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Danny Scholz, Die Menschheit, 2018, Acrylstift und Acrylfarbe auf Leinwand, 1,30 × 0,80 m Danny Scholz ist Künstler des atelierblau, s. Seite 84.
Gute Begleitung und Versorgung am Lebensende
Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt und zur Situation in der Pandemie
Die letzte Lebensphase stellt für die meisten Menschen eine besondere Herausforderung dar. Der Wunsch nach einem hohen Maß an Lebensqualität, welche möglichst lange aufrechterhalten bleiben möge, scheint dabei ein zentrales Anliegen zu sein. Kennzeichen dieser Lebensqualität sind eine gute Versorgung und Begleitung, die entlang der vier Säulen von Palliative Care für die Bereiche medizinische und pflegerische Versorgung sowie psychosoziale und spirituelle Begleitung sowohl nach objektiven als auch subjektiven Maßstäben beschrieben werden kann.
Zugleich beinhaltet das Lebensende immer Anteile des Nicht-Planbaren, Unwägbaren und Ungewissen. Zu individuell gestalten sich die Krankheits- und Sterbegeschichten des einzelnen Menschen und die damit einhergehenden Bedürfnisse, als dass diese sich universell nach bestimmten Qualitätskriterien planen ließen und somit eine Garantie für ein „gutes Sterben“ ermöglichen würden. Wissen über die individuellen Wünsche von Menschen am Lebensende, über mögliche Settings der Versorgung und Begleitung sowie über die Zugangswege und -barrieren zu eben diesen Versorgungsangeboten stellt eine Voraussetzung dar, um Begleitungsangebote so gestalten und vorhalten zu können, dass sie entsprechend der individuellen Bedürfnisse des sterbenden Menschen in Anspruch genommen werden können.
Zur Situation von Menschen mit Behinderung am Lebensende liegen bislang für den deutschsprachigen Raum nur wenige empirische Erkenntnisse vor. Das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den Jahren 2017 bis 2020 geförderte Projekt „Palliative Care for people with intellectual and multiple disabilities – a survey of research and practices (PiCarDi)“ hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten und zugleich den Anschluss an internationale Forschungsaktivitäten sowohl im Bereich der Palliativforschung als auch im Bereich der Forschung im Kontext von Behinderung zu ermöglichen. Das Verbundprojekt zielt auf die Erhebung der spezifischen Bedarfe von Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit schwerer Behinderung am Lebensende und dient einer multiperspektivischen Analyse der existierenden Praxis der palliativen Versorgung und hospizlichen Begleitung in verschiedenen Versorgungssettings. Hierbei wird von einer zunehmenden Bedeutung der Thematik ausgegangen: Die Zahl der Menschen mit Behinderungen in höheren Lebensaltersstufen hat in den letzten Jahren bereits enorm zugenommen und wird voraussichtlich weiter zunehmen, da nach der fehlenden Generation der Opfer der sog. „Euthanasie“-Verbrechen nun die Nachkriegsgenerationen älter werden – und die Fallzahlen zudem durch die verbesserte medizinische und psychosoziale Versorgung und eine sich angleichende Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten ohnehin zunehmen (vgl. Dieckmann et al. 2016). Als verwertbares Ergebnis des Projektes sollten Empfehlungen für die Entwicklung adäquater Versorgungsstrukturen und Konzepte für die bedarfsgerechte Versorgung und Begleitung von Menschen mit Behinderungen am Lebensende erarbeitet werden. Dabei stehen pädagogische und psychosoziale Anforderungen und Aufgaben im Vordergrund.
Eine zentrale Herausforderung stellt die Vernetzung der Einrichtungen und Dienste an der Schnittstelle zwischen Behindertenhilfe und Palliativversorgung dar. Angesichts der extremen Versäulung der Hilfesysteme in Deutschland werden potenzielle Synergieeffekte, die durch einen verbesserten fachlichen Austausch und abgestimmte Versorgungswege, Übergänge und gemeinsame Konzepte entstehen könnten, bislang kaum genutzt (vgl. Seifert 2010). Das Projekt möchte daher auch Schnittstellenprobleme identifizieren und Hinweise für deren Lösung durch eine effektivere Vernetzung der Hilfesysteme erarbeiten. Die Erkenntnisse aus dem Projekt können einen Beitrag zu einer bedarfsgerechten und für die Hilfesysteme tragfähigen Versorgung leisten.
Multiperspektivische Zugänge zu einer komplexen Lebenssituation
Die drei Teilprojekte des PiCarDi-Verbundteams bilden die multiperspektivische Herangehensweise ab, die notwendig ist, um der Komplexität der Lebenssituationen gerecht zu werden. Nur so kann die Schnittstelle zwischen den bisher sehr getrennt agierenden Hilfesystemen hinsichtlich ihrer Vernetzungspotenziale untersucht und gemeinsame zukunftsweisende Empfehlungen für die adäquate Versorgung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung entwickelt werden.
Das Teilprojekt PiCarDi-D (Disability) an der Katholischen Hochschule NRW in Münster untersuchte die Versorgungsstrukturen aus der Perspektive der Behindertenhilfe. Durch Sekundäranalysen bestehender Daten (969 Sterbefälle) und eine Online-Befragung von Leitungskräften in Wohneinrichtungen (N=152) konnten Umstände des Sterbens in der Eingliederungshilfe eruiert werden. Für 79 Sterbefälle aus den Jahren 2018 und 2019 liegen genauere Erkenntnisse zur konkreten Ausgestaltung der Begleitung am Lebensende vor. 15 vertiefende Interviews mit Leitungskräften und Mitarbeitenden aus Einrichtungen der Eingliederungshilfe gaben Einblick in organisationale Strukturen sowie das professionelle Handeln der Mitarbeitenden in der Begleitung am Lebensende.
Die Perspektive der Fachkräfte in Hospiz- und Palliativeinrichtungen wurde im Teilprojekt PiCarDi-P (Palliative Care) an der Humboldt Universität zu Berlin fokussiert. Die relevanten Akteur*innen aus den Bereichen medizinische und pflegerische Versorgung sowie psychosoziale und spirituelle Begleitung wurden zunächst mit 20 qualitativen Experteninterviews befragt. Anschließend erfolgte eine flächendeckende quantitative Befragung von Leitungskräften in Hospiz- und Palliativeinrichtungen (Nb=291).
Im Teilprojekt PiCarDi-U (Users) der Universität Leipzig wurde die Perspektive von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung und ihrer An- und Zugehörigen bezüglich ihrer Bedürfnisse und Teilhabemöglichkeiten am Lebensende explorativ mittels 29 halbstrukturierter Interviews sowie sieben Gruppendiskussionen unter begleitender Beteiligung einer Fokusgruppe erhoben.
Alle drei Teilprojekte führten ihre Forschungsaktivitäten in den Bundesländern Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen durch, was aufgrund der sehr heterogenen regionalen Strukturen ermöglichte, die Diversität der Versorgungssituationen abzubilden. Ein aus Menschen mit und ohne Behinderung bestehender Projektbeirat mit Expert*innen aus unterschiedlichen fachlich relevanten Kontexten begleitete die Projektaktivitäten.
Die Ergebnisse der verschiedenen Erhebungen der drei Teilprojekte wurden im Prozess des Projektes kontinuierlich aufeinander abgestimmt, diskutiert und aus den Zwischenergebnissen Konsequenzen für den weiteren Projektverlauf gezogen. So entstanden beispielsweise drei Netzwerkanalysen im Kontext von Wohnformen für Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung unter Einbezug palliativer und hospizlicher Angebote vor Ort. Diese wurden vor allem hinsichtlich bestehender Kooperationen und Vernetzungen betrachtet, wobei der einzelne Mensch (mit Behinderungserfahrung) im Fokus der jeweiligen Netzkarte steht (vgl. Alber et al. 2020).
In der Zusammenführung aller Projektergebnisse, die entlang der jeweils zentralen Fragestellungen analysiert wurden, entstand eine Matrix, die an Selbstbestimmung, Teilhabe, Professionalität und Solidarität sowie Versorgungsqualität als Leitideen einer guten Versorgung und Begleitung am Lebensende ausgerichtet ist. Die Erkenntnisse des Projektes wurden diesen Leitideen zugeordnet und aus diesen Empfehlungen für die Praxis abgeleitet. Adressat*innen sind je nach Thema Menschen mit Behinderung, ihre An- und Zugehörigen, Mitarbeitende der Behindertenhilfe oder Fachkräfte und Ehrenamtliche des Palliativ- und Hospizsektors. Häufig adressieren die Empfehlungen auch mehrere dieser Personengruppen, da diese nur in koordiniertem Zusammenwirken bestmögliche Entfaltung erfahren können.
Versorgungsqualität – Selbstbestimmung – Teilhabe: zentrale Leitideen für eine gute Begleitung am Lebensende
Die Beiträge aus dem Forschungsprojekt PiCarDi zeigen, wie wichtig es ist, die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen am Lebensende an den zentralen Leitideen von Selbstbestimmung und Teilhabe, wie sie die UN-BRK rechtsverbindlich formuliert hat, auszurichten und deren Geltung bis zum Lebensende zu reklamieren. Ein hohes Maß an Versorgungsqualität erfordert zudem die Entwicklung innovativer Arbeitsformen und Vernetzungsstrategien an den Schnittstellen der Unterstützungssysteme, die in ihren jeweiligen Eigenlogiken immer nur einen Teil der komplexen Bedarfslage beantworten können. Die aktuelle Lage in der Corona-Pandemie verweist auf ein weiteres zentrales sozialethisches Prinzip: Die Herausforderungen der Pandemie sind nur in Solidarität miteinander zu bewältigen. Und insbesondere die in der Pandemie oft einsam und im Verborgenen Sterbenden brauchen „Solidarität bis zuletzt“ – so das Motto des Welthospiztages 2020.
Begleitung am Lebensende unter erschwerten Bedingungen: Herausforderungen durch die Corona-Pandemie
Unter den Bedingungen des Risiko- und Krisenmanagements in der Corona-Pandemie, die die gesamte Gesellschaft im Jahr 2020 in unerwarteter Weise betroffen hat und uns alle weiterhin betreffen wird, geraten Selbstbestimmungs-, Freiheits- und Beteiligungsrechte für alle unter das Regime von Sicherheit und Infektionsschutz. Das ist einerseits unumgänglich, da physische Distanz das wirksamste Mittel gegen die weitere Ausbreitung von Infektionen darstellt. Andererseits waren und sind Menschen mit Beeinträchtigungen von den Einschränkungen des sozialen Lebens in einigen Bereichen ganz besonders betroffen. Wie in einem Brennglas zeigen sich hier generelle gesellschaftliche Spannungsfelder und Widersprüche in der Organisation von Unterstützungsarrangements für Menschen mit Behinderungen auch am Lebensende.
Wie aber sind Menschen mit Beeinträchtigungen faktisch von der Pandemie betroffen? Dazu gibt es bisher erst sehr wenige empirisch gesicherte Erkenntnisse. Die wenigen bereits abgeschlossenen Studien weisen darauf hin, dass das Sterberisiko von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht generell höher ist als das der sog. Allgemeinbevölkerung. Vielmehr kommen auch hier erhöhte Sterberaten vor allem im Zusammenhang mit Begleiterkrankungen und einer teilweise früher einsetzenden Gebrechlichkeit vor, so zeigen Studien aus den USA (Turk & McDermott 2020) und den Niederlanden (Consortium „Sterker op eigen Benen“ 2020). Da die Lebenserwartung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in Deutschland im Schnitt um etwa zehn Jahre geringer ist, versterben sie im Schnitt in etwas jüngeren Altersgruppen als in der Allgemeinbevölkerung gehäuft an COVID-19. Daher sind Maßnahmen des Infektionsschutzes einschließlich der gleichberechtigten Versorgung mit persönlichen Schutzmaßnahmen wie wirksame Schutzmasken und die gleichberechtigte Berücksichtigung bei den Impfmaßnahmen für die besonders gefährdeten Personengruppen wichtig. Gleichzeitig gilt es, Menschen mit Beeinträchtigungen deutlicher als bisher zuzutrauen, dass sie – sofern Informationen für sie in geeigneter Form zur Verfügung stehen – mit Infektionsrisiken in gleicher Weise verantwortlich umgehen können wie andere und daher nicht per se in ihren Freiheitsrechten stärker eingeschränkt werden dürfen als andere.
Einige Studien zeigen, dass institutionalisierte Formen des Zusammenlebens sowohl die Verbreitung eines Virus begünstigen als auch den Zugang zum Gesundheitssystem erschweren (Sabatello et al. 2020). Die regelmäßige Datenerfassung in den Niederlanden ergab für den Stichtag 11.12.2020, dass der weit größere Anteil der Menschen mit Behinderung und bestätigter COVID-19-Infektion in Wohngruppen lebte (85%) und 15% der Patient*innen in einem eigenen Appartement (Consortium „Sterker op eigen Benen“ 2020). In Schweden wurde bei 700 von 29.609 Menschen mit Behinderungen in Wohngruppen eine COVID-19-Infektion festgestellt (2,36%) und bei 286 von 19.027 Menschen mit Behinderung, die mit persönlicher Assistenz in einer eigenen Wohnung leben (1,5%) (Socialstyrelsen 2020). Diese Daten müssen zu denken geben, auch wenn die Wohnsituationen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und die politischen Strategien des Infektionsschutzes sich in den jeweiligen Ländern stark unterscheiden. Zudem ist der Anteil von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Wohngruppen tendenziell höher als bei den in einem eigenen Apartment individuell unterstützt lebenden Menschen. Insofern sind die Zahlen extrem interpretationsbedürftig. Wir brauchen viel differenziertere Daten zu den Folgen der Pandemie für Menschen mit Behinderungen, um verlässliche Aussagen über wirksame und vertretbare Strategien des Risikomanagements treffen zu können.
Zugleich muss die Politik für absehbar steigende Unterstützungsbedarfe von Menschen mit Behinderungen (und ihren Familien) durch Langzeitfolgen der Lockdown-Strategien sensibilisiert werden. Ausbleibende Angebote der Förderung und Rehabilitation werden individuelle Langzeitfolgen nach sich ziehen, die noch nicht absehbar, aber erwartbar sind. Unterstützungsbedarfe werden sich dadurch gegebenenfalls erhöhen, während die Ressourcen in den Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen bereits seit Jahren eher zurückgefahren werden. Hinzukommen werden individuelle Langzeitfolgen einer Infektion, die auch bei jungen und bisher gesunden Menschen zum Teil erhebliche und länger andauernde Funktionseinbußen mit sich bringen, die einer intensiven rehabilitativen Behandlung bedürfen. Diese Formen der Behandlung müssen auch für Menschen mit einer lebensbegleitenden Behinderung zugänglich sein, wenn sie eine Erkrankung an COVID-19 mit schweren Folgeschäden überstehen. Die Spannung zwischen zunehmenden Bedarfslagen und knapper werdenden Ressourcen wird vermutlich auch infolge der enormen Investitionen der Politik in die Pandemie-Bewältigung steigen. Politische Priorisierungsentscheidungen müssen in Zukunft sehr kritisch daraufhin befragt werden, wie sie besonders vulnerable Personengruppen schützen und stärken und wie diese oder ihre Interessenvertretungen an politischen Entscheidungen beteiligt werden.
Angesichts der krisenhaften Entwicklungen ist die palliative Versorgung von Menschen mit Behinderungen nicht mehr ohne die existenziellen Fragen der Begleitung von Sterbenden zu denken, die uns die Pandemie aufnötigt. Daher wird uns dieses Thema auch im Anschlussprojekt weiter beschäftigen. „Auch in Zeiten von Corona muss sowohl das Recht auf Teilhabe als auch das Recht auf Gesundheitsschutz für Menschen mit Behinderung umgesetzt werden!“ – so auch die Forderung der deutschen Fachverbände für Menschen mit Behinderung (2020). Durch die notwendigen Schutzmaßnahmen dürfe das „Recht auf Teilhabe nicht leichtfertig eingeschränkt werden“. Auch wenn die Krise der Pandemie eine Ausnahmesituation für alle darstellt, mahnen die Fachverbände zu Recht, „dass die Errungenschaften der letzten Jahre in Bezug auf Teilhabe und Selbstbestimmung nicht verlorengehen dürfen“ (ebd.).
Sterben – ein soziales Geschehen
In Zeiten einer Pandemie, die auch eine soziale Pandemie ist und uns zunehmend in Individualisierung und Isolation führt, gilt es die Idee der geteilten Verantwortung für die Gestaltung des Lebensendes umso mehr aufrecht zu erhalten. Das Sterben ist nicht nur ein medizinischer, sondern ein sozialer Vorgang. Eine professionell reflektierte Haltung der Verbundenheit miteinander und notwendiger Distanz im Einzelfall immer wieder neu auszubalancieren, gehört zu den bleibenden Herausforderungen der Pandemie. Zu den sozial schwerstwiegenden Begleiterscheinungen gehört die neue Einsamkeit des Sterbens aufgrund der extremen Infektionsrisiken. Hier gilt es Formen zu finden, trotz medizinisch notwendiger Schutzmaßnahmen bis hin zur Isolierung soziale Verbundenheit und Zugehörigkeit erlebbar zu machen für Schwerstkranke und Sterbende sowie für An- und Zugehörige. Konkrete Empfehlungen dazu liegen u.a. von Seiten der Palliativmedizin vor (Münch et al. 2020). Im Blick auf Menschen mit Behinderungen gilt es zudem, sie in politischen Maßnahmen zur Prävention nicht zu übersehen, und zum anderen, das Risikomanagement individuell anzupassen – ganz im Sinne der Leitideen von Selbstbestimmung und Teilhabe –, um Teilhabechancen nicht mehr als notwendig einzuschränken. Das novellierte deutsche Infektionsschutzgesetz (§ 28a Abs. 2 Satz 2) hat den Auftrag explizit aufgenommen, ein „Mindestmaß an sozialen Kontakten“ unter Bedingungen der gebotenen physischen Distanz aufrecht zu erhalten (Deutscher Bundestag 2020). Der Deutsche Ethikrat hat diesen Gedanken bestärkt und konkrete Maßnahmen für die Umsetzung empfohlen (Deutscher Ethikrat 2020).
Ausblick: Weitere Schritte im Projekt PiCarDi
In der Fortführung des Forschungsprojektes werden organisatorische Abläufe, Strukturen und Kulturen vertiefend in den Blick genommen, die die Qualität der palliativen Versorgung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung beeinflussen. Dabei werden Aspekte der internen Organisationskultur in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe einschließlich der Gestaltung von Entscheidungsprozessen und ihrer Strategien der Vernetzung mit Palliativ- und Hospizdiensten genauer untersucht. Diese Aspekte sind für die Versorgungssicherheit und -qualität entscheidend, ihre Wechselwirkungen müssen aber differenzierter verstanden werden, um sowohl Barrieren als auch Entwicklungspotenziale für die Zukunft zu identifizieren. Damit möchte das Projekt zu einer höheren Versorgungsqualität beitragen, eingebettet in ein inklusives Gemeinwesen, das sich an der Vision einer sorgenden Verantwortungsgemeinschaft („caring community“) orientiert. Aus der exemplarischen Betrachtung von Mikronetzwerken sterbender Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung und von konkret erlebten Entscheidungsprozessen werden konkrete Bausteine zu entwickeln sein, damit Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung eine teilhabeförderliche, personenzentriere und sozialraumorientierte Begleitung bis zum Lebensende erleben.
Literatur
Alber, L., Brocke, F., Jennessen, S., Levin, C., Schäper, S. & Werschnitzke, K. (2020): Von der Schnittstelle zur Nahtstelle – Netzwerke von Eingliederungshilfe und Palliative Care in der Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung am Lebensende. In: Hospiz-Zeitschrift, 2, 38–42.
Consortium „Sterker op eigen benen“ (2020): Factsheet No. 13 (11.12.2020): COVID-19 in people with intellectual disabilities. Nijmegen: Radboud University Medical Center. Online verfügbar: https://www.sterkeropeigenbenen.nl/factsheet.
Deutscher Bundestag (2020): Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Bundestagsdrucksache Drucksache 19/23944). Online verfügbar: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/239/1923944.pdf.
Deutscher Ethikrat (2020): Mindestmaß an sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie. Ad-hoc-Empfehlung (18.12.2020). Online verfügbar: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-langzeitpflege.pdf.
Dieckmann, F., Giovis, C. & Röhm, I. (2016): Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland. In: Müller, S. V. & Gärtner, C. (Hrsg.): Lebensqualität im Alter. Perspektiven für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen. Wiesbaden: Springer VS, 55–74.
Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (2020): Medienmitteilung: Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Teilhabe und Gesundheitsschutz, Düsseldorf, 82. Konferenz. Online verfügbar: https://www.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2020-12-01-PM_Konferenz_der_Fachverbaende.pdf.
Münch, U., Müller, H., Deffner, T., von Schmude, A., Kern, M., Kiepke-Ziemes, S. & Radbruch, L. (2020): Empfehlungen zur Unterstützung von belasteten, schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen in der Corona-Pandemie aus palliativmedizinischer Perspektive. Online verfügbar: https://www.dgpalliativmedizin.de/images/DGP_Unterstuetzung_Belastete_Schwerstkranke_Sterbende_Trauernde.pdf.
Sabatello, M., Landes, S. D. & McDonald, K. E. (2020): People With Disabilities in COVID-19: Fixing Our Priorities. In: The American Journal of Bioethics 20(7), 187–190. DOI: 10.1080/15265161.2020.1779396.
Seifert, M. (2010): Kundenstudie – Bedarf an Dienstleistungen zur Unterstützung des Wohnens von Menschen mit Behinderung. Abschlussbericht. Berlin: Rhombos-Verlag.
Socialstyrelsen (Oberste Sozialbehörde Schweden) (2020): Statistics on COVID-19 among persons with residential arrangements according to LSS. Online verfügbar: https://www.socialstyrelsen.se/en/statistics-and-data/statistics/statistics-on-covid-19.
Turk, M. A. & McDermott, S. (2020): The COVID-19 pandemic and people with disability. In: Disability and Health Journal 13(3), 100944. DOI: 10.1016/j.dhjo.2020.100944.
Autor:in
Sven Jennessen, Prof. Dr.
Er ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Abteilung: Pädagogik bei Beeinträchtigung der körperlich-motorischen Entwicklung. Leiter der Projekte PiCarDi, FamPalliNeeds und PraeKids. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Palliative Care für Menschen mit Behinderung, Kinder- und Jugendhospizarbeit, sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung, Inklusive Schulentwicklung.
sven.jennessen@hu-berlin
Sabine Schäper, Prof. Dr.
Sie ist Theologin und Sozialpädagogin, Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, im Schwerpunkt Heilpädagogik. Sie forscht seit 2009 zu Fragen des Älterwerdens von Menschen mit Behinderungen und leitet seit 2017 das Verbundprojekt PiCarDi. Vor der Tätigkeit an der Hochschule war sie langjährig in der pädagogischen Arbeit und in der Leitung von Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung tätig.
s.schaeper@katho-nrw.de