Ein nacktes Pärchen in Schwarz-Weiß steht nebeneinander, die Blicke sind in die Ferne gerichtet. Der Mann hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Harald Rath, Frau plus Mann im Himmel, 42 x 30 cm, Linolschnitt Harald Rath ist Künstler im Atelier de La Tour, s. Seite 75

Foto: © Ev. Stiftung de La Tour
aus Heft 5/2022 – Fachthema
Daniel Kunz

Der Befähigungsansatz als Schlüsselaspekt von Behinderung und Sexualität in der Behindertenhilfe

Die gegenwärtige Lebensrealität von Menschen mit Behinderung zeigt, dass die Anerkennung ihrer Bedürfnisse nach Beziehung, Intimität und Sexualität in der Praxis der Behindertenhilfe längst noch keine Selbstverständlichkeit ist. Der Befähigungsansatz bietet die Grundlage, Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit als Qualitätsmerkmal in der Bedarfsbestimmung für eine selbstbestimmte Lebensführung zu berücksichtigen. Damit kann Lebensqualität und sexuelles Wohlbefinden realisiert werden.

1. Die Bedeutung von Sexualität für Menschen mit Behinderung

Noch vor vierzig Jahren zerbrachen sich Fachleute aus Pädagogik, Medizin und Theologie den Kopf darüber, ob Menschen mit Behinderung eine Sexualität haben und wie sie gegebenenfalls zu kontrollieren sei (Sierck 2018, 86). Diese Überlegungen gelten heute als überholt. Das selbstverständliche Interesse von Menschen mit Behinderungen an Themen von Beziehung, Intimität und Sexualität bildet sich auch in neueren Untersuchungen ab, in denen sie selbst zu Wort kommen (Kunz 2016, Schmitt und Näf 2016, Paraza 2018).

Der aktuelle Fachdiskurs geht davon aus, dass sexuelle Selbstbestimmung für alle Menschen, unabhängig von einer Behinderung, zum persönlichen Wohlergehen gehört (z. B. Clausen und Herrath 2013, Ortland 2016). Die Realisierung sexueller Selbstbestimmung steht insbesondere für Menschen mit Behinderung in direktem Bezug zu ihrer Lebensqualität. Lebensqualität macht die Personenwürde erst erfahrbar (Miller 2012, 62). Personenwürde ist hier das individuelle Bedürfnis nach Sexualität unter der Erfahrung selbstbestimmter Lebensführung.

Nach Artikel 1 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen eine langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können (UN-BRK 2017). Diese Adressatengruppe hat ansonsten wenig gemeinsam. Ihre Gemeinsamkeit beruht auf sozialer Abhängigkeit, in der sie – je nach Art und Grad ihrer Beeinträchtigung – mehr oder weniger stark auf Assistenz oder Betreuung bei verschiedenen Tätigkeiten bzw. in der Alltagsbewältigung angewiesen sind. Unabhängig davon sind und bleiben Menschen mit Behinderung Individuen mit einer einzigartigen Lebensgeschichte, eigenem Charakter und individuellen Vorlieben.

Der Fokus dieses Artikels liegt auf Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, da der Wohnbereich für beziehungs- und sexualitätsbezogene Themen besonders relevant ist. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind hier oftmals mit Einschränkungen ihrer autonomen Lebensführung im Allgemeinen und ihrer sexuellen Selbstbestimmung im Besonderen konfrontiert (Jenessen et al. 2019). Zudem ist dieselbe Personengruppe hinsichtlich Achtung und Schutz ihrer sexuellen Integrität aufgrund inhärenter sexualisierter Gewalt in Einrichtungen gefährdet und daher als besonders vulnerable Gruppe zu betrachten (Bienstein und Verlinden 2018, Kaspar 2019).

Behinderungsbedingte Einschränkungen im Alltag von Menschen mit Beeinträchtigungen zeigen folgende Beispiele:

„Selbstbefriedigung ist immer so ein Thema. Manchmal geht es und manchmal halt nicht. Man weiss nicht, wenn jemand reinkommt. Wenig Betreuer:innen klopfen, und wenn sie klopfen, sind sie schon im Zimmer und haben noch tausend Fragen […]  dann habe ich keine Lust mehr.“ (Paraza 2018, 49)

„Ich durfte sie zwei Mal im Monat sehen. Meine Freundin hatte eine Frau als Vormund – die war sehr streng mit ihr. Sie hat bestimmt, wie fleißig wir uns sehen durften: deshalb durften wir uns nur zwei Mal im Monat sehen. Einmal musste ich zu ihr fahren und das zweite Mal durfte sie zu mir in die WG kommen.“ (ebd., 51)

„Ich hatte ein Date und war in der Stadt mit ihr einen trinken. Dann kam ein Mann und machte sie an, vor meinen Augen. Als ich ihm sagte, dass sie mein Date ist und er weggehen solle, fing er nur an zu lachen und äusserte: Das ist doch sicher nur deine Betreuerin.“ (ebd., 58)

Dieser Einblick in die Lebensrealität zeigt, dass auch in der Gegenwart die Sexualität von Menschen mit Behinderung längst noch keine Selbstverständlichkeit ist. Jugendliche, erwachsene Frauen und Männer sowie queere Personen mit Behinderung treffen in der Gesellschaft auf Unsicherheit, Vorurteile und (unbewusste) Voreingenommenheit, durch die sie auf ihre Beeinträchtigung reduziert und abgewertet werden. Dabei wird ihre Sexualität umso eher akzeptiert, je stärker sie an der heterosexuellen, auf Treue und Liebe ausgerichteten Partnerschaft orientiert ist. Weicht sie von dieser Norm ab, stößt sie auf gesellschaftlichen Widerstand; dies spiegelt sich nicht zuletzt auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe wider (Agthe Diserens 2020, 20). Barrieren wie mangelndes Wissen und Bewusstsein sowie strukturell bedingte Einschränkungen der Intim- und Privatsphäre, beispielsweise in der Nichtbeachtung von Abgrenzungswünschen, erzwungener Selbstbeschränkung oder Fremdbestimmung durch Betreuungspersonen und Organisationsabläufe, verursachen dort eine Leerstelle, wo das Menschenbild der Einrichtungen die Bewohner:innen als Menschen – auch mit geschlechtlicher Identität und sexuellen Bedürfnissen – wahrnehmen müsste.

2. Behinderung und Sexualität – Wissensstand

Die sexualwissenschaftliche und sexualpädagogische Literatur hält vielfältige Definitionen des Begriffs „Sexualität“ bereit. Ihnen ist gemeinsam, dass die Vielfalt, sich geschlechtlich zu begreifen und sexuell zu begehren, kaum von einer Definition abgedeckt werden kann. Sexualität lässt sich vielleicht am ehesten als lebenslange Entwicklungsaufgabe für alle Menschen begreifen. Ihr Gelingen besteht darin, für den jeweiligen Lebensabschnitt eine eigene, passende sexuelle Identität zu finden (Ortland 2020, 33–34). Dieses komplexe und dynamische Geschehen bildet das Arbeitskonzept „Sexuelle Gesundheit“ der Weltgesundheitsorganisation [WHO] ab:

Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand physischen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Einschränkungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit erfordert einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen. Sexuelle Gesundheit schliesst die Möglichkeit von befriedigenden und sicheren sexuellen Erfahrungen frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt mit ein. Um sexuelle Gesundheit zu erreichen und aufrecht zu erhalten, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen respektiert, geschützt und durchgesetzt werden (WHO und BZgA 2011, 19).

Die in der Definition erwähnten sexuellen Rechte bilden demnach den nötigen Rahmen für eine gelingende/re sexuelle Gesundheit. Sie sind sexualitätsbezogene Menschenrechte und basieren auf einer Reihe von Rechtsansprüchen, die aus Menschenrechtsabkommen und anderen internationalen Standards abgeleitet werden können (IPPF 2009). Damit Gesellschaft und Politik regelmäßig daran erinnert werden, dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten auch Menschen mit Behinderung ausnahmslos und uneingeschränkt zustehen, haben die Vereinten Nationen 2006 die Behindertenrechtskonvention verabschiedet; in Österreich trat sie 2008 und in der Schweiz 2014 in Kraft. Sie unterstreicht den Anspruch, dass Menschen mit Behinderung ein selbstverständliches Recht auf individuelle Autonomie, Selbstbestimmung und Teilhabe in den verschiedenen Lebensbereichen haben (vgl. Art. 1 und Art. 3 UN-BRK 2017).

Sexuelle Gesundheit wird in der UN-BRK explizit in drei Artikeln thematisiert: Artikel 16 (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch) nimmt Bezug auf das Thema sexuelle Gewalt, mit der Forderung, eine dem Geschlecht und Alter entsprechende Form von Prävention, Schutz und Hilfe zu gewährleisten. In Artikel 23 (Achtung der Wohnung und der Familie) wird der barrierefreie Zugang zu altersgemäßer Sexualaufklärung und Familienplanung festgehalten. Artikel 25 (Gesundheit) formuliert den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf eine gleichwertige und unentgeltliche bzw. erschwingliche Gesundheitsvorsorge, einschließlich der sexual- und reproduktionsmedizinischen Dienstleistungen (UN-BRK 2017).

Die Fachliteratur formuliert übereinstimmend, dass es keine behindertenspezifische Sexualität gibt bzw. geben kann. Vielmehr verläuft die sexualbiologische Entwicklung bei Menschen mit Behinderung in den meisten Fällen altersgemäß und unabhängig von intellektuellen Faktoren (Walter 2002, Leue-Käding 2004, Ortland 2020). Neben diesen individuellen Beeinträchtigungen haben gesellschaftliche Tabuisierungs- und Negierungsprozesse oftmals einen starken Einfluss auf das Beziehungs- und Sexualverhalten von Menschen mit Behinderung (Walter 2002). Daraus leitet sich für sie die grundlegende Problematik ab, regelmäßig negative Fremdbewertungen durch das soziale Umfeld zu erfahren, die sich auf ihre Persönlichkeitsentwicklung mit starker Verunsicherung hinsichtlich Körper, Aussehen und Attraktivität auswirken (Ortland 2020, 24, Sierck 2018, 90).

Spezifische Relevanz für eine förderliche Identitätsentwicklung hat dies zudem für lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere (LSBTQ) Menschen mit Behinderung, die sich ohnehin oft als Minderheit in der Minderheit fühlen (Kunz 2016, 96–100, Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales 2011, Höblich 2019).

Verschiedene Studien im deutschen Sprachraum in den letzten 25 Jahren weisen übereinstimmend auf vielfältige Barrieren in der Realisierung einer selbstbestimmten Lebenspraxis, sexueller Selbstbestimmung sowie der Beeinträchtigung der sexuellen Integrität von Menschen mit Behinderung hin (Fegert et al. 2006, Zemp et al. 1996 und 1997). Insbesondere Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen sind deutlich häufiger Opfer sexualisierter Gewalt (Schröttle et al. 2013). Das trifft auch auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zu, die um ein Vielfaches häufiger von sexuellen Übergriffen betroffen sind (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2021). Verschiedene Risikofaktoren begünstigen sexualisierte Gewalt in Einrichtungen und sozialem Nahraum: beispielsweise Kommunikations- und Artikulationsprobleme, Erziehung zur Anpassung, fehlende Sexualaufklärung und mangelndes Körperwissen. Opfer erleben häufig Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und sehen sich gesellschaftlichen Bildern gegenüber, die Menschen mit Behinderungen in ein Spektrum zwischen Geschlechtslosigkeit und Asexualität auf der einen und unkontrollierter Triebhaftigkeit auf der anderen Seite einordnen (Bender 2012, Fegert et al. 2006, Niehaus et al. 2012).

Weitere Themen in der professionellen Arbeit der Behindertenhilfe sind reproduktive Gesundheit, Kinderwunsch und Elternschaft. Dazu formuliert Artikel 25 BRK für Menschen mit Behinderung den Anspruch auf gleichwertige sexual- und reproduktionsmedizinische Dienstleistungen nach „demselben Standard“. Schröttle (2012, 22) weist jedoch nach, dass Frauen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei reproduktiven Themen eine andere Behandlung erfahren. Beispielsweise ist die Quote der auf sie angewendeten schwangerschaftsverhütenden Maßnahmen wie der Dreimonatsspritze überproportional hoch, ohne dass dies durch sexuelle Aktivität begründet werden könnte. Schröttle (ebd.) kommt zum Schluss, dass die häufige Kinderlosigkeit dieser Frauen tendenziell einer Kombination von sexueller Abstinenz, mangelnder Sexualaufklärung und übermäßiger Kontrazeption geschuldet ist. Ihnen werden weitgehend die Möglichkeiten von Schwangerschaft, Mutterschaft und selbstbestimmter Familienplanung vorenthalten, obwohl der Wunsch, Kinder zu bekommen, vorhanden ist. Dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehr gut in der Lage sind, über ihren individuellen Kinderwunsch Auskunft zu geben, zeigt die Studie von Orthmann Bless (2019). Mütter mit intellektueller Beeinträchtigung haben unter den Bedingungen Begleiteter Elternschaft zudem eine günstige Ausgangssituation für die Bewältigung elterlicher Aufgaben (Orthmann Bless, 2021).

Ein anderes einflussreiches Thema ist die Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung, die ihre Sexualität nur mithilfe von Unterstützung leben können. Mitarbeitenden in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind jegliche aktive sexuelle Handlungen mit den von ihnen betreuten Personen untersagt. Es gibt jedoch externe Dienstleistungen, die Menschen mit Behinderungen in der Umsetzung ihrer sexuellen Bedürfnisse außer- oder innerhalb der Einrichtung unterstützen (Sexuelle Gesundheit Schweiz 2017).

Der oben skizzierte Wissensstand zeigt eine erhebliche Benachteiligung von Menschen mit Behinderung hinsichtlich ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie Integrität. Sie werden in der freien Entfaltung der Persönlichkeit, zu der auch ihre sexuelle Selbstbestimmung zählt, eingeschränkt und mit abwertenden Reaktionen vonseiten der Nichtbeeinträchtigten bzw. mit gesellschaftlichen Stigmatisierungsprozessen konfrontiert, wozu auch strukturelle Gewalt in Institutionen zählt (Tschan 2012, 27–28).

3. Der Befähigungsansatz als Schlüsselaspekt der Bedarfsermittlung

Die UN-BRK formuliert den Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderung auf unabhängige Lebensführung und volle Teilhabe in allen Lebensbereichen. Dies gilt nicht nur für die bis anhin alternativlose Unterbringung in stationären Sondereinrichtungen, sondern auch für die Beseitigung gesellschaftlicher Benachteiligung und Zugangshindernissen bei der Wahrnehmung sexueller und reproduktiver Rechte (BRK Art. 16, 23 und 25). Der oben skizzierte Wissensstand zu Behinderung und Sexualität zeigt, wo Staat und Einrichtungen der Behindertenhilfe deutliche Entwicklungspotenziale im Bereich sexueller und reproduktiver Gesundheit nutzen müssten, um die vielfältigen Diskriminierungserfahrungen abzubauen. Dies ist eine zentrale Aufgabe der Neugestaltung der Behindertenhilfe.

Die Neugestaltung der Behindertenhilfe erfolgt in den Schweizer Kantonen zurzeit über die Einführung personenzentrierter Angebots- und Finanzierungsstrukturen, die sich zukünftig an den individuellen Bedarfen der Menschen mit Behinderung orientieren. Das Schlüsselwort heißt Subjektfinanzierung und soll Einzelpersonen mehr Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen. Der jeweilige Unterstützungsbedarf wird in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Freizeit in Zusammenarbeit mit der zu unterstützenden Person individuell ermittelt. Das Ergebnis bestimmt über den zugestandenen Ressourcenumfang und wirkt sich auf die Höhe der Unterstützung aus, während es zugleich von weiteren Variablen wie Kanton und Behindertenhilfe abhängt (Liesen und Wyder 2022, Pfiffner 2020).

Die Subjektfinanzierung für Menschen mit Unterstützungsbedarf beruht auf Abklärungsinstrumenten, die sich am Konzept der Lebensqualität orientieren. Dieses gilt international als Schlüsselkonzept der Behindertenhilfe (Beck 2001). Es betrachtet objektive Lebensbedingungen und subjektive Zufriedenheit unter Berücksichtigung persönlicher Werte und Ziele. Die Zufriedenheit bemisst sich an der Erfüllung individueller Bedürfnisse und findet in subjektivem Wohlbefinden ihren Niederschlag (Seifert 2006). Die subjektive Perspektive ist jedoch zur Beurteilung der Lebensqualität oft nicht ausreichend, sind doch subjektive Bewertungsstandards selbst bereits durch soziale Privilegierungen und Benachteiligungen strukturiert (Ziegler 2018, 361). Dies hat insbesondere Auswirkungen, wenn individuelle Bedürfnisse hinsichtlich sexueller und reproduktiver Gesundheit bzw. sexueller Selbstbestimmung eruiert werden sollen. Beispielsweise: Wie sollen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ihre beziehungs- und sexualitätsbezogenen Bedürfnisse artikulieren, wenn sie in Kindheit und Jugend keine umfassende Sexualaufklärung und somit keine Sprache erhalten haben, um ihre Lebensvorstellungen in diesem Punkt zu formulieren? Wie offen und frei können die Bewohner:innen von Einrichtungen im Bedarfsermittlungsverfahren über Themen von Sexualität, Kinderwunsch und Partnerschaft sprechen, wenn Familienangehörige an diesem Verfahren teilnehmen?

Auch unterscheiden sich die Bedarfsermittlungsinstrumente in den von ihnen vorgegebenen Aspekten und Abläufen (Liesen und Wyder 2022). In der Regel lassen sie insofern tief blicken, welcher Unterstützungsbedarf von staatlicher Seite hinsichtlich sexualitätsbezogener Aspekte vorgesehen ist: So fehlen im Fragebogen und Indikatorenraster des Einstufungssystems für den individuellen Betreuungsbedarf (IBB) Aspekte sexueller und reproduktiver Gesundheit. Dieser Fragebogen mit Indikatoren für Menschen mit geistiger Behinderung enthält bezeichnenderweise nur im Themenbereich psychische Beeinträchtigung und herausfordernde Verhaltensweisen einen einzigen sexualitätsbezogenen Indikator: rechtlich abweichendes Sexualverhalten.

Zur umfassenden Förderung von sexueller Selbstbestimmung im Sinne der BRK sind Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie der Achtung der sexuellen Integrität grundsätzlich allen Menschen mit Betreuungsbedarf zugänglich zu machen. Dies sollte sich in einem allgemeinen Sockelbetrag des individuellen Budgets zur Umsetzung der Personenwürde niederschlagen. Hierfür ist das Konzept Lebensqualität als Grundlage nur bedingt geeignet. Einen umfassenderen, bereits in den Menschenrechten verankerten Zugang bietet hingegen der Befähigungsansatz.

Nussbaum hat an die Adresse der Politik einen Befähigungsansatz formuliert, der nachvollziehbar begründet, wie individuelle Chancen gesellschaftlich strukturiert werden. Er kann als soziale Grundlage der Menschenrechte verstanden werden, da er auf das Vorhandensein von Möglichkeiten gründet und die freie Entscheidung des Individuums innerhalb der Grenzen des guten Lebens fokussiert. Das Bemerkenswerte an Nussbaums Ansatz ist, dass dort zentrale menschliche Fähigkeiten aufgelistet werden, die sexuelle und reproduktive Gesundheit und sexuelles Wohlbefinden überhaupt erst ermöglichen (Nussbaum 2010, 112–115). Folgerichtig stellt aus Sicht dieser Gerechtigkeitstheorie die fehlende oder unzureichende Verfügbarkeit von Angeboten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit eine Verletzung der Aufgaben öffentlicher Institutionen dar. Der Bewertungsmaßstab liegt hier darin, inwieweit die Realisierung einer individuell selbstbestimmten Lebenspraxis vor dem Hintergrund vorhandener Bedürfnisse ermöglicht wird (Ziegler, Schrödter und Oelkers 2012, 297–310).

Der geforderte Sockelbetrag im individuellen Budget lässt sich damit begründen, dass er Menschen mit Unterstützungsbedarf jederzeit den freien Zugang zu Leistungen sexueller und reproduktiver Gesundheit garantiert. Vor diesem Hintergrund müssten die Kantone folgende basale Angebote entsprechend finanzieren:

- Bildungs- und Beratungsangebote zu sexueller und reproduktiver Gesundheit

- Begegnungsangebote, z. B. Kontaktbörsen u. Ä.

- Begleitete Elternschaft

- Sexualassistenz

Literatur

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Bender, S. (2012): Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. Giessen: Psychosozial-Verlag.

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Autor: 

Daniel Kunz ist Professor für Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Er leitet das Weiterbildungsprogramm „Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“.

www.hslu.ch/m132