Drei schemenhafte Gesichter, wobei das linke und mittlere weiße Gesicht auch einen angedeuteten Körper besitzen. Das rechte Gesicht ist schwarz. Weiße Linien und eine schwarze Linie, welche gerade oder kurvig verlaufen sind über das Bild verteilt zu finden. Eine hellblaue Hand greift vom linken oberen Bildrand zur Mitte hin. Der Hintergrund ist in olivegrün gezeichnet.

Verstehensmoment

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 6/2022 – Körperdialog
Lucia Kessler-Kakoulidis

Moments of meeting im Körperdialog

Der Körper als expressives Mittel zur Kommunikation bei Menschen mit schwerer Behinderung. Der Zugang in die Welt erschließt sich für den Menschen über seinen Körper. Im Kontakt mit Menschen mit schwerer Behinderung wird deren Körpersprache häufig zur wesentlichen Ausdrucksform in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld. Dabei erweist sich der leibliche Dialog als kulturschöpferischer Beitrag in unserer Gesellschaft. Wie sich an zwei Falldarstellungen zeigt, werden im Verstehen von Körperdialog für uns Lernerfahrungen möglich, die helfen, zu mehr Verständnis untereinander zu kommen.

Dort, wo sich Menschen begegnen, findet Kommunikation statt. Sich mitzuteilen und auszutauschen ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen und zeigt sich in der sozialen Interaktion schon in der frühen Eltern-Kind-Beziehung. Jegliche menschliche Reaktion steht in Erwartung einer Gegenreaktion und will beantwortet werden. Nach Watzlawick ist es im interpersonalen Kontakt unmöglich, ‚nicht‘ zu kommunizieren (Watzlawick, Beavin & Jackson 2017), d.h., selbst nicht offensichtlich erkennbare Reaktionen im Verhalten eines Menschen sind als Reaktions-Botschaft bzw. Antwort im Rahmen der Begegnung zu verstehen. Wir kommunizieren dabei nicht nur mit der Sprache – die nicht sprachlichen Elemente in der Interaktion nehmen einen weitaus größeren Raum ein als die rein verbal-verstandesmäßige Übermittlung einer Botschaft. Nonverbale Kommunikation findet nicht nur dort statt, wo andere Wege der Informationsübermittlung aufgrund einer Behinderung verschlossen sind, sondern repräsentieren bei allen Menschen den größten Teil der gesamten Verständigung im Kontakt. Zusätzlich ist im Rahmen der Kommunikation von Bedeutung, wie der Verlauf einer zwischenmenschlichen Beziehung abläuft, d.h. wie Emotionen transferiert und geteilt werden. Dieses Erleben vollzieht sich vorrangig in „gemeinsamen Rhythmen, […] Begegnungen, Gesten, Zeichen und Gebärden“ (Stinkes 2020, 62) und wird von beiden als gemeinsam erlebte und „gelebte Geschichten (lived stories, Narratives)“ verinnerlicht (Trevarthen 2012, 82 in Steffens & Meyer 2020, 154, vgl. Stinkes 2020). Dabei ist eine verbale Verständigung nicht Voraussetzung, wesentlich sind vielmehr Achtsamkeit, Akzeptanz, Zuhörenkönnen, Resonanzfähigkeit und Empathie (Kessler-Kakoulidis 2016; Steffens 2019, 2020; Soulis & Kessler-Kakoulidis 2020).

In Körpergesprächen beheimatet

Es gibt verschiedenste Behinderungen, die es Menschen erschweren, sich verbal mit ihrer Umwelt zu verständigen. Dazu zählen nicht nur körperliche Behinderungen, sondern ebenso Menschen mit geistiger Behinderung, mit einer neurologisch-kortikalen Störung wie Demenz oder Aphasie und jene mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS), bei denen entweder aufgrund einer geistigen Behinderung oder bedingt durch den anders gearteten Gebrauch der Sprache im sozialen Kontext eine Beeinträchtigung in der verbalen Verständigung besteht. Sich auf den Körper als Mitteilungsorgan „reduzieren“ zu müssen, zeigt uns jedoch im Verlauf des Interaktionsgeschehens die Individualität des Menschen, die Intensität im persönlichen leiblichen Ausdruck und seine Bereitschaft und Offenheit zu einer erfolgreichen Verständigung. Alle körperlichen Reaktionen, die sich in Bewegung, Blick, Gestik, Lautierung und Haltung artikulieren, sind als persönlicher Ausdruck und Antwortreaktion zu verstehen. Sie sind gleich bedeutende Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt und gelten demgemäß als kulturelle Äußerungen (Soulis & Kessler-Kakoulidis 2020).

Jenseits von gesprochener Sprache

Im sozialen Kontakt entwickelt sich während jeder Begegnung ein weitgespanntes Geflecht an informativen Kontaktmomenten, die sich im Rahmen des raumzeitlichen Geschehens, wie ein Hin und Her im Ballspiel, als Reaktion – Beantwortung – Reaktion vollziehen. Dies geschieht jedoch nicht auf linearer Ebene, sondern jede noch so kleine Reaktion und Gegenreaktion ist eine Erweiterung und Fortführung des Dialogs und damit als Entwicklungsprozess zu verstehen. In dieser Hinsicht funktioniert jegliche Interaktion bei Menschen unabhängig von Behinderung. Dabei verfügen die somatischen Signale, die ausgesandt und empfangen werden, über eine größere Intensität und üben auf die:den Partner:in im reziproken Dialog eine intensivere Wirkung aus als die rein verbalen Aspekte. Im Bemühen, sich verständlich zu machen, artikuliert sich unser Körper bei Ausfall der verbalen Sprache in all seiner Eindringlichkeit. Sich auf Schmitz (2011) beziehend, unterscheidet Gugutzer (2020, 34) zwischen „leiblicher Kommunikation“, der er die „körperliche Interaktion“, d.h. das Agieren durch den Körper, gegenüberstellt. „Leibliche Kommunikation meint, dass ich den anderen oder das Andere unmittelbar an mir wahrnehme und mich dazu verhalte“ und ein „Paradebeispiel für leibliche Kommunikation [ist der] Blickkontakt“ (ebd.). Eine entsprechend große Rolle nimmt in der Interaktion die Berührung ein, die als leiblicher Kontaktausdruck par excellence angesehen werden kann. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele aus der Praxis:1

Im Kindergarten, nach der Frühstückspause, sind alle 25 Kinder in Erwartung des weiteren Programms auf dem runden Teppich sitzend versammelt. Es geht laut und lebhaft zu, denn die beiden Kindergärtnerinnen besprechen sich gerade mit mir über das weitere Programm, da ich den fünfjährigen Peter, ein Kind mit Bewegungsbeeinträchtigung, für seine Einzeltherapie abholen möchte. Peter sitzt im Getümmel der Kinder auf dem Teppich abgestützt. Bei der Suche nach ihm wende ich mich der Gruppe zu, kann ihn jedoch wegen der Menge der Kinder und der Intensität des Kindergewimmels nicht sofort entdecken. Peter, der weiß, dass er jetzt, nach der Pause, zu seiner von ihm besonders geliebten Musikstunde abgeholt werden soll, könnte sich zwar lautierend äußern, um auf sich aufmerksam zu machen – bei der Lautstärke, die im Raum herrscht, wäre er jedoch kaum zu hören. Bei meiner Suche nach dem Kind empfinde ich einen Blick mit voller Intensität auf mich gerichtet. Ein Blick, der auf mich gerichtet ist, mit der Bitte und Aufforderung, gesehen zu werden. Ich finde Peter in der turbulenten Schar der Kinder sofort anhand seines Blickes. Er, der all seine Kraft in diesen Blick legt, mich nicht nur mit diesem Blick ansieht, mich umfasst, sondern auf diese Art und Weise erfolgreich mit mir kommuniziert, wirkt allein durch die Aussagekraft seines Blickes auf mich. Als er erkennt, dass ich ihn entdeckt habe, strahlt er vor Freude und streckt mir beide Arme entgegen.

Roland, ein junger Mann mit geistiger Behinderung und ASS ohne Sprachvermögen, befindet sich in seiner Einzel-Musikstunde bei mir. Im Unterricht vermeidet er meist den direkten Blickkontakt, möchte von niemandem berührt werden und fasst auch niemanden direkt an. Dies respektiere ich, indem ich jeglichen, auch zufälligen Körperkontakt mit ihm im Unterricht vermeide und ebenfalls keinerlei Berührung von seiner Seite aus erwarte. An einem Tag, an dem ich durch die Nachricht über den Tod einer mir nahestehenden Person nicht in guter psychischer Verfassung bin, versuche ich mich professionell zu verhalten und zu unterrichten. Dabei stelle ich meine Trauer hintan, im festen Glauben daran, dass Roland, selbst wenn er empfinden sollte, wie es mir geht, ja ohnehin nicht darauf reagieren könne. Er wählt wie jedes Mal sein Instrument aus, auf dem er zunächst spielen möchte, und sitzt mir regungslos gegenüber. Und nun tritt etwas völlig Unerwartetes ein: Als ich beginne, die erste musikalische Aktion anzubieten, legt er sein Instrument zur Seite, steht auf, stellt sich direkt neben mich und legt mir die Hand auf die Schulter, etwas, das er nie zuvor getan hatte. So bleiben wir für einige Minuten still beieinander. Es tut mir gut und ich bedanke mich bei ihm für seinen Kontakt. Danach setzt er sich wieder auf seinen Platz und beginnt zusammen mit mir die Musikstunde.

Körperliche Moments of meeting

Sich auf die beiden vorigen Darstellungen beziehend, wird beim ersten Beispiel unmittelbar die kommunikative Dimension des Blickes klar. Ausschlaggebend bei dieser Blickbegegnung ist die gemeinsame gelebte Erfahrung und die Tatsache, dass das Kind in minimalem zeitlichem Ablauf eine Botschaft weitergeben konnte, die durch die Aussagekraft des Blickes einem verbalen Rufen nach mir in nichts nachstand. In seinem Blick konzentrierte sich die gesamte Energie der Kommunikation. Mit seinem intensiven Blick-Dialog als gegebener und empfangener Kontakt wurde Gegenwart geschaffen und, da er von seiner Seite aus erwartungsvoll war, in die Zukunft vorgriff (Soulis & Kessler-Kakoulidis 2020; vgl. Niedecken 2003). Blick involviert Nähe, überwindet die Distanz zwischen zwei Menschen und äußert sich als reine Kommunikation – unmissverständlich. Der gegebene Blick lässt dem anderen jedoch die Freiheit, ihn zu beantworten oder nicht. Er berührt und hält trotzdem im gegenseitigen Respekt Abstand, d.h., er nimmt nicht von dem anderen Besitz. Damit entsteht Kultur, denn das Schaffen von Kultur „impliziert die Erhaltung der Autonomie ihrer Teilnehmer“ (Soulis 1996, 195) und zeigt sich darin, dass es jedem Menschen ermöglicht, Einfluss auf die Welt und das Geschehen zu nehmen (Soulis & Kessler-Kakoulidis 2020).

Bei der zweiten Falldarstellung ist es der körperliche Ausdruck durch die Berührung, der nonverbal zur Verständigung beiträgt. Berührung spricht eine Sprache für sich. Jede noch so minimale taktile Annäherung an den anderen übermittelt uns Informationen und zeigt – wie hier im Beispiel – Einfühlungsvermögen in die andere Person. Auch wenn ich in dem Fall nur interpretatorisch vermuten konnte, dass der junge Mann meine Trauer spürte und mich trösten wollte, so ist doch entscheidend, dass mir in diesem Moment seine leibliche Kontaktaufnahme guttat. Da seine Form des Kontaktes über die Berührung völlig außerhalb seiner üblichen Verhaltensweisen lag, war sie allein schon deshalb eine herausragende Leistung in der Kommunikation und eine wesentliche Lernerfahrung für mich in Bezug auf Menschen mit ASS. Durch die Intensität der Kontaktaufnahme, die hier als außergewöhnliche und persönliche Reaktion auf den anderen zu verstehen ist, wird im gemeinsamen Erleben eine Geschichte erzählt, die sich als kulturschaffender Beitrag erweist.

Durch die Erfahrung mit nonverbalen Kommunikationsformen bei Menschen mit einer Behinderung wird überzeugend deutlich, wie Prozesse in Gang gesetzt werden, die helfen können, Vorurteile abzubauen, festgefahrene Denkstrukturen aufzubrechen und die Art und Weise, wie ich den anderen sehe, zu verändern, indem ich von seiner Art der Kommunikation lerne. Ausschlaggebend dabei ist, ob wir bereit und in der Lage sind, auf deren „Stimme“, d.h. die anders geartete Form der nonverbalen Verständigung, zu hören. Indem wir uns im Kontakt miteinander mit Empathie und Verständnis, mit Resonanz und Vertrauen, mit Wertschätzung und Achtsamkeit auf den anderen einlassen und dabei seine Art der Kommunikation als eine Bereicherung erfahren, entstehen „Now-Moments“2, die zu Momenten der Begegnung werden und zu einem neuen Verständnis in der Beziehung beitragen können (vgl. Gindl 2002; Kessler-Kakoulidis 2016). Menschen mit Behinderung lassen uns durch die Art und Weise und die Intensität ihrer Kommunikation über die Körpersprache erleben, dass wir letztendlich alle im Leib mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten beheimatet sind. Im nonverbalen Körperdialog von Menschen mit Behinderungen zeigen sie uns, dass der Sinn der Begegnung letztendlich in der gelingenden Abstimmung und in der erfolgreichen Kommunikation mit dem anderen liegt und nirgendwo anders!

Literatur

Gindl, B. (2002): Die Resonanz der Seele. Über ein Grundprinzip therapeutischer Beziehung. Paderborn: Junfermann Verlag.

Gugutzer, R. (2020): Welcher Körper? Der „behinderte“ Körper aus leibphilosophischer und körpersoziologischer Sicht. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten. 43(1). Graz: Steirische Vereinigung für Menschen mit Behinderung, 31–39.

Niedecken, D. (2003): Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz.

Kessler-Kakoulidis, L. (2016): Rhythmik und Autismus. Der integrative Ansatz Amélie Hoellerings in Theorie und Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schmitz, H. (2011): Der Leib. Berlin/Boston: de Gruyter.

Soulis, S.-G. (1996): Poiein. Der kulturschöpferische Weg des Menschen mit schwerster geistiger Behinderung. Aachen: Verlag Mainz, Wissenschaftsverlag.

Soulis, S.-G. & Kessler-Kakoulidis, L. (2020): Inklusive Kulturschöpfung. Wie Menschen mit und ohne Behinderungen zur Entwicklung unserer Gesellschaft beitragen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Steffens, J. (2019): Rhythmus, Reziprozität und Resonanz. Zeitprozesse und Energieverschiebungen als Kern intersubjektiver Beziehungen. In: Lanwer, W. & Jantzen, W. (Hrsg.): Jahrbuch der Luria-Gesellschaft. Berlin: Lehmanns Media Verlag, 31–60.

Steffens, J. (2020): Intersubjektivität, soziale Exklusion und das Problem der Grenze. Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Steffens, J. & Meyer, D. (2020): Trauma, Verkörperung und Narrativ. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 43(1). Graz: Steirische Vereinigung für Menschen mit Behinderung, 49–55.

Stern, D. N., Bruschweiler-Stern, N., Harrison, A. M., Lyons-Ruth, K., Morgan, A. C., Nahum, J. P., Sander, L. & Tronick, E. Z. (1998): The process of therapeutic change involving implicit knowledge: Some implications of developmental observations for adult psychotherapy. In: Infant Mental Health Journal, 19 (3), 300–308.

Stinkes, U. (2020): Die pädagogische Sorge um das Zuhause-Sein im eigenen Körper. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 43(1). Graz: Steirische Vereinigung für Menschen mit Behinderung, 57–63.

Trevarthen, C. (2012): Intersubjektivität und Kommunikation. In: Braun, O. & Lüdtke, U. (Hrsg.): Sprache und Kommunikation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik (Band 8). Stuttgart: Kohlhammer, 82–157.

Watzlawick, P., Beavin, J. H. & Jackson, D. D. (2017): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. (13. Aufl.) Bern: Hogrefe Verlag.

Fußnoten: 

1 Beide Falldarstellungen befinden sich in: Soulis & Kessler-Kakoulidis, L. (2020, 73, 21 f.). Alle Namen der im Artikel angeführten Personen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.

2 Der Begriff bezieht sich auf Erkenntnisse der Forschungsgruppe um Stern, die der Frage nach verändernden Stimuli in psychotherapeutischen Prozessen nachgingen. Sie definierten diese als „now-moments“, die zu „Moments of meeting“ werden, und die ein neues Verständnis in der Beziehung auslösen (Stern, Bruschweiler-Stern, Harrison, Lyons-Ruth, Morgan, Nahum Sander & Tronick 1998).

Autorin:

Lucia Kessler-Kakoulidis arbeitet in Athen bei verschiedenen Fördereinrichtungen mit dem Schwerpunkt Autismus und geistige Behinderung. Sie war Lehrbeauftrage im Fach Musikpädagogik/Musiktherapie an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen.

E-Mail: luciakessler@yahoo.gr