimmen würde.“

Seit 26 Jahren schreibt Erwin Riess seine Kolumne „Aus Grolls Skizzenbuch“ in unserer Zeitschrift. Leider müssen wir diesmal seine letzte bringen, da Erwin Riess am 24. März 2023 verstorben ist. Die neue Behindertenanwältin für Österreich Christine Steger erinnert an diesen unverrückbaren „Nordstern“, wenn es um den Einsatz für die Rechte behinderter Menschen ging. Er war eine gewichtige, standhafte und wortgewandte Stimme. An vielen Orten wird er fehlen, nicht nur in dieser Zeitschrift. Da Erwin Riess das Wasser so geliebt hat, senden wir in großer Dankbarkeit letzte Donaugrüße.

 

Inhalt:

Artikel
Self-Love is the answer?
Gesten des Protestes
Mein Punk
Leben mit Behinderung im Tiefland Boliviens
Schweizer Studie zu Ressourcen und Kompetenzen
Inklusion im Supermarkt?
"Habt keine Angst vor der Zärtlichkeit!"
Schönheit und Strafvollzug bzw. Gefängnis - ein Widerspruch?
Zärtlichkeit und Komplexe Behinderung
Bis über den Tod hinaus
Zartsinn in Institutionen - ein Rahmen für Zärtlichkeit
Die "dringlichste aller Fragen"
Körperkult und Behinderung
Krisen- und Konfliktverarbeitung in Märchen
Art Brut: Kunst aus Gugging
Gedanken zu Zärtlichkeit
Er liebt Sport und will die Nummer eins im Tennis werden
Als ich Herrn Groll kennenlernte und Erwin mein Nordstern wurde
Lebensstationen
Radikale Inklusion