Willi, seine Schwester, sein Vater und seine Mutter schauen in Selfie-Position in die Kamera.

Entspannte MItmenschen mit weniger Berührungsängsten wünscht sich die Familie rund um Willi.

Foto: © Birte Müller-Wittkuhn
aus Heft 1/2022 – Willis Insiderwissen
Birte Müller

Was man von uns nicht wissen will

Vor Kurzem habe ich für eine Hamburger Tageszeitung einen Text geschrieben, in dem es darum ging, wie anders unser Sohn Willi seit seiner Pubertät von unseren Mitmenschen wahrgenommen wird. Sein „Welpenschutz“ – den er als behindertes Kind in der Öffentlichkeit genießen durfte – ist vorbei, seit seine Stimme tiefer wurde und ihm ein Flaum auf der Oberlippe gewachsen ist.

Weil ich öffentlich über Willis körperliche Reife schrieb (die leider so gar nicht parallel zur geistigen Entwicklung läuft), wurde mir vorgeworfen, dass ich die Persönlichkeitsrechte meines Kindes massiv verletzt hätte. Die Art und Weise der Kritik verletzte wiederum mich. Aber sie brachte mich auch zum Nachdenken. Denn natürlich hat Willi das Recht auf Privatsphäre. Nur weil er mir keine Antwort auf die Frage geben kann, ob ich über seine Pubertät schreiben darf, bedeutet dies nicht, dass ich es automatisch dürfe. Doch wie sollen andere etwas über das Leben von Menschen erfahren, die selber nicht sprechen oder schreiben können und in der Öffentlichkeit kaum präsent sind? Müssen sie im Dunkeln bleiben? Steht das Recht auf Privatsphäre über dem auf gesellschaftliche Teilhabe? Seit Willis Geburt schreibe ich über unser Leben, und Willis Persönlichkeitsrechte haben bisher anscheinend niemanden interessiert – die halbe Welt zeigt ja ihr privates Familienleben auf Instagram und Facebook. Aber wenn es um die Herausforderungen von erwachsenen Menschen mit Behinderungen geht – und speziell, wenn Sexualität eine Rolle spielt –, möchte niemand damit konfrontiert werden. Je älter behinderte Kinder werden, umso schwieriger werden oft die Situationen und umso weniger Toleranz gibt es in der Öffentlichkeit, umso mehr möchte man das Thema also vermeiden. Wenn Willi aber zu Hause bleibt und niemanden stört, wird mir niemand bitterböse Kommentare schreiben. Die Corona-Pandemie hat es uns noch schwerer gemacht, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Uns, und auch unseren Mitmenschen, fehlt nun schon lange das öffentliche Übungsfeld für Sozialverhalten. Statt sich wenigstens etwas abzunabeln, hockt Willi fast nur noch mit Mama und Papa herum. Das ist nicht gut für ihn und es ist nicht gut für uns.

Wir Eltern brauchen Hilfe

Was ist eigentlich mit den Persönlichkeitsrechten von Eltern behinderter Kinder? Wer schützt uns? Auch wenn andere unsere Geschichten nicht gut aushalten, müssten wir in der Öffentlichkeit eigentlich viel lauter sein, als wir es sind. Aber wie soll man für seine Rechte auf die Straße gehen, wenn die Erschöpfung so groß ist, weil Betreuungsmöglichkeiten während der Coronazeit weggebrochen sind? Willi ist jetzt geimpft, wir wollen zurück ins Leben. Aber der einzige Sportkurs, in den Willi gehen konnte, wurde eingestellt. Veranstaltungen unter Corona-Auflagen können wir nicht besuchen und in der Kirche bekommen die Rentner jetzt fast einen Herzinfarkt, wenn Willi sich bei ihnen unterhakt. In der Welt gilt ein neues Prinzip, das Willi vollkommen fremd ist – es ist das Prinzip Abstand. Berührung und Nähe machen anderen Menschen nun noch mehr Angst als früher. Und vielleicht macht auch Willis Alter den entscheidenden Unterschied: Von einem fremden Kind berührt zu werden, scheint weniger schlimm zu sein als von einem jungen Erwachsenen. Zwei befreundete Paare haben ihre jugendlichen Kinder mit geistigen Behinderungen während der Coronazeit in eine Einrichtung geben müssen. Sie haben es zu Hause allein nicht mehr geschafft. Auch mein Mann und ich haben beschlossen, dass wir gewappnet sein müssen für eine weitere Notsituation. Was ist, wenn einer von uns ernsthaft krank wird? Außer bei anderen Eltern behinderter Kinder erzähle ich fast nie von unseren Ängsten und Problemen. Es fällt mir leichter, einen Artikel für eine Zeitung zu schreiben, als mit meiner eigenen Familie über diese Dinge zu sprechen. Die meisten Bekannten und Verwandten fragen ohnehin nur, warum wir Willi nicht „weggeben“. Als könnte man ihn zum Recyclinghof fahren wie ein altes Sofa.

Von Überforderung zu Glücksmomenten

Als Willi noch klein war, störte es mich am meisten, wenn andere mich – oder sich – mit dem Satz „Das hast du aber mit einem normalen Kind auch“ belügen wollten. Immer wieder habe ich erlebt, dass andere Menschen schlichtweg nicht wissen WOLLEN, wie schwierig unser Leben oft ist. Wir lieben Willi – wir sind glücklich, ihn zu haben –, aber wir sind auch oft überfordert, einsam und verzweifelt, am Rande unserer Kräfte. Uns sind nur diejenigen Freunde und Familienmitglieder geblieben, die diese Wahrheit mit uns aushalten können. Die anderen sind uns fern. Meine Schwägerin versucht mir (oder sich) bis heute weiszumachen, dass man mit jedem „normalen Teenager“ dieselben Probleme hätte wie wir mit Willi. Ihre Kinder würden ja auch nicht sprechen, sich morgens nicht anziehen und nicht machen, was sie ihnen sagte. Es macht keinen Sinn, jemandem, der das ernsthaft glaubt, zu erklären, was es bedeutet, an jedem der 365 Tage im Jahr 24 Stunden Sorge und Verantwortung für ein Kind zu tragen, das nicht sprechen und sich nicht anziehen KANN! Vielleicht wollen andere davon nichts wissen, weil sie dann ein schlechtes Gewissen bekommen? Oder versucht man immer noch, mich zu trösten, obwohl ich nicht Trost, sondern Verständnis bräuchte?

Ich habe übrigens festgestellt, dass nicht nur unsere Probleme für andere schwer nachvollziehbar sind, sondern auch unsere Glücksmomente. Vieles an Willi, das Außenstehende abstoßend finden könnten, erfreut uns von ganzem Herzen. Wenn Willi mit uns am Tisch sitzt, mit dem Kopf einen Zentimeter über einer Schüssel, und seine Suppe lautstark und begeistert löffelt, macht uns das glücklich. Oder wenn er versucht, uns mit wilden Lauten etwas zu erzählen, oder uns zeigt, dass er uns lieb hat, indem er uns streichelt – was von der Bewegung her so wirkt, als würde er ein Brett schmirgeln. Oder Willis Ausdruckstanz und Gesang: Wir finden das schön, aber anderen Menschen macht es Angst! Doch selbst mit den Augen einer liebenden Mutter sehe ich es: Willi ist kein niedlicher kleiner Junge mehr. Trotzdem hat er ein Existenzrecht. Und wenn er nur zu Hause oder in der Schule ist, wie soll er dann lernen, wie er sich in der Öffentlichkeit verhalten soll? Leider können unsere Mitmenschen nicht wissen, dass so manches Verhalten für Willi ein großer Erfolg ist. Zum Beispiel, wenn er nur jammert und aufstampft, weil jemand auf seinem Lieblingsplatz im Bus sitzt – anstatt wie früher laut zu schreien oder die andere Person sogar vom Sitz zu schubsen. Ich lobe Willi dann, während andere den Kopf schütteln und murmeln: „Bei solchen Kindern muss man auch mal Nein sagen.“ Sie ahnen ja nicht, dass „Nein“ wahrscheinlich das Wort ist, mit dem Willi in seinem Leben am allermeisten konfrontiert ist.

Zu viel Toleranz? Zu wenig Inklusion!

Ich habe das Gefühl, dass diese Leute mich für egoistisch halten, weil ich mit so einem störenden Menschen auf die Straße oder sogar in ein Konzert gehe. Aber fordere ich unseren Mitmenschen wirklich zu viel Toleranz ab? Ich habe nirgendwo jemals auf Willis Recht auf Inklusion bestanden. In keinem Freizeitangebot, in keiner Spiel-, Sport- oder Musikgruppe habe ich jemals eingefordert, dass das Angebot für Willi passend gemacht würde. An keinem Ort, an dem man uns gezeigt hat, dass Willi unerwünscht ist, sind wir lange geblieben. Auch meine Trauer und meinen Schmerz darüber habe ich anderen nie zugemutet, denn ich wollte nicht, dass sie denken, ich weinte über mein behindertes Kind – wo ich doch ihretwegen weinte! Wenn bei einem „normalen“ Freizeitangebot für Willi eine Extrakraft benötigt wurde, habe immer ich das übernommen oder er konnte nicht mitmachen. Doch die Zeiten sind vorbei. Willi ist 15 Jahre alt und möchte seine Mutter nicht mehr überall neben sich haben. Und auch meine Kraft ist erschöpft.

Woher andere Eltern behinderter Kinder die Kraft nehmen, Vereine für uns zu gründen, weiß ich nicht. Aber ich bin ihnen unendlich dankbar! Nur von diesen Vereinen kommen die wenigen Freizeitangebote, die Willi manchmal wahrnehmen kann. Aber Inklusion sieht natürlich anders aus. Doch wessen Aufgabe ist Inklusion? Das können doch nicht auch noch Familien behinderter Kinder vorantreiben, wir haben doch genug zu tun. Ich wünsche Willi ein Freizeitcoaching durch junge Menschen, die ihn am Wochenende zu Hause abholen, um etwas Altersentsprechendes zu unternehmen, wie zum Beispiel einen Besuch in einer Disco im Haus der Jugend. Doch ich finde nicht mal einen „Babysitter“ für einen Abend im Monat, seit Willi ein Teenager geworden ist. Ich kann verstehen, dass kein junger Mensch Lust hat, ihm den Hintern abzuwischen. Aber ich kann nicht verstehen, dass ich über solche Dinge nicht schreiben darf. Man muss sich doch nicht schämen, weil man Hilfe benötigt!?

Was uns helfen würde

Was uns sofort helfen könnte, wären ein paar mehr entspannte Mitmenschen, die weniger Berührungsängste haben. Ein offener Blick in die Augen und ein freundliches Nicken, wenn Willi versucht, Kontakt aufzunehmen, genügen oft schon, um Willi das Gefühl zu geben, dazuzugehören und mir die Ängste zu nehmen, anderen zur Last zu fallen. Ich wünsche mir, dass Willi noch eine Weile bei uns wohnen kann, so wie nicht behinderte Kinder in dem Alter auch bei ihren Familien leben. Aber ich merke, dass ich dafür dringend mehr Unterstützung brauche, damit wir alle dabei gesund bleiben und Willi auch Entwicklungsmöglichkeiten bekommt. Denn im Moment sieht es so aus: Statt mein Kind langsam immer mehr loszulassen, hocken wir durch Corona und die Pubertät noch viel mehr zu Hause aufeinander und werden immer einsamer und unzufriedener. Ich wette, an dem Tag, an dem wir versuchen, für Willi einen Platz in einer Wohneinrichtung zu bekommen, wird man mir dort vorhalten, ich hätte nicht genug losgelassen und darum ein dysfunktionales Mutter-Kind-Verhältnis. Doch dann werde ICH endlich mal sagen können: „Das hat man aber mit einem normalen Kind auch – auf jeden Fall, wenn es 20 Jahre lang fast jeden Nachmittag zu Hause verbracht hat und nie die Spülmaschine ausräumen musste!“ Soll es ja geben!