Ein gemaltes Bild: Ein Mann liegt auf einer Frau. Das Bild ist in scharzweiß gemalt und sehr banal in seiner Darstellung.

Konrad Wartbichler, Umarmung, 2022, Fineliner auf Papier, 21 x 21 cm; Konrad Wartbichler ist Künstler in der Medinewerksatt Lieboch, s. Seite 35

aus Heft 6/2022 – Fachthema
Concetta Pagano

Zur richtigen Nähe

Aus dem Französischen von Michael Angerer

Beim basalen Ansatz steht die Begegnung im Mittelpunkt. Doch wie begegnen sich ein Mensch mit schweren Behinderungen und seine Begleitperson? Wie erleben sie diese Begegnung im Alltag? Das Konzept der basalen Proxemik hilft dabei, die verschiedenen Aspekte dieser Begegnung aus der Perspektive der Gegenseitigkeit und der richtigen Nähe besser zu erfassen.

Wie erlebt ein Mensch mit schweren Behinderungen Begegnungen in seinem Alltag? Die Grundlage der basalen Stimulation besteht darin, den Menschen zu ermutigen, seinen eigenen Körper zu entdecken, zu erfühlen und zu „bewohnen“. Seine vielfachen sensorischen, motorischen, emotionalen und kognitiven Beeinträchtigungen hindern ihn je nach ihrer Schwere daran, primäre Erfahrungen im Einklang mit seinem Umfeld zu erleben. Körperliche Empfindungen, Gefühlszustände und kognitive Fähigkeiten können oft nicht vollständig erlebt werden, denn in der großen Mehrzahl der Fälle werden sie zu selten erkannt oder genutzt. Es ist daher unerlässlich, den Körper und seine Fähigkeiten zu „aktivieren“, indem man angemessene Anregungen bietet. Eines der Ziele der basalen Stimulation besteht also darin, das Umfeld des betroffenen Menschen zu vereinfachen, es seinem Wahrnehmungsniveau zugänglicher zu machen, sodass er die erhaltenen Informationen verstehen und gebrauchen kann und sie so für ihn im Rahmen der Begegnung an Bedeutung gewinnen.

Der Begriff der basalen Proxemik ist eine Reflexion, die auf meiner Erfahrung als Sonderpädagogin für Kinder mit mehrfachen Behinderungen, meiner Erfahrung als Ausbildnerin für Fachkräfte, meinen Arbeiten zu Halls Proxemik und meinen eigenen Überlegungen zu bestehenden Modellen der basalen Stimulation fußt. Diese Reflexion nahm Gestalt an, während ich meine zwei letzten Bücher verfasste,1 die mich zu regelmäßigem Austausch mit Andreas Fröhlich anregten. Orientierungsräume und Wahrnehmungsbereiche stellen ein sehr interessantes Modell dar, wenn man von der Wahrnehmung des Menschen und, genauer noch, von seinen Wahrnehmungs- und Orientierungsfähigkeiten spricht. Doch es ist die Begegnung, die beim basalen Ansatz im Mittelpunkt steht, und es fehlte mir ein weiter gefasster Zugang zur Wirkung dieser Begegnung zwischen der Begleitperson und der begleiteten Person aus der Perspektive der Gegenseitigkeit.

 

Die Proxemik nach Hall

Beim Begriff der Proxemik (vgl. Hall 1971) handelt es sich um einen Neologismus, der vom amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall (1914–2009) Anfang der Sechzigerjahre im Rahmen seiner Arbeiten zu nonverbalen Kommunikationssystemen entwickelt wurde und zur Beobachtung physischer Distanz zwischen Individuen derselben Kultur dient. Hall setzt den Schwerpunkt auf jene tief greifenden und im Allgemeinen nicht in Worten ausgedrückten Empfindungen, die Menschen aus derselben Kultur teilen und sich unbewusst mitteilen und die die Basis der Proxemik bilden.

E. T. HALL unterscheidet vier Distanzen: die intime, persönliche, gesellschaftliche und öffentliche Distanz (siehe Grafik 1). Jede dieser Distanzen hat zwei Formen: nah und weit. Unsere Wahrnehmung der jeweiligen Zonen ist dynamisch, denn sie ist handlungsbedingt (bedingt durch das, was in einer gegebenen Zone vollbracht werden kann). Wir beanspruchen jede Zone je nach unseren Fähigkeiten, unserer Persönlichkeit und unserer Erfahrungen. Manche Menschen können Schwierigkeiten mit ihrer intimen Zone haben und ertragen körperliche Nähe nicht. Andere benützen öffentliche Zonen kaum, weil ihr Temperament introvertiert ist und sie sich in der Öffentlichkeit unwohl fühlen. Dieses Konzept der Distanz ist komplex, denn die Mehrzahl der Mechanismen, die mit diesem Konzept verbunden sind, ereignen sich unterbewusst. Wir spüren andere, nah oder weit, ohne die Gründe dieser Nähe oder Distanz klar zu identifizieren. (s. Abb. 1)

 

Die Proxemik wird durch alle alltäglichen Situationen geprägt, in denen Menschen die physische Distanz zwischen einander zu regeln haben: Dies ist die informelle Zone.

Diese Zone wird auch bestimmt durch das materielle und menschliche Umfeld und die Objekte, die sich darin befinden.

 

Von der Proxemik zur basalen Proxemik

Das Konzept der Proxemik thematisiert also die verschiedenen sozialen Distanzen des Menschen. Die oben stehende Grafik zeigt die verschiedenen Zonen, in und zwischen denen sich jede:r Einzelne durchgehend bewegt.

 

Dieses Konzept bringt uns zum Nachdenken über die Vorstellung der Distanz, aber auch die des Raumes in der Begegnung mit einem Menschen mit schweren Behinderungen. Es ist genau in solchen Zonen, dass dieser Mensch bedeutsame körperliche, sensorische, zwischenmenschliche und emotionale Erfahrungen erlebt und, genauer noch, in seiner vitalen, seiner intimen und seiner sicheren Zone (Grafik 2, s. nächste Seite). So baut er sich auf, entwickelt sich und bahnt sich als Mensch seinen Weg.

 

Die Darstellung dieser Begegnungszonen legt den Schwerpunkt auf die Begegnung in diesen besonderen Zonen, schließt aber die anderen von Hall beschriebenen Zonen (gesellig, gesellschaftlich und öffentlich) keineswegs aus.

 

Laut Andreas Fröhlich muss die Begegnung mit einem Menschen mit schweren Behinderungen vor allem in der Zone stattfinden, die er beanspruchen kann und die je nach Schwere seiner Behinderungen, seiner Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustands größer oder kleiner ist. Der Orientierungsraum mancher Menschen ist sehr beschränkt; sie können sich stark zurückziehen oder sich in ihren Körper „flüchten“ (Abschottung). Eltern oder Begleitpersonen müssen achtsam sein, um sich anzupassen und auf die Wahrnehmungs- und Orientierungsfähigkeiten des einzelnen Menschen zu reagieren, sodass er in seiner Begegnungszone aktiv werden kann.

Diese Begegnung erfolgt im Wesentlichen über Berührungen und Bewegungen (somatischer Dialog). Dabei kommt es darauf an, sich dem Menschen anzunähern, ohne sich ihm aufzudrängen, ihn zu berühren, ohne ihn zu bedrängen, indem man ihm qualitätsvolle Berührungen bietet, sodass diese während alltäglicher Tätigkeiten als eine klare, informative und beruhigende Sprache erlebt werden. Dies erfordert von den Fachkräften, die diesen Menschen im Alltag begleiten, ein gewisses Können (Berührungsqualitäten), aber auch ein gewisses Bewusstsein (der Geduld, des Zuhörens, die richtige emotionale und körperliche Nähe). Diese besonderen Momente in einem sehr nahen und zärtlichen körperlichen Kontakt – egal ob sie von Eltern oder Fachkräften geboten werden – fördern die Fähigkeiten des begleiteten Menschen, seine Gefühle zu kontrollieren und sensorische und körperliche Empfindungen zu erleben, um sich selbst, andere und schließlich die ihn umgebende Welt zu entdecken.

Dennoch kann es anfangs schwierig sein, den somatischen Dialog anzubieten. Die Berührung ist für den Menschen mit schweren Behinderungen, aber auch für die Begleitperson oder die Eltern oft problematisch. Ersterer hat oft Schwierigkeiten damit, berührt zu werden oder zu berühren. Andererseits kann sich die Begleitperson gegenüber diesem Menschen, der sich nicht berühren lässt oder Angst, Widerstand oder Schmerz zeigt, schwertun. Die Begleitperson kann Angst verspüren, sich ungeschickt oder hilflos fühlen oder sich davor fürchten, ihm wehzutun, wenn sie ihn oder sie berührt oder bewegt. Dieser „Teufelskreis“ bekräftigt die Begleitperson im Gedanken, dass es umso besser sei, je weniger der Mensch mit schweren Behinderungen berührt werde. Im Alltag reduzieren sich die Begegnungszeiten, während derer dieser berührt und bewegt wird, oft auf unabwendbare tägliche Momente wie die Toiletten- oder Pflegezeit. Je schwieriger die Berührung während dieser täglichen Momente ist, desto mehr wird die Zeit für Pflege oder Toilette zum „Wohle“ des Menschen mit schweren Behinderungen reduziert, sodass diese Momente für ihn, aber auch für die Begleitperson nicht beschwerlich sind. Diese Vorstellung ist noch heute in gewissen Institutionen tief verwurzelt: Alltägliche Tätigkeiten gelten nicht als bedeutsame Begegnungsmomente und somit auch für den Menschen im Kindes- oder Erwachsenenalter – in der Entwicklung seiner sensorischen, körperlichen, zwischenmenschlichen und kognitiven Fähigkeiten – nicht als bedeutsame Momente.

 

Die basale Proxemik: richtige Nähe und tägliche Begegnungszone

Von der Geburt an lernt das Kleinkind durch die Berührung der Hände und der Haut, durch den Geruch, durch den Laut der Stimme und den Blick, der beruhigt oder umhüllt, durch die abgegebene Körperwärme, was sein Körper ist und was der Körper der anderen ist. Diese basalen Erfahrungen stellen eine Quelle der Beschwichtigung und des Sicherheitsgefühls für das Kind dar, wenn sie wiederholt werden. Somatische Informationen (das Fühlen seines Körpers und seiner körperlichen Umhüllung), vestibuläre Informationen (das Fühlen seines Körpers durch die Bewegung) und vibratorische Informationen (das Fühlen seiner Körpertiefe, seines Skeletts) stellen eine notwendige Basis dar (basale Wahrnehmung), um sich den eigenen Körper vorzustellen und einfache, elementare Erfahrungen zu erleben, die die Entwicklung optimal fördern.

 

Die körperbasierte Kommunikation und im weiteren Sinne die sogenannten basalen Empfindungen (somatische, vestibuläre und vibratorische basale Wahrnehmungen) können Begegnungen in der richtigen körperlichen und emotionalen Nähe ermöglichen, die sich im Wesentlichen zwischen den täglichen Begegnungszonen (vital, intim und sicher) des Menschen mit schweren Behinderungen befindet. Sie machen es der Begleitperson möglich, ihre Entdeckungs- und Erkundungsangebote – in einem beruhigenden Rahmen – auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des jeweiligen Menschen anzupassen.

Die vitalen, intimen und sicheren Zonen stellen die tägliche Begegnungszone zwischen dem Menschen mit schweren Behinderungen und der Begleitperson dar: Dies ist die basale Proxemik. Diese ineinandergreifenden Zonen sind nicht starr, und wir müssen sie uns als dynamische Zonen vorstellen, die von der Entwicklung des jeweiligen Menschen (von der Geburt bis zum Erwachsenenalter), von seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten nach einem ganzheitlichen Modell abhängen (Grafik 3). Zum besseren Verständnis veranschaulicht die Illustration oben rechts dieses Konzept.

 

Das Modell der Ganzheitlichkeit, geschaffen von Andreas Fröhlich (vgl. Fröhlich 2001), ist ein wertvolles Werkzeug, um die Bedürfnisse eines Menschen mit schweren Behinderungen zu erkennen und seine Fähigkeiten zu definieren. Dieses Modell beschreibt die sieben Aspekte der Persönlichkeit, die dem psychischen, physischen, emotionalen, zwischenmenschlichen und kognitiven Aufbau jeder:jedes Einzelnen entsprechen. Diese Aspekte (wahrnehmen, kommunizieren, sich bewegen, seinen eigenen Körper erfahren, Gefühle erleben, verstehen, andere Menschen erfahren) sind verschränkt und gekennzeichnet durch stetige Interaktionen, die es dem Menschen ermöglichen, während seiner Entwicklung bedeutsame Erfahrungen zu erleben.

Die Handgriffe alltäglicher Momente sind reich an Botschaften, Erfahrungen und Annäherungen, können aber, wenn wir nicht achtsam sind, routiniert und sinnbefreit werden. Doch was für uns Routine ist, ist es für Menschen mit schweren Behinderungen nicht. Das Alltägliche zu erleben ist eine notwendige Bedingung, um voranzukommen, ein unabdingbarer Orientierungspunkt, um seinem Leben einen Sinn zu geben: Die tägliche Routine lässt uns leicht vergessen, dass jeder Tag für viele Menschen mit mehrfachen Behinderungen ein neuer Anfang ist und dass sie jedes Mal Orientierungspunkte rekonstruieren müssen, die es ihnen ermöglichen, sich in ihrem Körper und ihrem Umfeld zu orientieren (vgl. Fröhlich 1998).

Wir betreten die Intimsphäre eines Menschen mit schweren Behinderungen meistens, ohne dazu aufgefordert zu werden, weil dies im Tagesverlauf notwendig und unausweichlich ist. Diese Begegnung erfordert absoluten Respekt für die Intimität einer:eines jeder:jeden Einzelnen. Intimität, vom Lateinischen (Superlativ) intimus, bedeutet: sehr tief. Sie bezeichnet unser tiefstes inneres Leben, unsere grundlegende Wesensart, das, was gewöhnlicherweise unter der äußeren Erscheinung verborgen bleibt (geheim); das Privatleben eines Menschen oder eines Paares (streng persönlich), sentimentale Beziehungen (mit oder ohne Sensualität), gekennzeichnet von einer tiefgründigen Verbundenheit, einem gegenseitigen Vertrauen, einer großen affektiven Wärme und einem ehrlichen Einvernehmen (Liebe, Freundschaft). Sie bezeichnet auch das, was zum geheimen erotischen Leben (mit Körperkontakt) und zu sexuellen Beziehungen gehört.

Intimität und Selbstwahrnehmung gehören zusammen, denn unsere Fähigkeit, unseren Körper als unseren zu beanspruchen und zu erleben, setzt voraus, dass wir ihn von außen (im Spiegel) und von innen erkennen (alle sensorischen und motorischen Empfindungen in unserem Körper erleben und übernehmen). Die Intimsphäre eines pflegebedürftigen und verletzlichen Menschen mit Respekt und Empathie zu betreten, erlaubt es ihm, seinen Körper als seinen zu erleben und bedeutsame Erfahrungen zu sammeln, die es ihm ermöglichen, seinen Körper besser zu verspüren und wahrzunehmen.

Kommen wir zurück zum gewöhnlichen Alltag eines sehr pflegebedürftigen Menschen: Wie beginnt er seinen Tag? Wie beendet er ihn? Wie erlebt er die Momente, die seinen Tag ausmachen? Er beginnt gewöhnlicherweise mit dem Aufwachen in seinem Bett (seiner vitalen Zone) in seinem Zimmer (seiner intimen Zone), mit der Toilette im Badezimmer (vitale, intime und sichere Zone). Dann wird er in seinen Stuhl gesetzt (vitale, intime und sichere Zone), um sich zum Frühstück zu begeben. Oft kann er nicht alleine essen, die Begleitperson gibt ihm Essen und seine Medikamente (vitale, intime und sichere Zone). Nach dem Frühstück gibt es oft Freizeit: endlich eine gesellige Zone, die zu einem Moment der Begegnung werden könnte! Aber er kann sich nicht aufmachen, anderen zu begegnen, und die Begleitpersonen sind mit anderen Bewohner:innen beschäftigt. Also begnügt er sich mit der gesellschaftlichen Zone, in der er die Gespräche der Begleitpersonen, den Lärm des Fernsehers im Gemeinschaftsraum, die Musik im Badezimmer in der Ferne, die Schreie seiner:seines Nachbar:in mit anhört … Aus seiner gesellschaftlichen Zone kann zu diesem Zeitpunkt eine sensorische Chaoszone werden. Aus anderen freien Momenten des Tages wird manchmal eine leere Begegnungszone, gefühlsleer, sinnbefreit. Im Verlauf seines Tages könnten verschiedene Aktivitäten zu echten Begegnungszonen werden, je nach dem Grad an Gegenseitigkeit im Auftreten, der Verfügbarkeit und der Aufmerksamkeit des einzelnen Menschen und der Begleitperson. Betrachten wir einen täglichen Moment der Pflege:

 

David ist ein junger Mann mit mehrfachen Behinderungen, der in seinen motorischen und kognitiven Fähigkeiten stark eingeschränkt ist. Er leidet an einer Hornhautinfektion im rechten Auge, die zum Zeitpunkt der Toilette besondere Pflege erfordert. Die Krankenpflegerin kommt gewöhnlicherweise am Beginn der Toilette, um ihm Augentropfen zu verabreichen. David wendet unaufhörlich den Kopf, macht sich steif, seine Atmung wird schneller. Die Pflegehelferin schlägt vor, die Toilette stattdessen mit einem angenehmen und positiven Erlebnis zu beginnen. Die Gesichtspflege, die Rasur und das Zähneputzen werden ihm am Ende der Toilette angeboten, wenn er in seinem Stuhl sitzt. So ist David entspannter, und die Annäherung durch eine klare, beschwichtigende und umhüllende Berührung verringert seine Angst. Die Annäherungen sind rhythmisch, ritualisiert (die drei Stufen der Begegnung)2 und ohne Unregelmäßigkeiten. Während der Bewegungen und des Positionswechsels vermeidet die Pflegehelferin den „Klammergriff“ (auf Knöchel oder Handgelenke), der oft als unangenehm oder schmerzhaft empfunden wird, und bevorzugt stattdessen einen ganzheitlichen Griff, indem sie ihre Hand unter den Gliedmaßen platziert. David zeigt seine Fähigkeiten, am Positionswechsel mitzuwirken, durch sehr geringe, aber vorsätzliche Bewegungen dank des Mit-Handelns (Bewegungsbegleitung) (vgl. Affolter 1991). Während der Toilette fördern die Handtücher, die über seinen ganzen Körper gelegt werden (Oberkörper und Beine bis zu den Zehenspitzen), die Entspannung und seine körperlichen Empfindungen, sodass er nach und nach ruhiger wird. Er scheint es zu schätzen, gleichzeitig verbale und sensorische Informationen zu bekommen. Manchmal schlägt David seinen Kopf an den Duschwagen, was eine Bedeutung zu haben scheint: Die Pflegehelferin stellt wiederholt fest, dass diese Handlung mit Unbequemlichkeit oder Angst verbunden ist (das Handtuch unter seinem Kopf ist schlecht positioniert, oder er hat Angst, Wasser in die Augen zu bekommen). Da seine motorischen Fähigkeiten stark beschränkt sind, benützt er seine Kopfbewegungen zur Kommunikation. Er kann die Stärke seiner Bewegungen nicht kontrollieren, was auf den ersten Blick als abwertende Geste (sich an den Kopf schlagen) interpretiert werden kann, und nicht als Mitteilung einer Empfindung oder eines Gefühls. Am Ende der Toilette, während der Rasur, beginnt die Pflegehelferin mit der linken Seite des Gesichts (mit der Seite, auf der er sehen kann, anders als bei seinem schmerzenden Auge), damit er sich sicherer fühlt. Indem sie mit der linken Seite beginnt, wird seine Furcht gemindert, er scheint diese Annäherung sogar als angenehm und positiv zu erleben und deutet ein breites Lächeln an. Dann kommt die Augenpflege: Die Krankenpflegerin bietet ihm zuvor an, das Augentropfenfläschchen mit seiner Hand zu berühren. Danach führt sie Davids Hand durch Mikrobewegungen (kleine vibratorische Bewegungen von geringer Weite) schrittweise zum Auge. Das Fläschchen berührt allmählich die Augengegend, und David verfolgt das Erlebte zu diesem Zeitpunkt sehr aufmerksam: Er ist konzentriert und hört den beschwichtigenden Worten der Krankenpflegerin aufmerksam zu. Diese ergreift dann behutsam das Fläschchen und verabreicht ihm die Augentropfen. David seufzt und beginnt dann ein wenig zu lächeln.

 

Davids Situation zeigt, dass, sobald wir den Menschen in seiner Gesamtheit (seiner Ganzheitlichkeit) betrachten, sich seine Haltung ändert, weil sich unsere Haltung und unser Ansatz geändert haben: Wir beobachten seine Schwierigkeiten, seine Ängste, aber auch seine Fähigkeiten; wir laden ihn dazu ein, mitzuwirken, wenn auch nur sehr wenig; wir bieten ihm einen beruhigenden Rahmen und eine qualitätsvolle Berührung, die ihn trotz seiner sensorischen, motorischen und kognitiven Schwierigkeiten anregen, sich zu entspannen und sich von der ihm angebotenen Pflege angesprochen zu fühlen: durch die Aufmerksamkeit, die wir ihm schenken, indem wir ihn als ganzheitlichen Menschen betrachten, der fähig ist, zu kommunizieren, zu verstehen und seinen Körper und sein Umfeld wahrzunehmen, selbst in den schwersten Formen der Behinderung.

Heute ringen wir mit einem Virus (dem Auslöser von Covid-19), das uns zwingt, unsere proxemischen Gewohnheiten zu ändern, um Sicherheitsabstände einzuhalten. Es stört unsere sozialen, freundschaftlichen und familialen Beziehungen und bringt uns dazu, dem verbalen Aspekt der Kommunikation eine übergroße Bedeutung zuzumessen und unseren Gebrauch von sozialen Netzwerken, wo die Privatsphäre sich mit dem öffentlichen Leben vermengt, (noch mehr) zu steigern. Auf diese Weise unserer üblichen und gewöhnlichen proxemischen Orientierungspunkte beraubt, müssen wir uns auf unbestimmte Zeit auf unsere Kreativität verlassen, um unsere affektiven und sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Wie also benützt ein Mensch mit schweren Behinderungen seine informelle Zone3 (zwischen sich selbst, anderen und seinem Umfeld)? Seine beschränkte Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit erlaubt es ihm nicht, zu experimentieren und selbst Entdeckungen zu machen. In dieser Situation ist es für die Begleitperson schwierig, in der richtigen Nähe zu bleiben, während sie gleichzeitig eine sichere Distanz beibehält, denn es ist unerlässlich, auf seine Bedürfnisse einzugehen, damit er sich selbst (seinen eigenen Körper erfahren, sich selbst in seinem eigenen Körper erfahren, sich bewegen), andere (kommunizieren, Emotionen und Gefühle erleben, andere Menschen erfahren) und die Welt um sich herum wahrnimmt (wahrnehmen, verstehen). Jede Begegnung ereignet sich in einem besonderen Zeitraum; dem eines Raumes, der die richtige Nähe, aber auch eine andere Zeitlichkeit erfordert, als wir sie normalerweise kennen. Möglich ist diese Begegnung innerhalb einer basalen Proxemik, im Rahmen derer der Mensch sein ganzes Leben lang seinen Körper als Lebensraum, aber auch als alltäglichen Begegnungsraum wahrnehmen kann.

 

Fazit

Bei der Begleitung eines Menschen mit schweren Behinderungen kann die Begegnung anfänglich schwierig sein, wenn wir nicht wissen, wie komplex seine Beschwerden und seine Beeinträchtigungen sind, die sich verschränken, verstärken und auf sein psychisches und physisches Leben einwirken. Doch die richtige Nähe (sowohl physisch als auch psychisch) in der Begegnung erlaubt es uns, jenseits der Schwierigkeiten von schweren Behinderungen, dem Menschen im Hier und Jetzt entgegenzukommen und ihn auf seinem Weg zu begleiten, nach seinem Rhythmus und seinen Fähigkeiten: Laut Andreas Fröhlich entsteht Kommunikation zwischen Menschen, und eine Änderung in der Kommunikation betrifft auf gleiche Weise alle Betroffenen. Ändern wir das Kommunikationsniveau – wechseln wir also von der verbalen Sprache zur Bewegung und Berührung –, haben wir die Möglichkeit, uns gegenseitig entgegenzukommen: Ein basaler Dialog entsteht (vgl. Fröhlich 1998; Bienstein & Fröhlich 2020).

 

Literatur

Affolter, F. (1991): Perception, Wirklichkeit et Langage. Etoy: L’Espérance.

Bienstein, C. & Fröhlich, A. (2021): Basale Stimulation in der Pflege: Die Grundlagen. Bern: Hogrefe-Verlag.

Fröhlich, A. (1998): La stimulation basale, le concept. Édition SZH.

Fröhlich, A. (2001): La globalité du développement, schéma de l’hexagone, http://stimulationbasale.fr/V2/ouvrages-et-articles-andreas-frohlich/

Pagano, C. (2020): La stimulation basale, à l’écoute des personnes en situation de handicap sévère. Toulouse: Éditions Erès.

Pagano, C. (2022): Les bébés ne se ressemblent pas – Polyhandicap et Attachement. Bookelis.

Hall, E. T. (1971): La dimension cachée, Essais. Paris: Points. [E. T. Hall (1966): The Hidden Dimension. Doubleday.]

 

Fußnoten

1  Siehe Literaturverzeichnis am Ende des Artikels und Bild „L’Entre Deux Mots“, illustriert von C. Hudrisier.

2 Die „drei Stufen der Begegnung“ entsprechen einem Basisprinzip (und nicht einem Protokoll oder einer Regel) zum Markieren von Anfang und Ende der ritualisierten und persönlichen Berührung, sodass diese vom Menschen mit Behinderungen als eine klare und strukturierte Sprache verstanden und als beruhigende Erfahrung erlebt wird.

3 Nach Hall ist die informelle Zone gekennzeichnet durch alle täglichen Situationen, in denen Menschen die physische Distanz zwischen einander zu regeln haben. Sie wird ebenfalls durch das Umfeld und die darin befindlichen Objekte bestimmt.

 

Concetta Pagano ist seit 12 Jahren zertifizierte Ausbilderin für Basale Stimulation und Vorsitzende der Groupe Stimulation Basale France. Als Sonderpädagogin hat sie 20 Jahre lang Kinder mit schweren Behinderungen in Einrichtungen betreut. Als Biografin und Familientherapeutin entwickelt sie derzeit ein Biografieprojekt mit Menschen mit schweren Behinderungen. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und Artikel, darunter „La stimulation basale, à l’écoute des personnes en situation de handicap sévère“ (Basale Stimulation, Menschen mit schweren Behinderungen zuhören). Außerdem schreibt sie Jugendbücher, um Kinder und Lehrer für Mehrfachbehinderungen zu sensibilisieren. Sie setzt sich sehr aktiv für die Förderung der Basalen Stimulation in Frankreich ein und arbeitet mit Prof. Andreas Fröhlich zusammen.

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