Beschreibung

Willi sieht das Leben anders: auch den Tod

Foto: Wittkuhn
aus Heft 2/2021 – Willis Insiderwissen
Birte Müller

Willi und das Leben

Viele Jahren lang hatten wir Zwergkaninchen im Garten. Ich erinnere mich gut an die ersten Tiere, die bei uns einzogen, und wie lange es dauerte, bis Stall und Freilauf endlich sicher waren gegen den Ausbruch der Tiere und den Einbruch von Willi. Die Hasen hatten in Willi immer einen verlässlichen Fütterer, der täglich bei Wind und Wetter unter seinem Schirm saß und Blättchen in den Stall steckte. Er lautierte dabei in einer unverwechselbaren, monoton-entspannten Weise.

Das war praktisch, so brauchte ich nur das Fenster offen zu lassen. Solange ich durchgängig „gagageh, gagageh“ hörte, wusste ich genau, was Willi tat: Er fütterte die Kaninchen. Erst wenn es ruhig wurde, musste ich loslaufen, um zu schauen, was der Junge anstellte. Aus zwei Kaninchen wurden bald mehr, zwischenzeitlich hatten wir sogar Nachwuchs und einmal neun Tiere bei uns. Willi liebte es, wenn wir viele Hasen hatten, denn umso ausgiebiger konnte er füttern. Der süße Kaninchennachwuchs beeindruckte Willi aber nie besonders. Er scheint die Kategorie „niedlich“ nicht zu kennen. Solange die Hasen Blätter fraßen und sich bewegten, war er glücklich, egal wie sie aussahen. Wenn wir ein Tier abgaben oder eines starb, fiel Willi auf, dass eines fehlte. Er forderte ein, dass es zum Füttern kommen sollte und suchte es im Freilauf. Ob ich ihm dann sagte, dass das Tier gestorben oder umgezogen sei, machte für Willi anscheinend keinen Unterschied. Auch der Anblick eines toten Kaninchens beeindruckte ihn nicht. Für viele Tränen und schöne Beerdigungen war immer seine kleine Schwester Olivia zuständig.

Was bedeutet „tot“?

Es war Anfang dieses Jahres – und ausgerechnet Olivias 12. Geburtstag – als unsere Zwergwidder plötzlich an einem Virus erkrankten und allesamt innerhalb von 24 Stunden starben. Das erste tote Tier fand Willi. Es war ein nicht kastrierter Bock, der noch in einem separaten Stall lebte. Willi zog das tote Tier heraus und warf es über den Zaun zu den anderen Kaninchen in den Freilauf. Er war sichtlich unzufrieden damit, dass der Hase nicht – wie die anderen – an das Gitter kam, um sich füttern zu lassen. Als nächstes stieg Willi selber in den Freilauf und versuchte das Tier anzuschieben. Er merkte, dass etwas nicht stimmte und gab ihm immer wieder einen Schubs, damit es endlich loslaufen sollte. Während ich versuchte, Willi davon abzuhalten, das tote Tier weiter durch den Stall zu schieben, bemühte ich mich, mit möglichst einfachen Worten zu erklären, dass das Tier gestorben sei und nicht wieder aufwachen könne. Es ist schwer zu sagen, wie viel Sprachverständnis Willi hat, aber auf jeden Fall scheinen ihm die Bedeutungen von „tot“ oder „gestorben“ überhaupt nicht klar zu sein. Ich ertappte mich dabei, dass ich bald versuchte, ihm die Sache verständlicher zu erklären, indem ich Dinge sagte wie: „Der Bruno ist tot. Er funktioniert nicht mehr. Bruno ist kaputt“. Daraufhin reichte mir Willi mit erwartungsvollem Blick das steife Tier über den Zaun und ich bin sicher, hätte er sprechen können, hätte er gesagt, ich sollte neue Batterien reinmachen oder Papa sollte ihn bitte reparieren.

Unsere Zwergwidder waren für Willi bis jetzt nicht der einzige Berührungspunkt mit den Themen Tod und Abschied. An seiner Schule gibt es viele Kinder, die eine verkürzte Lebenserwartung haben und vor einigen Jahren starb auch ein Kind aus seiner Klasse. Sein Name war Nicklas und er war vielleicht Willis erster Freund. Die beiden zeigten mir das Idealbild bedingungsloser Freundschaft. Nicklas war eines jener Kinder, von denen oft gesagt wird, sie könnten nichts. Dabei konnte er vieles. Er konnte zum Beispiel etwas sehen und hören, selber atmen und sogar Brei aus einer Flasche trinken. Außerdem konnte er die Augen kontrolliert bewegen, er konnte jammern, wenn er unzufrieden war und wunderschön lachen. Der sonst so stürmische Willi war tatsächlich in der Lage, Nicklas zärtlich zu kuscheln und er tat das auch bei jeder Gelegenheit. Die zwei liebten sich und haben wahrscheinlich mehr miteinander gelacht als ich mit all meinen Freunden im Leben zusammen. Als Nicklas ins Hospiz kam, begleiteten die Lehrerinnen und Lehrer die Kinder intensiv in der Abschiedsphase und auch nach seinem Tod richteten sie eine Art Schrein für Nicklas ein, auf dem jahrelang sein Bild stand, eine Kerze brannte und für den sie immer wieder hübsche Dinge bastelten. Willi vermisste Nicklas und reagierte ganz und gar nicht gleichgültig auf die Trauer in seiner Klasse. Er nahm seine Lehrerinnen und Lehrer und andere Kinder in den Arm, wenn sie weinten. Mit seinem Talker fragte er mich oft nach Nicklas und ich erklärte immer wieder, dass er gestorben sei und nicht zurückkommen würde. Ich hütete mich davor, die Sache zu verklausulieren, indem ich sagte „er sei eingeschlafen“ oder Ähnliches. Denn so wird Willi niemals verstehen lernen, was „Sterben“ bedeutet. Willi wirkte in dieser Zeit oft bedrückt, aber ich bin mir sicher, dass er emotional eher auf die Stimmung seines Umfeldes reagierte und es selber einfach nur blöd fand, dass Nicklas verschwunden war.

Trauer und Traurigkeit

Das Willi nicht trauert, bedeutet natürlich nicht, dass er keine Traurigkeit kennt. Wenn er nicht zu Opa fahren kann oder ein geliebter Mensch mit ihm schimpft, dann ist Willi traurig. Auch das war ein Lernprozess. Als Willi jünger war, konnte er viele Jahre lang Ermahnungen oder ernste Worte nicht auf sein eigenes Handeln beziehen. Er machte einfach weiter, was er gerade tat. Wie ein Baby, das beim Strampeln ein Glas umwirft, war er frei von jedem Schuldbewusstsein. Und natürlich war er auch genauso frei von Schuld – was wir uns immer wieder in Erinnerung rufen mussten in der langen und anstrengenden Phase, bis Willi klar wurde, dass sein eigenes Tun bestimmte Auswirkungen hat. Willi hat diesen Entwicklungsstand nun seit einigen Jahren erreicht. Er macht zwar immer noch eine Menge Quatsch, aber er weiß immerhin oft, dass er das nicht sollte.

Zum Glück ist Willi nie lange traurig. Er lässt sich meist auf den Boden fallen und weint, bis wir ihn in den Arm nehmen. In Notfällen kommt er auch selber, mit gesenktem Kopf und schmiegt sich in unsere Arme. Oft laufen seine Tränen noch, während er bereits versucht, sich und uns wieder zum Lachen zu bringen, durch einen Pups oder einen anderen Scherz, indem er zum Beispiel ein – aus seiner Sicht – sehr lustiges Wort sagt wie „Popo“ oder „Pipi“.

Doch wirklich trauern, also die Endgültigkeit des Todes verstehen, das scheint Willi bis jetzt nicht zu können. Am Morgen nach dem ersten leblosen Kaninchen starben auch alle anderen Tiere. Immer wieder suchte Willi sie danach im Garten, aber Trauer zeigte er keine. Ein wenig beneidete ich ihn dafür, denn mich macht der Gedanke an diesen Haufen lebloser Tiere bis heute unglücklich.

Bei der Beerdigung durfte Willi dann nicht dabei sein, denn er hätte sonst mit Sicherheit versucht, seine Hasen wieder auszugraben, um sie zu füttern. Ich glaube Willi denkt, sie seien einfach zurzeit irgendwo anders. So wie Oma und Opa, die im Sommer immer in den Urlaub fahren: Sie sind plötzlich weg und tauchen dann zum Glück irgendwann wieder auf.

Die „Opa-Auto?“-Frage

Willi hatte einmal einen besonders seltsamen Schulbusfahrer. Es störte ihn, dass Willi auf der Rückfahrt von der Schule ständig nach seinem Opa fragte. Einmal in der Woche verbringt Willi den Nachmittag bei Oma und Opa und er hofft durchgängig, dass gerade dieser Tag sein möge. Egal, ob wir einen Wochenplan mit Fotos machen, egal, wie oft man Willi erklärt, wann genau der Oma- und Opa-Tag ist oder ob er gerade am Vortag war: Willi fragt vorsichtshalber einfach immer danach.

Ich fand nicht, dass der Fahrer das Recht hatte, von der „Opa-Auto?“-Frage genervt zu sein, nur, weil er sie von Montag bis Freitag etwa eine Stunde lang hören musste. Wenn jemand genervt sein dürfte, dann ja wohl wir Zuhause. Tatsächlich schmunzeln wir meist über „Opa-Auto?“, aber nerven tut es uns nicht: Eine so große Liebe zu den Großeltern ist doch etwas Schönes! Eines Tages kündigte der Busfahrer an, er müsse mit uns ein ernstes Wort darüber sprechen. Es stellte sich heraus, dass er es unverantwortlich fände, dass Willi so einen engen Kontakt mit seinem Großvater habe, da dieser ja schon alt sei. Er traute sich zwar nicht, die Sache wirklich auszusprechen, aber er meinte anscheinend, Willi sollte jetzt schon mal von seinen Großeltern „entwöhnt“ werden, damit es nicht so schlimm werde, wenn sie eines Tages sterben würden. Meine Eltern sind zum Glück kerngesund, trotzdem denke ich natürlich auch darüber nach, dass sie einmal nicht mehr da sein werden. Ich habe sehr große Angst davor und ich habe große Angst davor, wie das wohl für Willi sein wird. Trotzdem, es gehört nun mal zum Leben dazu, wie unvorstellbar und schmerzhaft es auch ist.

Ich halte den allgemeinen Versuch, Alter, Tod und Sterben zu verdrängen, für ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem. Kinder und viele Menschen mit geistigen Behinderungen werden von diesen Themen besonders stark ferngehalten. Dabei gehen sie oft viel unbefangener mit dem Thema um als die meisten Erwachsenen. Es liegt vielleicht an unserer eigenen Angst vor Tod und Trauer, die es uns so schwer macht, mit Kindern darüber zu sprechen. Es gibt zu viele Fragen, die wir nicht beantworten können und das macht Angst. Andererseits sind solche Fragen auch eine große Chance für uns, über das Thema zu sprechen und es zu verarbeiten. Es heißt, dass Kinder erst im Entwicklungsalter von sechs Jahren wirklich verstehen, dass der Tod etwas Endgültiges ist.

Wird Willi wohl bis zum Tode seiner Großeltern oder von uns Eltern so weit entwickelt sein? Und soll ich mir das für ihn eigentlich wünschen, dass er das Gefühl von Trauer mit allem Schmerz und allen Ängsten, die dazu gehören, bis dahin zu fühlen lernt? Ich glaube, ich wünsche ihm das nicht. Lieber sollte ich von ihm lernen, im Hier und Jetzt zu leben und in vollen Zügen zu genießen, ohne ständig schon an die Konsequenzen oder an morgen zu denken. Trotzdem frage ich mich, wie viele Jahre Willi wohl noch nach „Opa-Auto?“ fragen wird und wie schmerzhaft sich das für uns alle anfühlen wird, wenn man eines Tages nicht mehr antworten kann: „Ja Willi, noch zwei Mal schlafen, dann fahren wir zu Opa mit dem Auto!“, sondern „Nein Willi, der Opa lebt nicht mehr“. Dann werde ich meinen Willi sicher mehr denn je brauchen, damit er mir „Popo“ und Pipi“ ins Ohr flüstert, um mich wieder zum Lächeln zu bringen.

Liebe zeigen

Aber wer weiß schon, wie unser aller Leben weitergeht? Bestenfalls werden wir gemeinsam noch viele Jahren haben und vielleicht irgendwann unsere Eltern aus dem Leben so begleiten können, dass Willi den Abschiedsprozess auf seine Weise versteht. Denn eines Tages wird Opa nicht mehr wie heute den ganzen Tag mit ihm Murmelbahnen zusammenschrauben oder durch den Wildpark laufen können. Das alles wird hoffentlich langsam passieren, sodass wir alle in die Situation hineinwachsen können. Und bis dahin ist unser aller Sterblichkeit – auch wenn Willi sie nicht versteht – doch der allerbeste Grund, die Menschen, die man liebt, viel öfter zu sehen und ihnen diese Liebe auch zu zeigen.