Eine Frau trägt ihren Hund mit der einen Hand und mit dem anderen Arm hält sie ein Mädchen. Beide tragen eine Jacke, Haube und einen Schal. Das Mädchen trägt auch noch einen pink karierten Rucksack. Im Hintergrund sind weitere Massen an Menschen zu sehen.

Gebündeltes Leid

Foto: Frank Schultze
aus Heft 3/4/2022 – Denkanstöße
Dieter Fischer

Die Zerstörung von Ganzheiten - ein Angriff auf das Leben

Menschen erleben erneut Krieg

Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland lässt uns alle erschrecken. Die täglichen Bilder allein sind schon schlimm genug; wenn dann noch zusätzlich das Erzählen betroffener Menschen hinzukommt, kann man sich dem zum Ausdruck kommendem Leid kaum mehr erwehren. Man fühlt sich als Einzelner diesem gegenüber total ausgeliefert und findet kaum noch Worte für das, was derzeit in der Ukraine geschieht. Wohin man sich auch begibt, man nimmt diese Eindrücke überall mit. Nicht wenige Bilder, Sätze und Szenen verfolgen einen bis in den Schlaf.

Sie besetzen einen mit ihrer Gestimmtheit und lassen nur noch bedingt anderes zu. Im Gegensatz zur Pandemie, die vorrangig den Einzelnen konkret betrifft, weitet sich der Konflikt Ukraine-Russland gesamtgesellschaftlich zu einer noch nicht überschaubaren Katastrophe aus. Bei den Älteren weckt er längst vergessene Erinnerungen an eigene Flucht- und Kriegserfahrungen und ängstigt deshalb nochmals mehr. Andere wiederum können nur noch von „grenzenlosem Bösen“ schlechthin sprechen, das mit diesem Krieg plötzlich die Oberhand zu gewinnen scheint. Sein bisheriges Leben brachte man eher mit dem Guten in Verbindung, das einen leben, wachsen und Sinn erfahren ließ. „Alles strebt zum Licht“ (Rainer Maria Rilke), umschreibt bildlich gesprochen jene Hoffnung wie auch die hier gemeinte, bislang gesammelte Erfahrung.

Versuch einer „anderen“ Sicht

Was den Menschen bis ins Innerste erschüttert, sind gar nicht primär die konkreten und gleichzeitig sinnlosen Akte von Gewalt, sondern das unverschuldete Erleben von blindwütender Zerstörung erhoffter bzw. ersehnter Ganzheiten. Schon kleine Kinder erschrecken zutiefst, wenn der von ihnen gebaute Turm – verursacht durch andere Kinder aus welchen Gründen auch immer - einstürzt. Es ist eben nicht nur der kaputte Turm, der sie erzürnt und erschreckt, sondern vielmehr ein existentielles Ereignis, mit Unglaublichem konfrontiert zu werden, auch wenn sie den Übeltäter ausmachen können. Normalerweise bitten sie ihre Mutter oder die Erzieherin darum, den selbstgebauten Turm nach dessen Vollendung noch über Nacht stehen zu lassen oder ihn nicht sogleich zurückbauen und die verwendeten Bausteine wieder aufräumen zu müssen. Wachen sie am Morgen auf, führt sie ihr erster Gang sogleich zum Turm vom gestrigen Abend, um sich zu vergewissern, dass es ihn noch gibt und dass er noch steht. Als Menschen leben wir nicht nur von der „guten Gestalt“, sondern ebenso von uns selbst geschaffenen Ganzheiten. Sie versöhnen uns, auch wenn das Leben um uns tobt und sich der eigenen Macht entzieht.

Nicht viel anders ergeht es Erwachsenen. Wir gehen aus dem Haus in der „sicheren“ Annahme, dieses bei unserer Rückkehr so vorzufinden, wie wir es verlassen haben. Auch vom Blumenstrauß in der Vase erwarten wir, dass er am nächsten Tag noch am gleichen Platz steht und uns erfreut. Unser gesamter Tag, ja unser gesamtes Leben besteht aus unzählig vielen kleinen oder größeren Situationen solcher Ganzheits-Erfahrungen als vertrauensbildende Zeichen der Selbstvergewisserung.

Menschen wie im Ahrtal anlässlich der Flutkatastrophe im Juli 2o21, Teilnehmer an einem Verkehrsunfall oder durch die Übermittlung einer tödlichen Diagnose erleben und erlebten genau das Gegenteil. Betroffene sprechen dann davon, ihnen habe es den Boden unter den Füßen weggezogen. Nichts sei mehr wie vorher und alles, was sie als Person ausmacht, sei Opfer der Flut, des Unfalls, des Krebses oder der Zerstörung wie jetzt im Ukraine-Russland-Krieg geworden. Es sind eben nicht nur Dinge, die hier vernichtet oder Situationen, die verunmöglicht werden, sondern das Vertrauen in die eigene Person wie in das Leben hat Risse erfahren. Das Fundament, auf dem man zu stehen glaubte oder Dinge und Situationen, mit denen man sich tief verbunden fühlte, sind unwiederbringlich zerbrochen. Selbst liebgewonnene Menschen gibt es am Ende nicht mehr. In Butscha konnte man erschreckend miterleben, wie eben nicht nur „die Welt“, sondern jene Selbstsicherheit in sich zusammenbricht und letztlich die Menschlichkeit in Gefahr ist, zertrümmert zu werden. Die ganze Welt trauert mit den Menschen in Butscha und in der Ukraine. So heißt am Ende die Frage nicht nur, „Und was mache ich jetzt?“ (Wolfgang Büscher), sondern weitaus umfassender „Wohin soll ich mich (jetzt) wenden?“ (Franz Schubert), wenn jene „Selbstgewissheiten“ (ARTE) einstürzen und damit vernichtet werden.

Durch jenes unsägliche Geschehen erlebt sich der Einzelne selbst als Ganzheit, d.h. als Selbstgewordener in seinem Selbstgewordensein angegriffen, ja zerstört. In Korrespondenz mit einzelnen „ganzen“, d.h. unbeschädigten Dingen erfährt man sich in guten Tagen als „ganze Person“, selbst wenn einem ab und an Schwankungen des eigenen Befindens widerfahren. Das jeweils erlebte Ganze ist weitaus mehr als nur die Summe seiner Teile, auch wenn Teile jenes Ganzen in einer Art Stellvertreterfunktion trotz erlittener Verluste immer noch für das Ganze stehen. So trägt vielleicht das Kind ein paar Bausteine mit sich herum und erzählt jedem, dass dies Steine von seinem schönen, ganz persönlichen Turm seien, mit denen es weiterbauen will; ebenso können ein wiedergefundener Becher oder ein Bild die gleiche Wirkung erzeugen und gleichzeitig als Zeugen für das zerbrochene Leben wie auch für das Ganze stehen! Mir ist das so ergangen, als während eines Umzugs meiner geliebten Pinocchio-Figur aus Siena die Füße und die Nase abbrachen. Es war aber immer noch jener Pinocchio, den ich dort in einem Geschäft vor zwei Jahren erstand. Doch solche Vertröstungen reichen auf Dauer kaum aus. Dies wird jeder bestätigen, der Zerstörungen von Ganzem erlebt hat; gleichzeitig aber ist es dennoch mehr als nur ein Trostpflaster in einer von Gewalt durchwirkten wie auch bedrohten Welt.

Das Sprichwort „Scherben brächten (angeblich) Glück“ mag vorübergehend beruhigen, manche sogar trösten; doch so einfach ist das nicht. Sicher stehen einerseits Teile des Ganzen immer noch für das zerbrochene Ganze, andererseits aber auch für erlebte und erlittene Katastrophen. Hinweis auf den Weg aus einer Krise, wie wir ihn später versuchen, kann diese Erfahrung bzw. diese Überzeugung sehr wohl sein – begleitet von der Einsicht: Es ist, was es ist (Erich Fried). Auch wenn man vom Bleiben träumt, Zukunft entsteht erst durch Gehen – gehen des Weges aus der Krise hin zu neuem Ganzen im Sinne von Heil! Dieses hat seinen Ursprung im griech. Wort „holos“ – und meint ‚gesamt‘.

Menschen auf der Flucht

"Es gibt ein Bleiben im Gehen,

ein Gewinnen im Verlieren,

im Ende einen Neuanfang."

Volksweisheit

„Niemand flieht freiwillig. Wenn Menschen sich entscheiden zu fliehen, befinden sie sich häufig in einer Situation, die alternativlos ist. Krieg, Terror, ethnische oder religiöse Verfolgung, brutale Repression aufgrund sexueller Orientierung, unerträgliche Existenzbedingungen in zerfallenen Staaten – all dies treibt Menschen in die Flucht.“ (aus: Broschüre ‚Proasyl‘ 2o22) – Man flieht vor bzw. von etwas ohne sicheres Wissen um die sich einstellende oder sich zeigende Zukunft. An sich ist der Mensch kein Nestflüchter, sondern trachtet eher nach dem Gegenteil – dem Bleiben und Sesshaft-Werden. Fliehen oder Flüchten setzen voraus, dass man vertrieben wird oder aber man sich freiwillig zum Aufbruch entschließt, weil die Lebensumstände unerträglich geworden sind. Insofern verlässt man – um an den vorausgegangenen Überlegungen anzuschließen – jeweils etwas Ganzes, sein Haus, seine Heimat und damit auch sein bisheriges Leben. Selbst wenn man es freiwillig tut, ist man letztlich nicht mehr frei, wohl aber wollend oder willens. Die sich zeigende existentielle Not oder erlebte Zerstörung drängen, ja zwingen einen dazu.

Mit Kind und Kegel reiht man sich in den Strom der anderen Flüchtenden ein, nimmt mit, was man tragen kann. Genau abzuschätzen kann man nicht, was für diese „Reise“ ins Unbekannte notwendig bzw. sinnvoll ist. Das Neue ist das Fremde und trotzdem mit jener ambivalenten, weil unsicheren Hoffnung auf Freiheit verbunden. Zum Abschiednehmen bleibt selten Zeit, so schmerzlich dies auch ist. Ein wenig Essen, die wichtigsten Medikamente, vielleicht noch das Smartphone müssen genügen und die Puppe, das Schmusetier oder den Hasen nicht vergessend. Das Auf-den-Weg-Machen wird vorübergehend zur neuen, fragwürdigen Heimat – und dies zusammen mit anderen Vertriebenen, mit denen man sein Schicksal teilt. Die Angst wird zum nimmermüden Motor, bis man die Grenze jenes Landes erreicht, das einem Freiheit verheißt wie auch Hilfe verspricht, ohne sichere Bleibe und doch wieder eine „Bleibe“, in der man letztlich gar nicht dauerhaft bleiben kann. Die schweren Koffer und Taschen, die man schleppt, symbolisieren das Kreuz, das man jetzt freiwillig wie gezwungenermaßen auf sich genommen hat.

Man sagt, wirklich frei sei man nur, wenn man beide Hände frei macht, um Neues zu empfangen; vorerst allerdings halten sich diese an den Resten jenes Ganzen fest, das für das gewesene Zuhause steht. Doch Reste von Ganzem sind überraschenderweise – wenn auch nur vorübergehend - wieder Ganzheiten, die sich wie Samen in das Unbekannte streuen lassen. Nicht immer sind diese frei gewählt, manchmal einem eher zufällig in die Hände gefallen. Im letzten Augenblick werden sie in die übervolle Reisetasche gestopft. Was sich jedoch von alleine Platz sucht, das sind Erinnerungen unterschiedlichster, schmerzlicher wie glücklicher Art. An diesen trägt man leichter, so schwer es auch sein mag. So ist man bereit und fähig, mit ihnen produktiv umzugehen. Sie dürfen nicht zu Bremsklötzen mutieren und am Ende den Gang in die Zukunft verdunkeln und zu belasten, anstatt ihn zu beflügeln.

Das Schwerste ist wohl, sich Gewalterfahrungen innerlich entgegenzustellen. Jeder Bomben- oder Kanonentreffer zerstörte nicht nur das Haus, das man bewohnte, sondern traf das errungene wie geschenkte Lebenszutrauen und den Glauben an die Menschlichkeit samt dem Guten. Von diesem Vertrauen leben und mit diesem atmen und sind wir. Nur mit Vertrauen lässt sich der Zukunft zuversichtlich entgegengehen und mit der Zeit auch gestalten. Der innere Weg hierbei ist spannend und trotzdem Trost verheißend, denkt man nur an den Satz von Bert Hellinger: „Lassen heißt, verwandelt gehen!“

Letzte Anker begleiten die fliehenden und flüchtenden Menschen auf ihrem Weg ins „Offene“ und Unbestimmte. Für die meisten stellt das Handy die Nabelschnur dar, um sich in den Strom der Informationen einzuklinken und mit den Zurückgelassenen in Kontakt zu bleiben. Es sind aber auch die vielen Bilder, die an Zuhause erinnern; und nicht zuletzt bietet die erlebte und gelebte Kultur über die Grenzen hinweg innere Heimat. Sie ist der Atem, der die bevorstehende Lebensstrecke zu beseelen und zu färben vermag. Allem voran geht es jedoch darum, den Strom des Vertrauens nicht abreißen zu lassen, selbst wenn der Anfang vorwiegend aus Containern, Notbetten und Spenden besteht.

Kinder als die besonders Betroffenen

    "Nichts ist so entsetzlich wie der Zusammenstoß zwischen roher Gewalt und kindlicher Hilflosigkeit."

Rita Bockelmann

Bedingt durch die Tatsache, dass Männer im wehrfähigen Alter als Soldaten gebraucht werden, sind vorwiegend Frauen mit ihren Kindern auf der Flucht, aber auch alte, gebrechliche, kranke und behinderte Menschen, soweit sie geh- oder transportfähig sind.

Kinder rühren einen besonders, wenn sie das „Ganze“, jenes schreckliche Geschehen nicht wirklich verstehen, sondern einfach mitgenommen werden auf jene „Reise ins Ungewisse“. Viele haben ihre Schmusetiere, eine Puppe oder gar einen lebendigen Hasen bei sich. Die Reaktion der Helfer lässt Kindern gegenüber besondere Sorgfalt und Rücksichtnahme erkennen. Inzwischen kümmern sich sogar Tierärzte um die mitgebrachten Geschöpfe, wobei in gleicher Weise Sozialarbeiter und Psychologen notwendig wären. Man kann Kindern nicht ihren letzten Halt aus den Armen reißen!

Es lohnt sich, diese zu Herzen gehenden Situationen bei der Ankunft an der Grenze ein

wenig genauer zu betrachten, um sie besser zu verstehen. Psychologisch nennt man diese mitgebrachten Schmusetiere und Puppen, aber auch die Tiere sowie andere Spieldinge oder Gegenstände „Übergangsobjekte“. Sie spielen als Mittler zwischen dem Kind und der ihm noch fremden großen Welt eine wichtige Rolle.

Exkurs: Übergangsobjekte

Ein Übergangsobjekt ist nach Donald Winnicott (2o2o) ein vom Säugling selbst gewähltes Objekt, das den Raum zwischen Kleinkind und Mutter einnehmen kann. Es ist meist ein materielles bzw. gegenständliches Objekt (z.B. ein Kuscheltier, eine Schmusedecke oder auch ein lebendiges Tier), welches dem Kind erleichtert, den Übergang von der ersten frühkindlichen Beziehung zur Mutter zu reiferen und anderen Beziehungen in der Welt zu vollziehen. Die Vorliebe für solche Schmuseobjekte kann ein Leben lang erhalten bleiben. Deren positiven Wirkungen sind letztlich ungebrochen – man denke nur an Krankenhäuser oder auch an Senioren- und Pflegeheime. (in Anlehnung an wiikipedia)

Kuscheltiere sind Teile der Kindheit und oft wichtiger als das Abendessen oder das Kinder-Fernsehprogramm. Schmuse- und Kuscheltiere

- dürfen von Erwachsenen nicht verändert werden

- sie begleiten und überleben alle Lebenssituation

- sie geben dem Kind Wärme, Geborgenheit und Trost

- sie vermitteln den Eindruck des Lebendigseins

- sie gehören für das Kind zur Außen- wie zur Innenwelt

- sie müssen Gefühle des Kindes aushalten und verfügbar bleiben

Fast jedes Kind entscheidet sich im Laufe der Zeit für einen ganz bestimmten „Gegenstand“, zu dem es eine besondere Beziehung aufbaut. Dieser kann ein Kuscheltier, ein Tuch oder auch ein lebendiges Tier sein. Sie geben dem Kind Halt und Sicherheit. Das Kind wird kaum ohne ein solches einschlafen oder auch sonst ohne seinen kleinen Freund und Beschützer fremde Wege gehen wollen.

"Ach du mein aller-liebster Teddybär!

Was täte ich, wenn‘s  dich nicht gäb‘!?

Das Leben wär‘ mir gar zu schwer.

Drum lieb ich dich mein Leben lang

So wird mir nirgendwo mehr bang."

- unbekannt

Deshalb benötigen Kinder Kuscheltiere

Die Erfahrung, ein selbstständiges Wesen zu sein, löst Ängste aus, gerade dann, wenn die Eltern nicht anwesend sind. Um die damit einhergehende Hilflosigkeit zu überwinden, baut das Kind eine enge Beziehung zum sog. „Übergangs- oder Ersatzobjekt“ auf. Diese hilft ihm, der Welt auch ohne den ständigen Körperkontakt mit den Eltern weitgehend angstfrei zu begegnen. Auch wenn kein Gedankenaustausch mit den Schmusetieren möglich ist, sind diese immer für einen da und geben Geborgenheit an fremden Orten und nicht nur im Bett. Zudem sind Plüschtiere so, wie man sie je nach Laune gerade gerne hätte. Haustiere oder Familienmitglieder leisten diese Verfügbarkeit selten, manche nie.

Mit der Zeit übernehmen Plüsch- oder Schmusetiere weitere Funktion und Aufgaben der Mutter. Sie vermitteln Geborgenheit und bieten gleichzeitig Möglichkeit der Auseinandersetzung. So werden sie zu Spielkameraden, Vertrauten oder Freunden, zu geduldigen Zuhörern wie auch zu stillen Tröstern.

Kein Wunder also, wenn Übergriffe auf Schmusetiere bei Kindern zu heftigen Reaktionen führen. Davon wissen auch die HelferInnen, wenn sie ukrainische Mütter samt deren Kinder bei deren Ankunft versorgen und dabei von diesen nur für kurze Zeit das Schmusetiere erbitten oder das lebendige Tier – ein Häschen zum Beispiel – in die vorübergehende Obhut eines Tierarztes oder eines Tierpflegers zur Untersuchung übergeben.

„Übergänge“ und damit auch deren Begleiter müssen mit der Zeit zu einem Ziel führen; man muss in der realen Welt ankommen, die einen über das Schmusetier hinaus umgibt. Je vertrauter einem diese wird – z.B. als ukrainisches Kind in einem deutschen Kindergarten, umso weniger muss man auf „Übergangs-Objekte“ zurückgreifen. Ein Flüchtlingskind antwortete mir einmal auf die Frage, ob es seine Puppe, die auf dem Boden in der Ecke lag, „vergessen“ habe: Nein, diese hat jetzt Pause! (d.h. derzeit besteht kein Bedarf!)

Für manche überraschend - es gibt auch „Übergangs-Objekte“ für Erwachsene – z.B. Fotos, Gegenstände oder einen bestimmten Schmuck, einen Brief oder eine Urkunde. Gibt es sie wirklich? Und wenn es sie gibt, sind sie ebenso erfolgreich wie bei Kindern? Leisten sie tatsächlich Hilfe, beruhigen und trösten sie am Ende sogar, wenn das Vertrauen ins Leben erschüttert ist oder erleichtern sie zumindest jene schwierigen Übergänge in ein neues Leben - und verlieren dann an Bedeutung?

Zum Trost und Trösten

"Lasst uns mit niemanden über die Realität seines Leidens streiten.

Mit dem Kummer verhält es sich wie mit Ländern –

jeder Mensch hat sein eigenes."

- CHATEAUBRIAND

Alle Menschen benötigen Trost. Ohne Trost kann kaum ein Mensch dauerhaft leben – besonders dann nicht, wenn ihm Schlimmes widerfahren und Leben im Sinne von Ganzheiten zerbrochen ist. Vom Wortstamm her hat „trösten“ wie auch „Trost“ auf der einen Seite mit Vertrauen, d.h. mit Vertrag und damit mit „treu“ bzw. „Treue“ und auf der anderen aber auch mit „Trutz“ bzw. „trotzen“ zu tun. Insofern vermittelt Trost eine gewisse, zurückgewonnenen „inneren Festigkeit“. Dies gilt aber auch für jene, die andere trösten, d.h. ihnen Trost zusprechen möchten. Sie wollen aus der Fokussierung auf erlittene Verluste herausführen, beruhigen, den Blick weiten und Betroffenen wieder Zukunft ermöglichen.

Kurz skizziert lässt sich Trost wie folgt beschreiben:

Trost will keine rasche Aufrichtung der geknickten oder verletzten Seele, sondern meint eine bestätigende und beruhigende Zuwendung.

Tröstend ist, was Bestätigung und Sicherheit, aber auch Raum für Trauer und zum Rückzug gibt, darüber hinaus Beruhigung leistet und Zuversicht ermöglicht.

Trösten hat nichts mit Beschwichtigen oder Klein-Reden zu tun, sondern mit vorbehaltlosem Dasein, mit Anerkennen des Verlustes und mit Kraft-Geben im Hinblick auf Kommendes – konkret einer Zukunft.

Trost umschließt aber auch Ermunterung zur Tapferkeit, sich dem Gegebenen zu stellen, die aber gleichzeitig von Zuversicht getragen ist.

Trösten kann wohl nur jener, der selbst am eigenen Leib erfahren hat, was Verletzungen sind und dessen Seele verbliebene Narben nichts Unbekanntes sind.

Trösten lässt sich nur im Kontext der Wahrheit. Einen Menschen, angewiesen auf Trost, mit Floskeln zu vertrösten, hieße, den Verlassenen noch einmal zu verlassen.

Trost geht ins Leere, er bleibt Vertröstung, wenn es keine Verheißung gibt.

Trost führt aus dem Jetzt in die Zukunft, aus der rückblickend das Leid als sinnvoll angeschaut werden kann, weil es die Menschen verändert hat, die es ertragen mussten.

Manchmal hilft, gemeinsam „tröstende Orte“ aufzusuchen (Natur, Kirchen; Kneipen usw.) und sich von ihnen trösten zu lassen.

Und über allem steht: „Der Verzicht nimmt nicht, sondern er gibt“ (Martin Heidegger – Der Feldweg) und öffnet auf diese Weise Wege in die Zukunft.

                                                                                                                            (Vgl. Fischer 2009. 115 ff.)

Alle diese Sätze sind solange leicht zu Papier gebracht, solange man sich von dem tatsächlichen, grausamen Geschehen wie in der Ukraine distanziert. Doch jede Nachricht und jedes neue Bild weckt neue, entsetzliche Schrecken, und selbst alle diese Szenarien lassen jenes den Menschen aus der Ukraine zugefügte Leid nur annähernd ermessen.

Trösten vermag wohl nur jener, der selbst hinreichend Leid erfahren hat; ansonsten verbietet sich jedes zu schnell dahingesprochene Wort; aber auch geplante wie auch organisierte Hilfeleistungen gewinnen erst durch selbst erfahrenes Leid an Qualität und Glanz. Sie setzen zudem, sollen sie überzeugend sein, ein ständiges Abwägen des tatsächlichen Bedarfs mit den eigenen wie fremden Möglichkeiten voraus.

Trösten erfolgt durch andere oder anderes – also durch ein Gegenüber, d.h. der erhoffte wie auch der beabsichtigte Trost muss mit der jeweiligen Person „in Kontakt treten“. Insofern ist Trösten stets ein kommunikatives Geschehen. Ob es zu jener erhofften tröstenden Erfahrung kommt bzw. ob das erhoffte Trösten gelingt, hängt deshalb zu einem großen Teil vom Adressaten, dessen Bereitschaft sowie von dessen Offenheit für jenen Trost ab. Das Gleiche gilt für den Trostgeber. Sein „Angebot“ muss adressatengerecht sein, will man den Trostsuchenden weder überfordern noch beschämen oder gar bedrängen. Unabhängig davon jedoch gilt: Trost kann weder den erlebten Schmerz noch das empfundene Leid wegnehmen, wohl aber das Erlebte in einen weiten Raum stellen und mit dem Trost Zukunft aufscheinen lassen. Trostsituationen gehören für beide Partner mit zum Subtilsten, was Menschen einander schenken können. Allein die bloße Bereitschaft für Trost setzt großes Vertrauen in das Gegenüber voraus. Das erklärt auch die oft irritierende Verletzlichkeit, wenn noch so gut gemeinter Trost am Ende misslingt.

Tröstend kann vieles sein – eine andere Sicht, ein neuer Klang, eine ruhige Melodie, ein versöhnliches Wort, eine Erklärung, ein neuer Kontakt, ein Vers oder ein Bild, eine Perspektive, die Aussicht auf einen realistischen Neuanfang oder aber zugesprochener Mut zum Loslassen und Verabschieden des Alten bzw. des Gewesenen.

Menschliches Leben sei dadurch gekennzeichnet, dass es „in ein Ringen zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gestellt ist“, so Hans Senn (1979). Hierbei den leidenden Menschen zu unterstützen und diesem Ringen standzuhalten, zählt mit zu den vornehmsten, aber auch heikelsten Aufgaben eines Trost spendenden wie eines Trost suchenden Menschen. Nicht zuletzt „setzt Hoffnung den Menschen erst instand, die Last des Gegenwärtigen zu tragen“ (nach Brockhaus).                                                                                       

Leid entsteht immer dann, wenn etwas Ganzes zerbricht, eine Beziehung oder Verbindung zerreißt oder eine Perspektive scheitert und man selbst keinen Anknüpfungspunkt mehr im Hinblick auf eine positive Zukunft - weder für sich persönlich noch für sein Leben - erkennen kann. Rückwärts betrachtet sucht man vergeblich nach Erklärungen, vorwärts geblickt erschließen sich keine hinreichenden Möglichkeiten und die Frage nach Sinn bzw. nach einer lebenswerten Zukunft enden nur noch mit großen Fragezeichen.

Christoph Schlingensief (196o-201o), der im Jahre 2oo9 seine Krebserkrankung wie auch sein Sterben öffentlich machte, hat sich in seinem Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ eingehend mit dem Leid auf dieser Welt - und nicht nur mit dem eigenen - auseinandergesetzt und nachfolgend u.a. die anrührenden wie fragenden Sätze formuliert: 

Was ist der Wert des Leidens in der Welt?

Was ist der Wert des Leidens in der Welt?                                                                                                               

Und warum wird es nicht mehr wahrgenommen?

Wer sich einmal anstrengt, solches wahrzunehmen, der sieht im Leiden ständig eine Quelle der Erneuerung.

In meinem Leiden habe ich die Wunde der Welt berührt. Wichtig ist, das Leiden als Kraft zu begreifen.

Doch diese Kraft tut weh – das Leiden tut weh.

Heute Abend habe ich mich gefragt, warum das Leiden als Währung in unserer Welt nicht wirklich existiert.

Und es ist ein Moment des Leids, das schon für das Kind Anlass ist,

anders zu handeln, anders zu denken, nicht umzudenken, aber anders zu empfinden.                 

                                                                              - Christoph SCHLINGENSIEF (2o2o, 179 ff. und 195 ff.)

 

Nochmals zum Trösten und zum Trost

Kinder besitzen immer wieder die erstaunliche Fähigkeit, dem Leid und erfahrenen Schmerzen zu entfliehen. Die Mutter, auch der Vater, manchmal ein Freund, eine Freundin sind nicht selten die ersten Anlaufstellen für den von ihnen gesuchten Trost. Doch noch viel näher, manchmal auch praktikabler sind in solchen Situationen Schmusetiere. Sie halten den Kummer besser aus, sind jederzeit verfügbar und belastbar zugleich und überstehen selbst aggressive Ausbrüche. Sie machen keine Vorschläge, die man befolgen soll. Allerdings sind sie gerade dann stumm, wenn man Worte des Trostes benötigt. Sie singen keine Lieder und sagen auch keine Trostverse. Dennoch: Man kann sie überall mit hinschleppen und werden so zu ständigen Begleitern bei allen Aufs und Abs des persönlichen Erlebens. Kinder gewinnen auf diese Weise zwar eine Beziehung im Sinne einer Verbindung für sich, die sie für den Augenblick rettet, bis sich für sie eine Art neue Ganzheit ergibt, aber Zukunft, wie sie Erwachsene benötigen, garantiert das Bleiben ihres Schmusetiers nicht. Zukunft spielt für Kinder in diesem Sinne noch keine große Rolle.

Erwachsene dagegen leiden zwar wie Kinder unter dem Verlust und dem Erleben zerbrochener Ganzheiten als existentielles Ereignis, erleben diesen schmerzhaften Verlust jedoch umfassender, weiterblickend und deshalb auch tiefer. Doch auch sie vermissen am Ende jenes Moment, das ihnen Ganzheit am intensivsten repräsentiert – einen Ring, ein Bild, bestimmte Gegenstände, sicher auch die eigene Wohnung oder das selbst gebaute Haus. Vor allem aber sind es Menschen, immer wieder Menschen, die Liebe, Halt und Zuversicht gaben und den meist nicht bewusst wahrgenommenen oder falsch eingeschätzten, vergeblichen „Traum vom Bleiben“ nährten und nähren.

Alter Traum

"In diesem Moment

aus der Trauer gestolpert,

in die Wandlung,

in den halbweißen Garten,

das Haar gefunden auf den Tasten,

wieder und abgebrochen

in den Zirkeln,

recht so -

vor mir den Tag,

du bist und bist,

von bleiben war nie die Rede."

- Clemens Eich

Dieser „Traum vom Bleiben“ wurde durch die Flucht aus der Ukraine, jenes unsägliche Flüchten-Müssen jäh unterbrochen. Zerschossene Häuser und von Trümmern übersäte Straßen boten keine Heimat mehr, obwohl die Ukraine an sich ihre Heimat ist und hoffentlich auch fürderhin bleiben wird. Man rettet sich mit letzter Anstrengung in ein Land, wo Freiheit anstatt Gewalt und Hunger herrscht und erhofft für sich wie seine Kinder Geborgenheit und Schutz. Das Herkommen liegt in Schutt und Asche und trotzdem lebt es als Sehnsucht, als ein An- und Hinkommen in den Menschen weiter. Auch wenn das Neue noch nicht sichtbar ist, man fühlt eine vorübergehende und zurückgewonnene Sicherheit. Ob sich mit der Zeit wieder neue „Ganzheiten“ bilden, denen man uneingeschränkt vertrauen kann, bleibt als Frage vorläufig ohne Antwort. Letztlich müsste etwas Heilendes geschehen, wo es sich zu leben und Wurzel zu schlagen lohnt. Auch diesbzgl. stirbt die Hoffnung zuletzt (Ernst Bloch).

Der Weg dorthin wird ein langer und nie nur ein konkreter sein. Der Einzelne für sich alleine wird ihn auch nie zu meistern vermögen. Hier sind wir alle aufgerufen, sowohl das Phänomen des Zerbrechens von Ganzheiten wie das Umgehen mit dem einhergehenden Leid neu zu verstehen und neue Antworten zu finden. Wenn Chr. Schlingensief fragt, warum das Leid noch keine „Währung“ bzw. als solches weder als „Währung“ erkannt noch als solche anerkannt ist, verweist er genau auf jene Wunde, ohne die es weder Heilung noch Heil und letztlich auch keine Zukunft gibt. Er spricht weder von einer Rückkehr ins Gewesene noch von einer Heilung im Sinne von Ungeschehen-Machen, sondern von „Leid als einer Quelle der Erneuerung“. Nur so können neue Ganzheiten entstehen. Man selbst ist angehalten, sich um solche zu bemühen, wenn man glaubhaft Zukunft gewinnen und eine neue Zukunft leben möchte. Eine Wiedergutmachung allein, wenn überhaupt, genügt demnach nicht – letztlich erweist sich diese sogar als kontraproduktiv und letztlich insgesamt als unreal. Es geht um Fortschreibung des Lebens unter den gegebenen Bedingungen, aber immer verbunden mit der Schöpfungskraft, die dem Menschen eigen, ja als bevorzugte Aufgabe gegeben ist (in Anlehnung an Ortega y Gasset). Zukunft entsteht eben nicht nur durch „Gehen“, sondern auch durch Gestalten!                         

Dieses erlebte Zerbrechen ist nur die äußere Schale von dem, was den einzelnen Menschen innerlich erschüttert und letztlich bewegt. Ihm scheint das Fundament entzogen, auf dem er steht, weil das zerbricht, was er sich sonst kaum vorzustellen vermag – die Grundsicherheit seines Lebens wie die Grundverfasstheit seiner Person. Sie sind seine täglichen Begleiter und unverzichtbarer Halt in seinem Leben. Die Grenze, die hierbei erschüttert wird – das ist das mitgehende Vertrauen, was den Menschen wie eine Nabelschnur mit dem Leben samt der Welt verbindet. Ohne Vertrauen, dass das Leben gut ausgeht, ist - auf Dauer gesehen - weder Zukunft noch Versöhnung zu leben möglich. Erst jenes Vertrauen erlaubt Veränderung und verleiht jener „Währung“ Leid eine ganz eigene Gültigkeit und Qualität, von der Chr. Schlingensief in seinem Buch so eindrucksvoll spricht. Erst jenes Vertrauen erleichtert das Loslassen und befreit, ja motiviert zu einem Neuanfang – und lässt selbst die Scherben eines einst Ganzen noch als Teil jenes Ganzen empfinden. Vertrauen erweist sich als fundamentale und zugleich als unverzichtbare Kraft auf dem Weg zu neuem Ganz- und Heilwerden.

Schwer wird es Vertrauen in sich vorzufinden, wenn aufgrund sinnloser Gewalt und Zerstörungswut auch deren Lebensader verletzt oder gar durchschnitten wurde. Man fühlt sich entbunden von allen guten Kräften, auch wenn diese selbst noch gegenwärtig sind. Wege, um Vertrauen zurückzugewinnen, gibt es zahlreiche und dazu unterschiedlichster Art und Weise. Es kann das kleine Werk oder die bescheidene Aufgabe sein, die einem gelingt und infolge beglückt, es mag eine überraschende Erfüllung eines Wunsches oder einer Hoffnung sein – es mögen aber auch Botschaften oder Nachrichten sein von außen kommend, die einen erreichen. Vertrauen bläst dunkle Wolken vom Himmel, lässt Augenblicke wie Lichtpunkte erscheinen oder gewährt mutlos Gewordenen wieder zuversichtliche Blicke in die Weite. Insgesamt aber lässt Vertrauen Zukunft wachsen und gedeihen.

Ein Nachtrag - Zum Phänomen des Ganzen

Wesentliche Impulse zum besseren Verstehen des Ganzen haben wir der Gestaltpsychologie zu verdanken. Werner Stangl schreibt zur Gestaltpsychologie (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.https://lexikon.stangl.eu/2746/gestaltpsychologie – 2o22):

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile‘ oder korrekter „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“. Die Gestaltpsychologie wendet sich gegen die Auffassung, man könne Psychologie betreiben, indem man das Seelenleben des Menschen in immer kleinere Elemente zerlegt, und betont den ganzheitlichen Charakter menschlichen Wahrnehmens, Erlebens und Handelns. „Die Grundeinheiten des menschlichen Seelenlebens sind dabei die Gestalten – verstanden als Ganzes - etwa im Sinne einer Melodie, die sich bekanntlich nicht erfassen lässt, indem man ihre Noten isoliert voneinander analysiert, sondern jede Melodie bildet als Ganzes eine unzertrennbare Wahrnehmungs-einheit, die etwa auch in eine andere Tonart transponiert werden kann, ohne ihre Gestalt zu verlieren“. (nach Stangl, 2022).

Das heißt, bereits die menschliche Wahrnehmung strebt schon nach dem Ganzen als Wahrnehmungs- und als Sinneinheit. Doch darüber hinaus reicht das menschliche Bemühen, aus eigenem Antrieb erneut solche Ganzheiten im Sinne „guter Gestalten“ herzustellen. Und das ist auch der Weg, um aus einer Krise, einem Schmerz oder aus einer Erschütterung herauszufinden – nach einer gewissen Trauer sich um solche kreativen, eigenschöpferischen Tätigkeiten zu bemühen. Kinder bauen nach der ersten Wut über den umgestoßenen Turm wieder einen solchen. Erwachsene räumen die Trümmer von der Straße und suchen sich wieder einen geschützten Platz zum Bleiben. Flüchtende hoffen auf einen neuen Wohnraum bei Freunden – und somit vorübergehend ein „bergendes Haus“. Und wieder andere werden aktiv wie eine ältere Frau, die, zusammen mit vielen weiteren Flüchtenden in Brandenburg untergekommen, ihre Gastgeber um entsprechende Nahrungsmittel und Gerätschaften bittet, um für alle mit großer innerer Freude und Dankbarkeit ukrainischen Bortsch zu kochen.

Begleitete Kinder finden zusammen mit anderen Kindern im Kindergarten die Möglichkeit zu malen oder zu basteln und wieder andere versammeln sich zum Musikmachen. Das Alte und Verletzende, das Zerstörerische und Gewalttätige tritt in dem Maße in den Hintergrund, wie Neues, neue Ganzheiten, neue „Gestalten“ entstehen (U. Stenger 2oo4) – vorausgesetzt, die Lebensader „Vertrauen“ ist nicht gänzlich zerrissen und erloschen, sondern Hoffnungskerne haben alles Leid und allen Schmerz überlebt. Das Loslassen des Alten ist damit noch nicht gemeistert, wohl aber sind erste, mutige Schritte auf das Neue hin gegangen. Bereits jetzt schon ist man ein anderer geworden. Weitere Bewährungsproben stehen noch aus; doch mit jedem Versuch gelingen versöhnte Schritte auf das Neue zu. Selbst wenn das Heil bzw. die Heilung noch lange der Hoffnung anheimgestellt bleiben, erste Schritte auf eine neue Zukunft hin sind getan.

Die Nahrung hierfür sind der Schutz, ein bergendes Haus, das Willkommensein, das Erlernen der Sprache samt der Alltagspraxis, das Eintauchen in die andere Kultur und immer wieder die Erfahrung von Vertrauen – genährt durch Bindungen, die man einzugehen wagt und das Schaffen und Gestalten von Neuem. All das sind letztlich lebendige Bausteine, ohne das kein Leben dauerhaft und sinnvoll gelebt werden kann.

Gewiss, der Mensch braucht Vertrauen – aber dadurch, dass er es weiß, wird er es gerade nicht bekommen .....Die mögliche Hilfe einer modernen Lebenskunst kann weder darin bestehen, dass sie uns zum Vertrauen anleitet, noch dass sie uns hindert, uns falsche Vorstellungen vom Vertrauen zu machen. Das Vertrauen wie das Nicht-Vertrauen sind nicht verfügbar...

Vertrauen entfachen hieße..., da wo einer kein Vertrauen hat – weil er keines sieht oder keines zu brauchen meint - in ihm eines anzuregen. Es ist vernünftig und freundlich, ihm eine Chance zu lassen, die er noch nicht wahrnimmt; ihn zu ermutigen, eine doch vertrauensvoll begonnene Sache nicht jetzt schon wieder aufzugeben; ihm neue Ziele zu zeigen, die zu verfolgen lohnen. Aber das nenne ich nicht Vertrauen entfachen, sondern tun, was ich gesagt habe:

Ihm Möglichkeiten eröffnen und Zuspruch geben... Ob daraus dann Vertrauen wird, hat niemand in der Hand und er, der andere vermutlich auch nicht.

In Anlehnung an Hartmut von HENTIG (1995)

 

Vertrauen braucht Mut und Treue benötigt Kraft

nach Marie von Ebner-Eschenbach

Ihre Wege habe ich gesehen,

aber ich will sie heilen und sie leiten

und ihnen wieder Trost geben.
Jesaja 57,18

Bedingungslos wende ich mich an die Zukunft,

auf der kein Gestern liegt.

- Heinz Piontek (1925-2oo3)

 

Literatur

BAUMAN, Zygmunt:                           Verworfenes Leben. Hamburg. Hamburger edition 2006

DORNER, Maximilian:                        Mein Dämon ist ein Stubenhocker. München 2008

DÜRR, H.P./ ÖSTERREICHER, M.:   Wir erleben mehr als wir begreifen. Freiburg i.Br. 2007

EHRENBERG, Alain:                         Das erschöpfte Selbst. Frankfurt a.M. 2004

FISCHER, Dieter:                                Heilpädagogik – ein Versprechen. Würzburg 2oo9

FRANKL, Viktor:                                  Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Stuttgart 1978

HENTIG, Hartmut von:                        Bildung. München 1995

KAST, Verena:                                    Abschied von der Opferrolle. Freiburg i.Br. 1998

KUSHNER, Harold:                             Wenn guten Menschen Böses widerfährt. GTB – Gütersloh 1998

SCHLINGENSIEF, Christof:                So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein. Köln 2oo9

SCHMID, Wilhelm:                               Philosophie der Lebenskunst. TB Frankfurt a.M. 1998

SEIERICH-KREUZKAMP, Thomas:    Der Mut hat eine Schwester. Vom Trauern und Trösten.

                                                             Freiburg 1989

SENN, Hans:                                        Der hoffnungslose Fall in der Gemeindeseelsorge.         

                                                             Göttingen 1979

STANGL, Werner:                                Das Neue Paradigma der Psychologie. Wiesbaden 1989

STENGER, Ursula:                              Schöpferische Prozesse. München 2oo2

WINNICOTT, Donald W.:                     Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2o2o