Ein Mann mit Halbglatze sitzt in seinem nach vorgekippten E-Rolli und steht somit aufrecht. Er ist noch mit den Knien am Rolli festgebunden. Zusätzlich hält ihn seine Assistenz am Becken fest. Die junge Dame trägt ein schwarzes Top und eine Jeanshose, darunter schwarze Socken und ist blond. Die beiden befinden sich in einem Haus.

Wenn ich so in meinem Stehpult stehe und merke, wie anstrengend das ist, bewundere ich meine Assistentinnen, die den ganzen Tag stehen.

Foto: © Huainigg
aus Heft 3/4/2022 – Freak-Assistenz-Geschichten
Franz-Joseph Huainigg

Vom Finden der eigenen Rolle

Unser Freak steht mit seinen vier Rädern mitten im Leben. Er ist rund um die Uhr auf ein Beatmungsgerät angewiesen und kann weder Arme noch Beine bewegen. Das ist für ihn aber kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Mit der Unterstützung seiner Familie und zehn Assistentinnen führt er ein selbstbestimmtes Leben. Im achten Teil unserer elfteiligen Serie gibt er ungewöhnliche Einblicke in sein Leben mit Persönlicher Assistenz und zeigt, wie ein Leben, in dem Pflege zwar wichtig ist, aber nicht seinen Alltag bestimmt, inmitten der Gesellschaft funktioniert.

Ich komme abends nach Hause und stürze mich sofort in mein Fitnessprogramm. Die Assistentin schnallt mich auf meinem Hometrainer an, Arme und Beine werden durch einen Motor in Bewegung gebracht. Selbst kurbeln kann ich nicht, wie ich es früher beim Handbikefahren gemacht habe, jetzt werde ich bewegt. Handbikefahren war ziemlich cool, meine Frau Judit hatte sich Rollerblades angeschnallt, und wenn es leicht bergaufging, schaltete ich sie als Hilfsmotor hinten dazu. Dieses gemeinsame Erlebnis an der frischen Luft machte uns Spaß. Danach stehe ich auf, erhebe mich aus meinem Sessel. Dazu hat mein Rollstuhl eine großartige Einrichtung: Durch einen Bügel bei den Knien und am Brustkorb werde ich abgesichert, um nicht beim Hochfahren aus dem Rollstuhl auf den Boden zu kippen. Da würde ich mir gleich eine ziemlich blutige Nase holen. Mit meinem Joystick aktiviert die Assistentin den Modus „Stehen 1“ und schon beginnt sich mein Rollstuhl in Bewegung zu setzen. Lehne und Sitzfläche werden annähernd zu einer geraden Rückwand und ich stehe. Ich kann sogar, dank der kleinen vorderen Stützräder an meinem Rollstuhl, stehend in der Wohnung herumfahren.

Trainingseinheiten

Sowohl Radfahren als auch Aufstehen mobilisieren meinen Kreislauf und fördern den Stoffwechsel. Ich bekomme einen roten Kopf und viel Durst. Nach einer halben Stunde ermüde ich immer und sage zur Assistentin: „Ich bewundere euch schon! Ihr steht ja den ganzen Tag!“ An dieser Stelle muss ich jetzt aber doch eingestehen, dass ich in meiner Darstellung ein wenig gelogen habe: Unter der Woche nach der Arbeit bin ich meistens zu müde und wohl auch zu unmotiviert, um meinen Körper zu trainieren. In der Regel ist das Trainingsprogramm ein Wochenend- und Feiertagsprogramm. Dafür an diesen Tagen sehr konsequent, ausführlich und in aller Ruhe. Mag sein, dass der eine oder andere sich jetzt denkt, Arme und Beine passiv durch eine Maschine bewegen zu lassen und kurz seinen Hintern zu heben, ist ja kein Sport. Früher, als ich meine Hände noch bewegen konnte, war ich regelmäßig reiten, bin mit dem Handbike geradelt und schwimmen gegangen. Für das Schwimmen war ich stets bestens ausgerüstet mit Taucherbrille, Schnorchel und Schwimmflügel. Keine Schwimmflossen, die hätten mich eher gebremst. Reiten und Schwimmen ging ich mehrmals die Woche mit meinen Assistentinnen. Der Trick dabei war, den Dienstbeginn gleich vor dem Schwimmbad zu machen, da konnte ich dann nicht mehr aus. Absagen wollte ich des Öfteren, aber da es damals noch kein Handy gab, wurde das Trainingsprogramm durchgezogen.

Morgenroutine

Durch die steigende Behinderung wurde die Unterstützung durch Assistentinnen immer notwendiger. Als ich Judit kennengelernt hatte, machte ich noch alles allein. Ich war selbstständig, zog mich in der Früh langsam, aber doch allein an. Ein bleibendes Erlebnis war, dass ich eine Volksschulklasse einmal einlud, mir in der Früh beim Anziehen zuzusehen. Die ganze Klasse versammelte sich am Boden hockend und stehend rund um mein Bett, beobachtete mich aufmerksam und hörte meinen Kommentaren zu. Nachdem ich fertig war, sagte ein Bub: „Spannend! Spannend und so schnell! Der Autor brauchte 49 Minuten und 50 Sekunden!“ An dieser Geschwindigkeit können sich heute die Assistentinnen in der Früh beim Anziehen von mir messen. Mein Rekord wird selten überboten. Dazu muss man ehrlicherweise auch sagen, dass durch die Beatmung, das Durchbewegen sowie das Katheterisieren und Abdichten heute mehr am Programm steht. Das sage ich den Assistentinnen aber nicht, denn die Latte soll ja hoch bleiben. Cool ist vor allem die Strategie, den Namen einer beliebigen ehemaligen Assistentin zu sagen, die einen Rekord von 30 Minuten aufgestellt hätte. Aber zu viel darf ich hier nicht aus meiner Trickkiste plaudern, denn das könnte ja gelesen werden.

Persönliche Assistenz

Judit hatte, als wir heirateten, einen klaren zeitlichen Plan: Während ich mich anziehe, kann sie Zeitung lesen und das Frühstück vorbereiten, während ich mich am Abend ausziehe, kann sie noch in einem Buch schmökern und sich weiterbilden. Damit war es aber bald vorbei, denn ich brauchte sie immer mehr. Sie zog mich in der Früh an und brachte mich am Abend ins Bett. Das war eine starke Belastung für sie, da sie auch einen anstrengenden Job hatte. In der Früh war sie unausgeschlafen und am Abend legte sie mich mit letzter Kraft hin. Da war dann der Zeitpunkt gekommen, die Unterstützung durch Persönliche Assistenz in unser Leben einzubauen. Wie das funktioniert, hatte ich bei anderen Freunden gesehen, die selbst im Rollstuhl sitzen und mit Persönlicher Assistenz leben. Die Assistentin kam in der Früh, machte mich ausgehfertig und begleitete mich zur Arbeit. Am späten Nachmittag wurde ich von der Assistentin wieder abgeholt und nach Hause begleitet. Wie bereits beschrieben, meist über den Umweg des Schwimmbades. Das Abendprogramm machte immer Judit. Am Wochenende waren wir meistens allein und ohne Assistenz. Das war gut und schön für unsere Beziehung und die junge Liebe.

Zwischen Einlassen und Distanz

Durch die zunehmende Behinderung – ich konnte zunächst die Arme nicht bewegen und später benötigte ich ein Beatmungsgerät – stieg die Kurve des Assistenzbedarfes beständig nach oben an. Besonders durch die Beatmung brauche ich rund um die Uhr jemanden an meiner Seite. Pünktlich um 7 Uhr kommt eine Assistentin, um die Mittagszeit gibt es einen Wechsel, und am Abend, um 23 Uhr, sobald ich gut gelagert und in Decken eingehüllt bin, verlässt sie mich. Natürlich bedeutete diese stetige Präsenz einer Assistentin eine Umstellung unseres Familienlebens. Ich kann selbstbestimmter zu Hause leben, denn für jeden Handgriff oder einen Schluck Wasser benötige ich Hilfe. Das ist entlastend für die Partnerschaft, denn die Beziehung besteht dann nicht nur aus Pflege und Hilfeleistungen. Gleichzeitig war es am Anfang aber auch einschneidend, dass immer eine andere Person mit am Tisch saß und zuhörte. Egal ob wir harmonisch zusammensaßen oder familiäre Konflikte austrugen. Manchen Assistentinnen war das zu viel und sie verschwanden von sich aus für kurze Zeit im Nebenzimmer. Oder wenn es um besonders heikle Dinge ging, schickten Judit oder ich die Assistentin kurz raus. Aber oft sprach ich auch mit der Assistentin danach, hörte mir ihre Meinung an und bekam so eine wertvolle Außensicht. Da die Assistentinnen selbst zumeist zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, ist mir der Erfahrungsschatz der Assistentinnen eine wertvolle Unterstützung bei den Pubertätsproblemen meiner Kinder. Für viele Assistentinnen ist es einerseits schön, in einer Familie mit zu leben, andererseits ist es auch oft eine Gratwanderung zwischen Einlassen und Distanz, Mitreden oder Schweigen, Zurückziehen oder Sich-Einbringen. Jede Assistentin löst das anders und auf ihre Art. Einige nehmen sich alles schnell zu Herzen, andere tun sich leichter, sich innerlich abzugrenzen.

Wertvolle Gespräche

Bei Assistentinnentreffen, die es regelmäßig gibt, tauschen sich die Assistentinnen untereinander darüber aus. Oder wir besprechen es gemeinsam bei Assistenztreffen oder nach Vereinbarung dann auch mit Judit oder den Kindern. Diese Gespräche sind wichtig und wertvoll. Für uns alle ist das ein wichtiger Abgleich, wie wir miteinander umgehen wollen. Besonders bei Erziehungsfragen ist die Abgrenzung oft sehr schwierig und heikel. Die Kinderzimmer sind bei uns im ersten Stock. Um meinen Kindern etwas zu sagen, schick ich meine Assistentin oft zu ihnen rauf, mit der Bitte: „Sag ihnen, dass …!“ Die Assistentin macht das und die Kinder sind dann oft auf die Assistentin beleidigt. Sie glauben nämlich, dass die Botschaft der Meinung der Assistentin entspricht. Ich sage zwar immer dazu, dass sie ausrichten sollen, dass der Papa gesagt hat … aber das kommt bei den Kindern oft trotzdem anders an. Deshalb rufe ich die Kinder vermehrt am Handy an oder schreibe ihnen ein SMS. Etwas komisch, wenn man sich in der gleichen Wohnung befindet, aber auch eine Möglichkeit. Gut in Erinnerung ist uns allen noch, dass bei einem Familienstreit, wo Judit und mir als Eltern von den Kindern einiges vorgeworfen wurde, eine Assistentin, die zuvor ruhig auf der Couch saß, wütend aufsprang, auf den Tisch schlug und den Kindern sagte: „So könnt ihr mit euren Eltern nicht umgehen! Das ist zu respektlos!“ Wir waren von dieser unerwarteten Intervention alle so überrascht, dass der Streit ein plötzliches Ende fand. Auch so haben uns Assistentinnen schon geholfen!

Autor

Franz-Joseph Huainigg verknüpfte seine Geburtstagsfeier am 16. Juni in Wien (hier mit seiner Frau Judit) mit der Vorstellung seines neuesten Buches „Selbstbestimmt leben – Erzählungen aus dem Leben mit Persönlicher Assistenz“. In diesem bringt er auch die Texte aus seiner Serie für unsere Zeitschrift. Das Buch ist im Verlag „Bibliothek der Provinz“ erschienen und kostet 24 Euro:

www.bibliothekderprovinz.at | Tel. 02856/3794