Ein zum Teil sandbedecktem Steg ist zu erkennen. Links davon eine aufgeschütteter Hang mit vereinzelten Grasbüscheln. Rechts davon ein Sandstrand und anschließend das blaue Meer.

Foto: © Jocham
aus Heft 3/4/2022 – Anderswo
Ulrike Jocham

Insel Sylt und inklusiver Tourismus

Sandstrand, zumindest gefühlt, ohne Ende. Auf ca. 40 Kilometern Länge gibt es allein an der Westküste der norddeutschen Insel Sylt ununterbrochen herrlichen Sandstrand und Meer. Malerische Sanddünen, traumhafte Sonnenuntergänge und zahlreiche weitere Naturschauspiele sowie verträumte Örtchen mit Charme versprühenden reetgedeckten Häusern und die gesunde Luft ziehen viele Urlauber:innen an.

Laut der Online-Plattform Statista wurden auf Sylt 2021 über vier Millionen Übernachtungen gebucht und über eine halbe Million Ankünfte gezählt. Bei dieser enormen Nachfrage sind in Zeiten von Inklusion, demografischem Wandel und Umweltschutz neue interdisziplinäre Lösungen bei den Hotel- und Gastgewerbeimmobilien sowie bei den zahlreichen Freizeitangeboten im öffentlichen Raum gefragt. Auf der Nordsee-Insel gibt es Beispiele, die Mut machen.

Der „Bastian 26“

Im Sylter Hauptort Westerland steht das Objekt „Bastian 26“ mit einer Dauerwohnung und zwei Ferienwohnungen, eine davon ist barrierearm. „Bastian 26 ist das nachhaltigste Haus auf der Ferieninsel Sylt ohne konventionelle Heizung“, erklärt der Bauherr Udo Kotzke. Statt Stein auf Stein zu bauen, hat der visionäre Bauherr ein Vollholzhaus errichten lassen, dessen Holz durch die Ernte bei abnehmendem Mond besonders haltbar und widerstandfähig ist. Mit massivem Wandaufbau und Verbindungen aus Holzdübeln ohne Leim, Chemie oder Holzschutzmitteln wurde ein neuer Standard für gesundes Wohnen erreicht.

Hinter diesem neuartigen Gebäude steckt ein Expert*innen-Team aus den Bereichen Inklusion, Architektur, Handwerk, Feng-Shui, Geomantie, Baubiologie und effizienter Gebäudetechnik. Für die verantwortliche Architektin Birte Welling-Volquardsen von Sylt steht die Zukunft im Zeichen der Interdisziplinarität. „Eine Innovation wie Bastian 26 erfordert Wissen aus mehreren Professionen“, so Welling-Volquardsen. Der Bauherr Udo Kotzke, der u. a. erster Vorsitzender der „Lebenshilfe Inseln Amrum/Föhr/Sylt e. V.“ ist, hat in der multiprofessionellen Zusammenarbeit den Bereich Inklusion vertreten. „Ich habe meine Erfahrungen aus der Behindertenhilfe mit dem Ziel eingebracht, dass viele Menschen mit vielen Behinderungsbildern in den zwei Ferienwohnungen Urlaub machen können“, erklärt Kotzke.

Nullschwellen trotz höchster Wind- und Schlagregenbelastung

Besonders inklusiv bei Bastian 26 sind die barrierefreien Nullschwellen an allen Eingangs-, Terrassen- und Balkontüren. Dies weisen bis heute die wenigsten Hotels und Ferienwohnungen auf, denn die Fehlannahme, dass ohne Türschwellen Wasser ins Gebäude eindringen kann, hält sich erstaunlich hartnäckig. Dieses Märchen müsste nun ein Ende finden, denn Bastian 26 steht auf Sylt in der höchsten Wind- und Schlagregenbelastungszone. „An allen barrierefreien Magnet-Nullschwellen ist bis heute kein Tropfen Wasser eingedrungen, sie haben sämtliche Nordseestürme problemlos gemeistert“, berichtet Kotzke. Die verwendeten Magnetdichtungen liegen im offenen Türzustand plan im Bodenprofil und werden beim Schließen der Türen von Gegenmagneten, die sich im unteren Türflügel befinden, nach oben gezogen. Dadurch werden hinderliche und sturzgefährdende Türanschlagdichtungen nicht mehr benötigt.

Von allen nutzbar

Die Nullschwellen im Bastian 26 zeigen, dass die Gestaltung von Architektur nach dem geforderten „Universal Design“ der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) möglich ist, denn solche Nullschwellen können von Menschen mit dem unterschiedlichsten Bedarf an Barrierefreiheit genutzt werden: Ob mit Gangunsicherheiten, Fußhebeschwächen, Rollstuhl-, Rollator- oder Gehhilfenutzung, jede:r kann diesen barrierefreien Übergang zwischen innen und außen bei entsprechend breiten Türen und leicht bedienbaren Türflügeln nutzen – selbst Menschen mit Vollerblindung oder Sehbehinderung. Aus dem Bereich der Barrierefreiheit im öffentlichen Straßenraum ist bekannt, dass diese Zielgruppe taktil erfahrbare Höhenunterschiede, z.B. vor dem Beginn einer Straße, benötigt, um Lebensgefahren zu vermeiden. Für die räumliche Orientierung an Eingangs-, Terrassen- und Balkontüren ist dies nicht notwendig, da kann auf andere taktile Rauminformationen, wie z.B. Türrahmen oder verschiedene Bodenbeläge, zurückgegriffen werden. Mehr dazu unter: https://www.die-frau-nullschwelle.de/menschen-mit-sehbehinderung-und-nullschwellen/

Bessere Ergonomie für alle

Die Nullschwelle ist nicht nur für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen nutzbar, sie verbessert die Nutzbarkeit von Architektur auch generationenübergreifend. Über 65-Jährige zählen zu der Hochrisikogruppe in Bezug auf Sturzgefahr. Bei den bis heute immer noch sehr weit verbreiteten ein bis zwei Zentimeter oder gar fünf bis zehn Zentimeter hohen Türschwellen können insbesondere ältere Menschen leicht mit den Füßen hängen bleiben und zu Sturz kommen. Das ist bei den sturzpräventiven Nullschwellen im Bastian 26 nicht der Fall. Und selbst für Kinder und ihre Eltern bieten diese türschwellenlosen Übergänge spürbare Vorteile. „Meine Eltern haben vor Kurzem die Erdgeschoßwohnung im Bastian 26 gemietet. Als ich sie mit meinen Kindern dort besuchte und wir zusammen auf der Terrasse saßen, habe ich die barrierefreien Nullschwellen und das Weglassen der sonst üblichen Türschwellen als eine spürbare Erleichterung wahrgenommen. Meine Kinder sind herumgesprungen und sehr häufig über die schwellenlosen Übergänge gelaufen. Dabei war ich einfach viel sorgenfreier als sonst. Keiner musste ständig zu meinen Kindern sagen: Passt auf die Türschwellen auf“, berichtet Boris Gugel, der Front Office Manager der zuständigen Vermietungsagentur Bals.

Barrierearme Ferienwohnung

Die Erdgeschoßwohnung im Bastian 26 ist ca. 110 Quadratmeter groß. Es gibt insgesamt zwei Doppelschlafzimmer, zwei Bäder und einen großzügigen Koch-, Ess- und Wohnbereich. Eines der beiden Schlafzimmer ist größer als das andere. In einem der beiden Bäder gibt es u. a. eine großzügige bodengleiche Dusche und eine finnische Sauna, die Platz für einen Rollstuhl ermöglicht, sowie eine Toilette, die bei einer Breite von 73 Zentimeter seitlich angefahren werden kann (plus Stützklapp- sowie Wandhaltegriff). „Die Angebote auf Sylt mit Ferienwohnungen, die auch von vielen Rollstuhlnutzer:innen genutzt werden können, sind ausgesprochen rar und oftmals sehr, sehr hochpreisig. Die barrierearme Wohnung im Bastian 26 ist somit eine tolle Erweiterung für diesen Bedarf“, erklärt Moritz Bals von der Appartement-Vermietung Bals.

Kontakt: Appartement-Vermietung Bals GmbH & Co. KG

Telefon: 04651-9954710 |  vermietung@bals-sylt.de

https://bals-sylt.de/properties/bastianstrasse-26-1-meer/

Weitere Ferienwohnungen

Direkt neben dem Bastian 26 steht ein Gebäude von der Lebenshilfe Sylt, in dem sich ebenfalls eine Ferienwohnung mit 97 Quadratmetern befindet. Dieses Mietangebot richtet sich insbesondere an Gäste mit Behinderung.

Lebenshilfe Inseln Amrum/Föhr/Sylt e.V.

Telefon: 04651-58 10 |  info@lebenshilfe-sylt.de

insel-sylt.de/accommodation/53861/

Zahlreiche weitere Ferienunterkünfte können in der Sylter Broschüre „Urlaub mit Handicap“ eingesehen werden:

https://www.sylt.de/fileadmin/Mediendatenbank_Sylt/PDF/Prospektbestellung/smg-urlaub-mit-handicap.pdf

Normen-Wirrwarr zu „barrierefreien“ Ferienwohnungen

Insbesondere auf der Insel Sylt, wo laut ImmoScout24 die Immobilienpreise bei durchschnittlich ca. 12 800 Euro pro Quadratmeter liegen und bis zu ca. 35 000 Euro gehen können, wird mehr als deutlich, dass es an einer klaren und leicht verständlichen Richtlinie für barrierefreies Wohnen fehlt. Die deutsche DIN-Norm für barrierefreies Bauen führt zu Unklarheit und Missverständnissen. Sie beschreibt einen Basisstandard und einen R-Standard für die Rollstuhlnutzung. Der Basisstandard erlaubt Barrieren (z.B. auf der einen Seite der Toilette eine Wand und auf der anderen ein Waschbecken im Abstand von jeweils 20 Zentimeter), die viele Menschen mit Behinderung von der Wohnungsnutzung komplett ausgrenzen. Doch gerade diese Stelle könnte mithilfe des Universal Design mit einer seitlichen Anfahrbarkeit auf einer bodengleichen Dusche (Doppelnutzung) gelöst werden. Der R-Standard in der Norm hingegen ist so hoch, dass viele Anbieter von Ferienwohnungen diese kaum erfüllen können. Weiters wurde eine bedeutende Nullschwellen-Stellungnahme vom Deutschen Institut für Normung aus dem Jahr 2013 durch Behinderte Menschen, Ausgabe 3–4/2013 veröffentlicht, die zu einer längst notwendigen Klärung im Bereich von barrierefreien Außentürschwellen geführt hat, aber von Schlüsselmultiplikatoren viel zu wenig bekannt gemacht wurde. Seit dieser Stellungnahme ist klar, dass nach DIN barrierefreie Nullschwellen auch an Außentüren (sogar im Basisstandard) gefordert sind und Wohnungen, die ein bis zwei Zentimeter hohe Türschwellen haben, nicht als barrierefrei beschrieben werden dürfen. Doch die wenigsten wissen das, obwohl sogar die Landesbauordnung von Schleswig-Holstein bei barrierefreien Wohnungen auch an den Freisitztüren (das sind z. B. Türen zu Balkonen und Terrassen) Nullschwellen fordert. Missverständnisse auf allen Seiten sind also vorprogrammiert.

Sylter Strände für alle

In Westerland selbst sind mehrere Strandzugänge mit unterschiedlichen Steigungen (für manche ist Assistenz notwendig) vorhanden, die stufenlos erreichbar sind. Beim Hotel Miramar gibt es z.B. einen Strandabschnitt mit einem Rettungsschwimmerstand, an dem ein Wasserrollstuhl ausgeliehen werden kann. Auch in vielen anderen Orten der Insel ist ein stufenloser Zugang zu den Stränden möglich.

Fahren auf Sand mit cadWeazles

Die Gemeinde Wenningstedt-Braderup lässt für viele Menschen mit körperlichen Behinderungen eine noch nie da gewesene selbstbestimmte Teilhabe am Sylter Strandleben Realität werden. Auf Initiative der Gemeinde und des Tourismus-Service wurden Spenden für fünf „cadWeazles“ gesammelt. Das sind elektrische Rollstühle, die auf Sand fahren und starke Steigungen sicher bewältigen können. Der Tourismus-Service Wenningstedt-Braderup verleiht einen „cadWeazle“ für zehn Euro pro Tag mit einer Kaution von 100 Euro plus Vorlage eines Behindertenausweises (aG oder G). Voraussetzungen sind ein Mindestalter von 18 Jahren oder die Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Mittlerweile können diese elektrischen Strandrollstühle auch in der Gemeinde Hörnum ausgeliehen werden.

Kleiner Rollstuhl für Sylt und überall

Zahlreiche natürliche Sehenswürdigkeiten, wie z.B. die Strände und die Wasserkanten auf dem Sylter Ellenbogen, können sehr viele Menschen mit körperlichen Behinderungen noch nicht erreichen. Doch auch hier gibt es bereits technische Lösungen. Das Unternehmen Hoss Mobility im österreichischen Waldhausen hat in Kooperation mit dem Verein „behindert-barrierefrei e. V.“ (behindert-barrierefrei.de) einen kleinen schnittigen elektrischen Rollstuhl mit nur einer Achse entwickelt, der sich z.B. am Stand um die eigene Achse drehen kann und sich im natürlichen Gelände auf Sand und holprigen Wegen fahren lässt. Mit diesem elektrischen Rollstuhl wird nicht nur der nördlichste Punkt Sylts und ganz Deutschlands für immer mehr Menschen zugänglich. „Die Nachfrage nach dem Hoss-Rollstuhl ist riesig, aktuell kommen wir mit den Bestellungen nicht hinterher“, berichtet Oliver Fleiner, der erste Vorsitzende von behindert-barrierefrei e. V. aus dem süddeutschen Kirchheim unter Teck. Für die Steuerung ist nur eine Hand erforderlich. Die Technik wird kontinuierlich verbessert, sodass immer mehr Menschen diesen Rollstuhl nutzen können. Dank der kleinen Maße (670 mm breit, 750 mm lang und 900 mm hoch) des Rollstuhls ist auch der Platzbedarf in Wohnungen kleiner. Je mehr Menschen diesen kleinen E-Rollstuhl erhalten, umso mehr reichen Wohnungen mit kleineren Bewegungsflächen von ca. 120 mal 120 Zentimetern aus. Zieht man Bewegungsflächen von ca. 150 mal 150 Zentimetern zum Vergleich heran, entspricht das bei einer Zweizimmerwohnung ca. sechs bis acht Quadratmeter weniger Platzbedarf. Gemessen an den aktuellen Preisen der Ferienwohnungen auf Sylt, ergibt das ein Einsparpotenzial von ca. 89 600 Euro. Die Anschaffungskosten für den Hoss-Rollstuhl liegen bei ca. 24 000 Euro und die Mobilität geht über die Wohnung weit hinaus. Händler für den Hoss-Rollstuhl:

hoss-mobility.com, www.myfrankie.de, motionwheels.ch/hoss-rollstuhl.html

Autorin

Ulrike Jocham ist Dipl.-Ing.in Architektur und Heilerziehungspflegerin

Interdisziplinäre Bausachverständige für Barrierefreiheit, Universal Design, Inklusion und Nullschwellen sowie Bausachverständige für Schäden an Gebäuden (DESAG) 

Bausachverständige für Heime, Betreute Wohnanlagen und inklusive Wohnprojekte

www.die-frau-nullschwelle.de | info@ulrikejocham.de