Beschreibung

Bild: Heiko Powell

Autismus und Wissenschaft - die Angst vor dem Fremden

Für jedes komplexe Problem gibt es immer eine einfache Antwort, die klar ist, einleuchtend und falsch. H.L. Mencken (Frances 2013, S. 293)

Das Zitat zeigt eine Nähe zum Autismus, wo die Klarheit von Ordnungen an der Unübersichtlichkeit der Welt leidet. Autismus wurde zuletzt ein Modebegriff und eine Modediagnose, die mit einer positiven Aura des Anderen, vor allem aber auch der besonderen Leistungsfähigkeit und weniger mit Fremdheit verbunden wurde. Gleichzeitig nahm die Prävalenz (der Anteil von Autisten in der Gesellschaft) sprunghaft zu, von seit den 1970ern recht stabilen 4 pro 10.000 ab Mitte der 1990er-Jahre auf aktuell bis zu 1 pro 100!

Ich möchte im Folgenden zeigen, wie gefährlich diese Entwicklung vor allem für Menschen mit umfassenden Entwicklungsstörungen ist, wie sehr diese Situation aber auch alle anderen Menschen mit autistischen Verhaltensweisen unter Druck setzt. Darüber hinaus wird auch gezeigt werden, wie der entsprechende Wissenschaftsbereich einen wesentlichen Beitrag hierzu leistete.

Der Mainstream der Wissenschaft heute stellt sich, GANZ WIE DER AUTISMUS, nicht mehr der komplexen Realität – hier der Unfassbarkeit des Autismus im Einzelfall –, sondern schafft sich mit seinen Effektivitäts- und Pseudo-Evidenz-Studien stattdessen einen SICHERHEITSRAUM von Algorithmen und Methoden, bei dem vor allem Menschen mit wirklich großen Problemen auf der Strecke bleiben.

Dieser Prozess betrifft dabei nicht alleine die Wissenschaft im Zusammenhang mit dem Autismus, sondern ist Teil eines umfangreichen neoliberalen Umbaus aller Wissenschafts- und Gesellschaftsbereiche. So wurde das gesamte schulische und hochschulische Bildungssystem dem Diktat des neoliberalen Evidenz-Paradigmas (Output-Orientierung) unterworfen. Als Anlass für diese Entwicklung wurde der ‚PISA-Schock‘ genommen, als die OECD-Studie feststellte, dass die Leistungen deutscher SchülerInnen unter dem OECD Durchschnitt lagen.

Dieser Schock begründete das Konzept, das komplette System auf messbare Outputs hin umzuformen und alle Bereiche der schulischen Bildung bis an die Universitäten diesem Prinzip messbarer Leistungsvergleiche zu unterwerfen. Bettelheim bezeichnete den Autismus als eine ‚leere Festung‘ (Bettelheim et al. 1983). Dieses Bild trifft auch auf die derzeitige Wissenschafts-, Bildungs- und Gesellschaftssteuerung zu.

Die Kategorie von ‚Wissenschaftlichkeit‘ ist unter dem Dogma der messbaren Effektivität völlig implodiert und diskreditiert dabei den größten Teil der bisherigen reflexiven europäischen Wissenschaft der letzten Jahrhunderte als unwissenschaftlich. Die den Menschen wesentlich auszeichnenden Bereiche Kultur, Eigen-Sinn und deren bedeutungsvoller Austausch für das gesamte Erziehungs- und Bildungssystem bis hin zur universitären Ausbildung werden irrelevant und damit unsichtbar.

Dieses Problem wird zu einem echten Dilemma, bedenken wir, dass für Menschen – als Gattung und individuell (‚Ich‘) – die Kultur als menschentypische und nicht hintergehbare Bedeutungsschicht konstitutive Bedeutung hat (vgl.: Rödler 2019, 366 ff.; ausführlich: Rödler 2000). Erst wenn man auf einem derart umfassenden Verständnis der Menschwelt aufbaut, ist es möglich, auch mit nicht sprechenden Menschen einen Begegnungsraum zu realisieren.

Im Zusammenhang dieser Überlegungen zeigt sich, dass das Autismus-Spektrum heute in der neuen Welt der neoliberalen Leistungsgesellschaft angekommen ist. Kennzeichen hierfür sind:

Der Wechsel von einem individuellen Nachdenken über den Gesamtzusammenhang des Verhaltens eines Menschen (Biografie, Eigen-Sinn) hin zu einer individuellen Suche nach Verstärkersystemen und Behandlungsformen, die für die Gesamtgruppe der KlientInnen in Bezug auf normierte Outcomes wissenschaftlich (statistisch) als effektiv nachgewiesen wurden.

Wechsel des Fokus von einer sehr seltenen Gruppe von Menschen mit tief greifenden und komplex differenzierten Entwicklungsbesonderheiten zunehmend hin zu der Gruppe von ‚Autisten‘, die trotz aller Besonderheiten und Schwierigkeiten – was häufig aber nicht wahrgenommen wird, unter größten inneren Anstrengungen (!) – einen Alltag in einer normalen Umwelt realisieren kann: eben die ‚funktionalen Autisten‘, die in der ICD-10 noch als Menschen mit ‚Asperger-Syndrom‘ bezeichnet werden.

Übernahme der neoliberalen Ideologie der ‚Output-Orientierung‘ und des ‚Evidenz-Paradigmas‘ unter Verlust bzw. Marginalisierung von Kontextreflexionen und -diskursen, auch bei der Arbeit mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen.

Alle drei Prozesse haben eines gemeinsam und verstärken sich heute entsprechend wechselseitig: Sie betonen den ‚Outcome‘ der Behandlungen und damit letztlich auch die messbare Leistung der ‚Autisten‘. Diese waren und sind, auch im Spiegel von Veröffentlichungen, ausgesprochen beeindruckend; zeigen aber auch ein – über die Zeit zunehmendes – Niveau, das nur von wenigen erreichbar ist: (Williams 1994; Brauns 2002; Haddon 2003; Preißmann 2007; Tammet 2007).

Diese Entwicklung bedroht diejenigen Menschen existenziell, die hierzu nicht imstande sind, da sie aus dem Fokus möglicher Behandlungen geraten. Dies kann direkt mit der neuen Sicht des Autismus einhergehen – das DSM V und die ADOS-2-Skala wirken hier hoch selektiv in Bezug auf leistungsfähige Autisten. Es kann für eine Einrichtung aber auch zu einer strategischen Notwendigkeit werden, wenn Aufwand und geringer Erfolg die Effektivitätsstatistik beschädigen und die Einrichtung in der Folge mit Trägern oder anderen Finanzquellen Probleme bekommt.

Das dahinterstehende Menschenbild ist von kognitiver Kompetenz, individueller Autonomie und Selbstbestimmung als anthropologischer Grundnorm geprägt, sodass Menschen, die dies nicht realisieren können, als ‚Rest‘, ‚harter Kern‘, d. h. quasi als leidende Nicht-Menschen, erscheinen – vor dem Hintergrund der ‚Praktischen Ethik‘ von Peter Singer (Singer 1979/1979) gar als eine wirkliche existenzielle Gefährdung!

Die entstandene Situation betrifft aber nicht nur diese Gruppe, sondern auch die der positiv dargestellten funktionalen Autisten, da diese ihre Anerkennung ja unter Bezug auf ihre Anpassungs-Leistungen (!) erhalten, d. h. mit der Unterwerfung unter das allgemeine Leistungsparadigma bezahlen. Diese Sicht misst dabei nicht, mit wie viel innerem Aufwand, Disziplin und Unwohlsein im Einzelfall diese Leistung erkauft ist!

Berichte von Höchstleistungen von ‚Autisten‘ – sosehr diese gegenüber den einzelnen Personen zu würdigen sind! – wirken extrem dysfunktional, da die Dominanz und Einseitigkeit des beschriebenen Leistungsaspekts dadurch gestützt werden. Die Anerkennung, die die ‚Autisten‘ erfahren, wird hier durch die Unterwerfung unter die gesellschaftlich geforderte Leistungsmessung erkauft.

Erst wenn es einer Gesellschaft gelingt – und hier sehen wir die gesamtgesellschaftliche Bedeutung unserer Überlegungen –, mit der Unsicherheit des letztendlichen Nichtverstehens zwischen allen ihren Mitgliedern produktiv zu leben, d. h. eine Kultur des kontinuierlichen Zusammenlebens bei fortdauernder Fremdheit zu realisieren, kann sich menschliche Kultur entwickeln, die immer an dieses Unsicherheitsmoment gebunden bleibt. Der Erfolg von Begegnung liegt hier nicht in der ÜberEIN(s)stimmung, sondern im wachsenden Verständnis füreinander ohne letztliches Verstehen, sodass auch mit den wechselseitigen Missverständnissen und Verletzungen, die dabei immer auch möglich sind, aus diesem Verständnis heraus gut umgegangen werden kann.

Wir erkennen hier ganz universell und nicht nur für den ‚Fall Autismus‘: Das Bestehen auf Sicherheit und Ordnung – so verständlich dies erst einmal für ALLE Menschen, nicht nur Autisten, ist – zerstört die kulturelle Wirksamkeit menschlicher Begegnung!

Erst wenn zumindest die pädagogisch-therapeutisch Professionellen dies wirklich verinnerlicht haben – und das setzt eine entsprechende Ausbildung voraus –, kann die Arbeit mit ‚Autisten‘ eine Form annehmen, in der sie ein Gegenüber finden, das ihnen ein positives Modell bieten und damit im angemessenen Rahmen Akzeptanz von Neuigkeit (Fremdheit) und damit Entwicklung ermöglichen kann. Dies gilt dabei insbesondere auch für die tief greifend beeinträchtigten nicht funktionalen ‚Autisten‘.

Gleichzeitig kann man in der derzeitigen Wendezeit, wo lange sicher geglaubte Gewissheiten plötzlich fluid werden, viele Prozesse des Autismus im Handeln gesellschaftlicher Gruppen erkennen (vgl.: hierzu auch: Lempp 1996), wenn einfache Bezüge (Heimat) und Problemlösungen (Zuwanderung, Schließung der Grenzen) die vermeintliche Sicherheit geben, die gegenüber den komplexen Prozessen der Globalisierung nicht gefunden wird. Die autistische, auf Zahlen und Fakten beschränkte ‚autistische Wissenschaft‘ ist also offensichtlich kein Phänomen ‚sui generis‘, sondern nur Teil einer allgemeinen Gesellschaftsreaktion auf eine Wendezeit.

Anthropologische Grundlagen zum Autismus – ein Menschenbild ohne Rest

Traditionelle, säkular-philosophische Beschreibungen des Menschenbildes konzentrieren sich auf die (Höchst-)Leistungen, die ‚den Menschen‘ ausmachen, d. h. die Möglichkeit, in Freiheit bewusste, vernünftige Entscheidungen zu fällen und diese kommunikativ zu rechtfertigen. Angesichts dieser Beschreibung der Spezifik des Menschen ist klar, dass hier von einer Möglichkeit der Gattung gesprochen wird, die nicht immer und nur unter sehr guten Bedingungen überhaupt erreicht wird. Zudem wird die Ausrichtung an den – kognitiven – Leistungen des Menschen im ‚unteren‘ Segment hinfällig, da hier Tiere häufig zu weitaus umfassenderen Leistungen in der Lage sind als Menschen. Diese Kategorien sind also für unser Vorhaben einer gemeinsamen Basis aller Menschen nicht dienlich. Es gilt deshalb also eine Basis zu finden, die allen Menschen ohne Ausnahme gemeinsam ist, die aber auch gleichzeitig die beschriebenen Höchstleistungen begründet.

Die Antwort auf diese Frage ist, dass Menschen im Vergleich zu Tieren weitestgehend instinktfrei sind. Diese Eigenschaft der Instinktfreiheit begründet die Menschenwelt!

Sinn und zentralnervöse Organisation

Jedes intelligente System – vom Zentralnervensystem der Tiere bis hin zum Gehirn von Menschen – kann seine Aufgabe, den Strom der eingehenden Reize so zu strukturieren, dass aus diesen relevante Informationen gewonnen werden können, nur leisten, wenn dieser Prozess gegenüber einer inneren Referenz als Kriterium dieser Strukturierung erfolgt. Bei Tieren ist dies der Instinkt. Er ist das Referenzsystem, auf das sich das Verhalten und Lernen der Tiere bezieht. Bei Menschen fehlt dieser Instinkt weitgehend, sodass der neu geborene Mensch sich orientierungslos einer Flut von Reizen ausgesetzt sieht.

Als Ersatz für diese angeborene Orientierung findet bei Menschen von Geburt an eine wechselseitige ‚Fütterung‘ mit Bedeutungen statt. Aus der Vielfalt der erfahrenen ‚BeDeutungs-Bausteine‘ schafft sich der Säugling dann zunehmend eine eigene innere Referenz, einen Eigen-Sinn, der fortan zunehmend kohärent seine Wahrnehmung und sein Handeln steuert. Indem er sich in diesem Eigen-Sinn erkennt, kann der Mensch dann ‚ICH‘ sagen: „Der Mensch wird am Du zum Ich (Buber 1979, S. 32). Gelingt dies allerdings nicht, so ist ein Überleben angesichts der Flut der unstrukturierten Reize nur auf der Basis radikaler selbst erzeugter körpernaher Ordnungen, d. h. auf der Basis von Stereotypien bis hin zu selbstverletzenden Verhaltensweisen, möglich.

Von Geburt an werden Menschen also nicht nur biologisch – Essen, Hygiene, Wärme –, sondern auch mit Bedeutungen versorgt: Wir sprechen mit Babys, auch wenn sie uns nicht verstehen, machen Fingerspiele, interpretieren ihr Verhalten usw. und zeigen ihnen so, beginnend bei ihrem Körper, ihre Welt aus unserer Perspektive (!) auf. Die Babys nutzen diese Orientierungen dann für sich und bilden so ihren individuellen Blick auf die Welt. Die sozialen Bedeutungen in ihrer Umwelt werden so in einer eigenen individuellen Kombination zu einem recht stabilen, aber doch wandelbaren personalen Sinnsystem – Identität – zusammengesetzt.

Dieses Sinnsystem ist deshalb überlebenswichtig, da es – vergleichbar dem Instinkt bei Tieren – den Bezugspunkt (Organisator) für die Wahrnehmungsverarbeitung darstellt, die ohne diesen zusammenbrechen würde. Wir sehen, die Entstehung des für das Überleben so wichtigen Sinnsystems ist an eine erfolgreiche Begegnung mit anderen Menschen gebunden. Die Teilhabe an diesen Prozessen entscheidet nicht nur über die Möglichkeit vernünftiger Entscheidungen, sondern an der Basis letztlich darüber, ob ein Mensch überhaupt zum Überleben in der Lage ist, da eine völlige Verweigerung von interpretierender(!) Kommunikation am Anfang des Lebens tötet und auch später eine zumindest psychisch existenziell bedrohliche Situation – Isolation – darstellt.

Menschen realisieren sich so im und gegenüber dem gegebenen sozialen Rahmen selbst, sie bilden sich! Diese (Selbst-)Bildung ist jedem Menschen schicksalhaft eingeschriebener Auftrag. Jeder Mensch bildet sich in jedem ‚Fall‘ (!) bis in die Organisation seiner neuronalen Netze hinein (Caspary 2012, S. 114). Allein die lebendige Existenz jeweils individuell gewordener Realität beweist deren Bildung, d. h. Menschen sind, solange sie leben und unabhängig von irgendeiner funktionellen Leistungsfähigkeit, grundsätzlich bildungsfähig. Die in dieser Bildung erkennbare Anthropologie ist inklusiv!

Das heißt aber auch, und zwar auch für ‚Autisten‘: Solange Menschen leben, leben sie immer gebunden an und aus Beziehungen heraus! Bindung ist auch für sie eine Lebensbedingung! Im folgenden Abschnitt soll nun diese allgemeine (!) Bedeutung autistischer Verhaltensweisen noch einmal differenzierter als Beziehung über gemeinsame Gegenstände aufgezeigt werden. Dieses Verständnis allgemeiner Pädagogik bildet damit auch eine besondere Kompetenz für die Arbeit mit ‚Autisten‘, ohne dabei Sonderpädagogik zu werden.

Beziehung als gemeinsamer Gegenstand

Menschen bewegen sich – entsprechend ihrem Wesen, ihrer Gattungseigenart – also immer in einem Sprachraum und sind damit immer in Beziehung! Wie ist das vorstellbar? Wie ist das mit unserem Anspruch zu vereinbaren, wirklich alle Menschen, auch solche mit schwersten Beeinträchtigungen, einzubeziehen?

Sprache entsteht am Ohr des Hörers!

Dieser Anspruch gelingt erst im Zusammenhang mit der Erkenntnis Bubers, dass ‚das Ich am Du wird (s. o.). Dieses häufige und sehr leichtfertig verwendete Zitat wird in der Regel in seiner anthropologischen Radikalität nicht bedacht! So wird Kommunikation gerade auf der Basis der heute dominierenden ‚Subjektorientierung‘ völlig selbstverständlich vom Sender, d. h. vom / von der Sprechenden, her gedacht. Im Spiegel des Diktums von Buber dreht sich dies völlig um: Das Subjekt des Sprechens ist der/die Hörende! Erst deren Aufmerksamkeit konstituiert den/die Sprechende(n) zum Subjekt seiner/ihrer Nachricht! Dies scheint unter normalen Bedingungen trivial: Wenn mir niemand zuhört, kann ich meine Rede vergessen.

Es ist aber ganz und gar nicht trivial, wenn es um die frühe Entwicklung von Menschen und auch das Begegnen mit Menschen geht, die als ‚schwerstbeeinträchtigt‘ bezeichnet werden! Hier beweist sich die ganze inklusive Potenz dieser radikalen Umkehrung. Wenn die Aufmerksamkeit der Hörenden die Subjekte als Sprechende konstituiert, kann ein Mensch grundsätzlich unabhängig von seiner physiologischen Ausstattung als sprechend verstanden werden.

Die Unterstellungen und angenommenen Bedeutungen sind im mitmenschlichen Kontakt genau die Orientierungshilfe, die Menschen in ihrer frühen Entwicklung, aber auch beeinträchtigte Menschen so dringend benötigen. Erst dieses ermöglicht ihnen in der Summe der bedeutenden Begegnungen nach und nach einen Eigen-Sinn als Ersatz für die instinktive Steuerung der Wahrnehmung zu generieren.

Dies ist an diesen frühen oder basalen Punkten zwar existenziell notwendig, ja evtl. lebenserhaltend, hält aber prinzipiell ein ganzes Leben lang an: Menschen realisieren sich gegenseitig in ihrem Mensch-Sein, indem Sie sich wechselweise mit Bedeutungen übereinander und die Welt ‚füttern‘. Menschen konstituieren mit ihrer Sprache also weniger eine Wissensgesellschaft – die Kommunikation über funktionelle Aspekte haben sie mit Tieren gemein – als eine Interpretationsgemeinschaft!

Ein Beispiel mag dies erläutern: Kennzeichen hierfür ist der erste Schrei des Säuglings, der, obwohl noch nicht an ein Gegenüber gerichtet, doch Versorgungsmaßnahmen auslöst. Diese Versorgungen sind aber Interpretationen dieses Schreiens. Besonders deutlich wird dies, wenn die Versorgungen sprachlich begleitet werden: ‚Ja, was hast du denn? Willst du schon wieder trinken? Du bist ja ein kräftiger Esser! Nein, doch nicht? Ja, hast du denn schon wieder Blähungen? (Klopfen auf den Rücken) Das hilft Dir auch nicht? Schau mal da unten, die Autos auf der Straße! (Kind beruhigt sich) Ach, dich interessieren die Autos!‘

An dieser Stelle wird deutlich, dass das Kind nicht notwendigerweise an den Autos interessiert war. Es kann sein, dass ihm einfach langweilig war. Es kann auch sein, dass die warme aufsteigende Luft eines Heizkörpers vor dem Fenster ihm an der Wange angenehm war usw. Und dennoch hat diese Interpretation Folgen! Versucht die Bezugsperson nun aufgrund dieses Erfolges immer wieder den Blick zu den Autos und hat damit Erfolg, so gewinnt dies eine Bedeutung für das Kind-Bezugspersonen-System: Es kann sein, dass es anfängt, sich wirklich für Autos zu interessieren, entwickelt aufgrund früher Erfahrungen auf der Kartbahn entsprechende Kompetenzen und fährt letztlich Autorennen oder aber es wendet sich später in der Pubertät umso heftiger von diesen ab und wird deswegen Florist(in). In jedem Fall hätte dieser gemeinsame Gegenstand wesentliche Bedeutung im Leben dieses Kindes gewonnen, obwohl der eigentliche Grund vielleicht nur die Heizung war!

Es geht also gar nicht darum, dass diese ausgetauschten Deutungen ‚wahr‘ sind, sondern alleine darum, ob sie im Leben der Beteiligten eine Wirkung entfalten oder nicht. Die Teilhabe an solchen Prozessen ist, wie gezeigt, anfänglich existenziell, bleibt aber lebenslang wesentlich, da sich eben in diesen Prozessen – in entwickelter Form auch als Religion, Kunst oder Gesellschaftsutopie existent – die Menschen als Menschen realisieren. Beziehung ist, so gesehen, immer ein hoch kognitiver, geradezu philosophischer Prozess in und gegenüber der gemeinsam erzeugten Menschenwelt.

Menschen leben deshalb untrennbar in einem individuellen bio-psycho-sozialen Zusammenhang, wo jede Eigenschaft/Änderung in einem der drei Bereiche immer auch Rückwirkungen auf die anderen beiden hat: Eine physiologische Eigenart/Beeinträchtigung wird gesellschaftlich (sozial) bewertet und hat aufgrund dieser Erfahrungen entsprechende psychische Folgen. Besondere soziale Lebensbedingungen führen zu entsprechend eingeschränkten, vielfältigen, ängstigenden oder vertrauenserweckenden Erfahrungen, was nicht nur Folgen für die psychische Situation des Menschen, sondern über damit verbundenen Stress (hormonelles System) oder verminderte Erfahrungen (mindere Vernetzungen im Gehirn) auch physiologische Folgen hat.

Dysfunktion im Sprachraum und Autismus

Es ist einsichtig, dass das hier beschriebene so wichtige Wechselspiel nur gelingen kann, wenn der Sprachraum mehrdeutig bleibt, d. h. sowohl Verständigung und Vergemeinschaftung, aber auch den jeweiligen Eigen-Sinn ermöglicht. Eine Welt, die auf absoluter Ordnung, Eindeutigkeit oder ‚Wahrheit‘ aufbaut, beschädigt oder zerstört diese Funktion des Sprachraums. Gleichzeitig ist dieses Verkommen des Sprachraums generell naheliegend, da dieses Umeinander von Bedeutungen, dieses Begegnen ohne – endgültiges – Ankommen, in dem im besten Falle nur „Spuren eines Fremden in der Nähe“ wahrnehmbar werden (Vgl.: Stinkes 1993), zeitlich unendlich anstrengend ist. Das Insistieren auf der als alternativlos sicheren Wahrheit der eigenen Perspektive – das ‚Für-wahr-Halten‘ (vgl.: Peirce 1986, 49 ff.) – ist hier deutlich ökonomischer.

Diese grundsätzliche Tendenz zum Festfahren der Meinungen im ‚Für-wahr-Halten‘ wird durch reale oder gedachte Inkompetenz in einer gegebenen Situation und die damit verbundene Angst natürlich noch verstärkt. Dieses Zurückweichen vor Neuem, Fremdem oder Problemen bewahrt den schon entwickelten Eigen-Sinn, verhindert aber eine Entwicklung, diesen Eigen-Sinn unter flexiblen und anspruchsvollen Situationen zu bewahren und weiterzuentwickeln. Die Neugier ist hier blockiert: Unsicherheit und Angst Unbekanntem gegenüber blockiert die Erfahrungen, die zum Umgang mit dem Unbekannten tauglich wäre, und in Folge nimmt die Unsicherheit noch zu.

Dieses Verhalten gilt für einzelne Menschen ebenso wie für ganze gesellschaftliche Gruppen, wie wir gerade heute in einer Zeit des Umbruchs und der weltweiten Unsicherheit – neoliberale Globalisierung versus regionale und traditionelle Sicherheiten – sehen können. Die Auseinandersetzungen werden zunehmend stereotyp, holzschnittartig, bauen auf Vereinfachungen auf: Asylanten, Juden, Brüssel, Europa … Die Reaktion in diesen Tagen ist verständlich, die Wirkung hingegen, insbesondere wenn dies von Populisten verstärkt und mit Fehlinformationen befeuert wird, katastrophal, da damit die Fähigkeit, komplexe Situationen zu erkennen und in ihnen aussichtsreich handeln zu können, verloren geht. Besonders dramatisch ist dabei, dass die neoliberale Politik durch ihre outputorientierte, entkulturierte Bildung ebenfalls diesem Reduktionismus Vorschub leistet und damit diese Tendenzen noch verstärkt.

Wir sehen hier eine Tendenz, einfache Ordnungen gegen die Wahrnehmung einer dynamischen, hyperkomplex erlebten Welt zu setzen, ein Verhalten, das durchaus als Autismus im Sinne Bleulers (vgl.: 2014, S. 52) bezeichnet werden kann. Dieses wird existenziell bedrohlich, wenn es am Anfang des Lebens oder im Rahmen sehr basaler Entwicklungen stattfindet.

Bei näherer Betrachtung stellt sich die Situation allerdings so dar, dass diesen Menschen offensichtlich kein passender Sprachraum geboten werden konnte – ‚Sprechen entsteht am Ohr des Hörers!‘ –, sich die Situation also weniger als Rückzug denn als Ausschluss oder Isolation erweist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass autistische Verhaltensweisen in dieser Sicht darauf hinweisen, dass in einem menschlichen Handlungsbereich der Sprachraum dysfunktional geworden ist, da sich seine Orientierungsfunktion verselbstständigt hat und damit die Weiterentwicklung, die eine immer dynamischere Welt von Menschen wie Gesellschaften erfordert und deren Grundlage eigentlich die Orientierung sein sollte, verhindert.

Aspekte von Teilhabemöglichkeiten OHNE Ausschluss

Individuelle bio-psycho-soziale Zusammenhänge

Als Erstes soll hier kurz gezeigt werden, dass die übliche Trennung nach geistigen, körperlichen, seelischen und Sinnesbehinderungen in der hier beschriebenen Sicht des Lebens im Sprachraum grundsätzlich obsolet wird. Keiner dieser vier Beeinträchtigungsbereiche führt direkt zu einer bestimmten Persönlichkeit. Jede Beeinträchtigung – auch die soziale (!) – führt zu veränderten Erfahrungen des Individuums in der Familie und in der Öffentlichkeit. Diese Erfahrungen werden angeeignet und Teil des Eigen-Sinns in der Psyche dieses Menschen bis hin zur physiologischen Ebene. Autoaggressionen und Stereotypien werden vor diesem Hintergrund zu Kompetenzen, zu letztmöglichen Kontrollmaßnahmen in einem für diesen Menschen unzuträglichen Sprachraum. Der Mensch als Individuum, Gesellschafts- und Gattungswesen beweist sich so wahrhaft als Konstrukteur seiner Wirklichkeit und ist deshalb nur aus dem jeweiligen individuellen bio-psycho-soziokulturellen Zusammenhang heraus annähernd zu verstehen.

Zur Notwendigkeit von Störungen

Wenn wir nach langer Suche endlich Formen gefunden haben, mit einem vormals extrem problematisch erlebten ‚Autisten‘ so umzugehen, dass die Situation, wenn überhaupt, nur noch selten eskaliert, so ist die offensichtlich gefundene Möglichkeit, diesem Menschen eine passende Orientierung zu bieten, nicht das Ziel, sondern prinzipiell nur die Voraussetzung für weitere fruchtbare Entwicklungen! Das heißt, die gewonnene Sicherheit muss irgendwann auch wieder gestört werden, um Fortschritt zu ermöglichen. So richtig diese Aussage aus der Theorie des Sprachraums heraus ist, so problematisch ist ihre Umsetzung in der Praxis, es ist nämlich gar nicht leicht, diese beiden Seiten der Sprache für einen bestimmten Menschen in ein passendes Verhältnis zu bringen. So kann es zum Beispiel sein, dass

• ein Mensch eine gebotene Orientierung ausreichend lange nutzen konnte, sodass er nun auf der Basis der gewonnenen Sicherheiten zu einem nächsten Schritt durchaus in der Lage wäre, dieser ihm von der Umgebung aber nicht geboten wird, um – eingedenk der vorhergehenden Probleme – die gewonnene Sicherheit ja nicht zu gefährden. Hier ergibt sich die Stabilität des Autismus aus der Umgebung!

• die Umgebung sich auf die ‚notwendige Störung‘ aus der Theorie bezieht, obwohl der Mensch das erreichte Niveau noch eine längere Zeit dafür braucht, um ausreichend Sicherheit für den nächsten Schritt zu gewinnen. Eine Störung wäre in dieser Situation mehr als kontraproduktiv, besteht doch schon seit Anfang der Arbeit mit ‚Autisten‘ die Erfahrung – wenn zu sehr im Hinblick auf Ergebnisse ‚gepusht‘ wird –, dass die Situation in einem völligen Zusammenbruch bis hin zu psychotischen Entgleisungen enden kann. Die immer wieder genannte, unter dem ersten Aspekt auch richtige These von der ‚Krise als Chance‘ ist hier also kein Automatismus, sondern darf nur sehr gut überlegt eingesetzt werden.

Wir sehen, es gibt hier gar keine sichere Lösung. Die einzige Möglichkeit ist hier, sich mit möglichst vielen Menschen – internen[MS21] [SH22] , die die Situation kennen, und externen, die ohne Vorbelastung an die Situation rangehen – auszutauschen und dabei auch möglichst ehrlich auf die eigenen Motive zu diesem nächsten Schritt (Langeweile, wenig Selbstwirksamkeit als PädagogIn in der Situation) zu schauen. Eine gute Möglichkeit hierfür ist eine kenntnisreiche Supervision um die beschriebene Fragestellungen herum, die bei massiven Problemen grundsätzlich organisiert werden sollte.

Autistische ‚Ansteckung‘ verstehen

Autistisches Verhalten zeigt sich vor allem situationsbedingt, bei genauer Betrachtung ist es eher ein Effekt der Wechselwirkung als das Verhalten eines Partners allein. Dies hat zur Folge, dass es in konkreten Situationen oft sehr schwierig ist, wenn überhaupt möglich, den Ausgangspunkt dieser Situation zu identifizieren.

Oft springt das ‚Subjekt‘ dieses Verhaltens hin und her: Ein Kind zeigt ein Verhalten, das die Betreuer nicht verstehen. Nach längerer Zeit – die das professionelle Selbstbewusstsein der Betreuer sehr infrage stellt – finden sie dann doch eine Hypothese, die ein Angebot ermöglicht, das das Verhalten im Sinne der Betreuer (!) verändert, d. h. klärt, beruhigt. Natürlich werden die Betreuer diese Annahme, die ihnen ihr Selbstbewusstsein zurückgibt, und das damit verbundene Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder reproduzieren.

Ob dies wirklich im Sinne des ‚Autisten‘ ist, der hier evtl. nur mitmacht, weil er endlich was gefunden hat, mit dem die Betreuer zufrieden sind, und sie ihn mit neuen Verhaltensangeboten in Ruhe lassen, oder aber es bald zu einem vehementen Ausbruch seinerseits – für die Betreuer ‚aus heiterem Himmel‘ – kommt, weil er sich völlig falsch verstanden fühlt, da irgendetwas, das die Beruhigung anfänglich auslöste, fehlt. Letzteres wird von den Betreuern auf der Basis ihrer bisherigen Erfahrungen als ‚autistisches Verhalten‘ eingeschätzt und damit die diesem Ausbruch innewohnende Nachricht nicht verstanden usw., und das ‚sine fine‘: eine autistische Situation!

Hier wird deutlich, ‚Autismus‘ hat etwas ‚Ansteckendes‘. In der konkreten Situation, insbesondere im Familienleben, ist es schwer, sich diesem Sog zu entziehen. Es scheint sinnvoll, mit 3-Personen-Settings zu arbeiten, einfach um das dyadische Einschwingen in einen autistischen Handlungsraum durch eine dritte Person unwahrscheinlicher werden zu lassen. Ebenfalls wichtig ist dabei, dass die verschiedenen Perspektiven der Beteiligten, insbesondere der Blick der Eltern und der Professionellen, unterschiedlich bleiben. Das Dogma, der Klarheit wegen ‚an einem Strang‘ zu ziehen, befördert die Möglichkeit autistischen Verkommens.

Dennoch sollen die verschiedenen Personen gegenüber Menschen mit autistischem Verhalten möglichst klar handeln. Aber in dieser Klarheit sollen ihre unterschiedlichen Bedeutungen wahrnehmbar bleiben.

Zeitlichkeit und Sprachraum

Ein weiterer praktisch wichtiger Aspekt der pädagogischen Arbeit mit Menschen, die sich autistisch stabilisieren müssen, ist eine Betonung zeitlicher Verläufe durch die Dokumentation des Handelns der Klient*inen. Wie immer wieder betont wird, beeinträchtigen frühe Störungen in der Realisierung eines Sprachraums die Ich-Bildung. Wie ist das zu verstehen? Das Ich bildet sich aus einer Addition von Erfahrungen, in denen ein Mensch in der Gegenwart mit etwas unzufrieden ist. Der Mensch schaut auf seine bisherigen Erfahrungen zurück, um mögliche Lösungen für das entstandene Problem zu finden und dann entsprechend zu handeln. Im Erfolgsfall wird dieses Handeln zu einer bestätigenden Erfahrung. Gelingt die Problemlösung nicht, wird – eine entsprechende Persönlichkeit vorausgesetzt – weitergesucht und das Problem mit einer neuen Hypothese angegangen, bis es gelöst ist. Das Ich erlebt sich hier als Subjekt, sowohl des Problems – Begehren/Wunsch – als auch der Problemlösung.

Dies ist aber nur dann möglich, wenn in den Aspekten Neuigkeit, Änderung, Variation gedacht werden kann und – auf der Basis früherer bewältigter Probleme – genügend Problemlösungsvertrauen in der Persönlichkeit entstanden ist. Beides ist im Zusammenhang mit einer autistischen Selbstversicherung kaum möglich. So ist es hier günstig, Tagebücher (aus Bildern und Piktogrammen) zu führen, um die beschriebenen Zyklen anzuregen, zu begleiten und mit deren Hilfe deutlich zu machen.

Fazit

Es geht also im Zusammenhang mit autistischer Selbstversicherung primär erst einmal darum, für den Menschen nutzbare Entwicklungsräume zu gestalten, die beide Aspekte des Sprachraums – einerseits Klarheit und Orientierung, andererseits gemeinsame mehrdeutige Kontexte als wechselweise Anregung von Entwicklung – gewährleisten.

Eine große Hilfe sind hier bedeutungsvolle Rituale und Regeln sowie ‚Gegenstände‘ als Orientierungshilfe und Übergangsobjekte. Aber auch hier, wie bei allen Methoden (auch TEACCH), gilt, dass das Mittel allein nicht hilfreich ist, sondern nur helfen kann, einen Sprachraum im beschriebenen Sinn zu realisieren. Erst auf dessen Basis sind dann kontinuierliche pädagogische und therapeutische Programm sinnvoll (!) wirksam.

Überleben als Hochleistung – das ‚besondere‘ Problem von Menschen mit ‚Asperger-Autismus‘

Wie schon eingangs erwähnt, widmet sich dieser Text der Basis schwerster Beein­trächtigungen. Dies aber im Bewusstsein, dass diese Basis eben für alle Menschen gilt und die Überlegungen damit auch auf elaborierteren Entwicklungsniveaus als kategoriale Grundlagen eine wichtige Rolle spielen. Die Überlegungen gelten aber auch prinzipiell für ‚Asperger-Autisten‘. So wird – und das stellt in meiner Sicht ein großes Problem für diese Gruppe dar – durch ihre hohe kognitive Kompetenz, die es ihnen ermöglicht, ‚neurotypisches‘ Verhalten zu erlernen, für viele Menschen überhaupt nicht klar, mit welchem ungeheuren inneren Aufwand diese ‚Normalität‘, die sie uns bieten, bezahlt wird.

Erst wenn man meine Überlegungen auch in ihrem ‚Fall‘ prinzipiell zugrunde legt, kann man die Mammutaufgabe, die diese Gruppe leistet, annähernd erahnen, was zu einer entsprechenden Hochachtung und Rücksichtnahme ihnen gegenüber führen sollte. Verstehbar wird auch, dass Menschen, denen auf diesem Leistungsniveau dennoch der psychische Zusammenhang entgleitet, schlagartig auf eine sehr basale Ebene psychischer Selbstorganisation zurückgeworfen werden.

So beschrieb Donna Williams in einem Fernsehbericht vor sehr langer Zeit, dass es ihr, obwohl sie ja ansonsten völlig ‚normal‘ zu funktionieren schien, im Supermarkt passieren konnte – wenn zu viele Störungen zusammentrafen: ein gewünschtes Produkt war nicht da, wo es normalerweise sein sollte, der Lautsprecher machte eine Durchsage, die schwer verständlich war, der Einkaufswagen rollte immer zu einer Seite, weil eine Rolle etwas blockierte und es kam ihr in der Situation noch eine andere Käuferin entgegen, der sie ausweichen musste –, dass sie plötzlich mitten im Supermarkt stand, aus ihr ein lautes „Iiiiihhhh“ herausströmte und sie mit der Faust sehr fest rhythmisch, nicht wirklich bewusst auf ihren Oberschenkel schlug. Sie betonte in diesem Bericht noch, dass ihr solche Situationen im Nachhinein durchaus peinlich waren, dass sie das in der Situation aber einfach nicht abstellen konnte, weil genau der Bereich psychischer Organisation, der dieses leisten hätte können, in diesem Moment zusammengebrochen war.

Ich hoffe, dieses Beispiel macht klar, dass ich meine Überlegungen ganz im Sinne und im Dienste auch der ‚Asperger-Autisten‘ sehe. Wichtig ist aber auch, dass diese Tendenz, Schutz vor Überforderung in der Sicherheit ‚faktischer‘ Ordnungen zu finden, menschentypisch ist. Es gibt, das folgt aus dem zweiten Abschnitt dieses Textes, keine ‚neurotypischen‘ Menschen! Für Menschen ist es typisch, neurodivergent zu sein (!), wie auch Autistinnen und Autisten untereinander neurodivergent sind! Das Gemeinsame der ‚Autist*innen‘ ergibt sich aus ihrer Lebenslage, dass ihre Umwelt, letztlich die Gesellschaft, nicht in der Lage oder willens ist, ihnen ein ihren jeweiligen besonderen Voraussetzungen entsprechendes Gegenüber zu bieten.

Aus alledem folgt aber auch, dass der extreme Individualismus innerhalb des westlichen Kulturraums alle Beteiligten in Bezug auf ‚zu anstrengende‘ Auseinandersetzungen isoliert, ihnen alternativ ‚pfleglichere‘ Blasen gleichen Meinens (‚Stereotypien‘) in den sozialen Medien bietet und damit die Fähigkeit zu Unsicherheitstoleranz, Flexibilität, Variation, Diskurs, Kreativität, d. h. die für die Realisierung der anstehenden und zukünftigen Weltprobleme so dringend notwendigen Qualifikationen, schwer beschädigt. Ich erinnere an den Anfang:

Für jedes komplexe Problem

gibt es immer eine einfache Antwort,

die klar ist, einleuchtend und falsch.

H. L. Mencken (Frances 2013, S. 293)

 

Literatur

1 Bettelheim, Bruno; Stork, Jochen; Ortmann, Edwin (1983): Die Geburt des Selbst. Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder = The empty fortress (1967). Ungekürzte Ausg., 20. - 21. Tsd. Frankfurt: Fischer (Fischer Taschenbuch, 42247).

2 Bleuler, Eugen (2014): Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien (1911). Gießen, Lahn: Psychosozial-Verlag (Bibliothek der Psychoanalyse).

3 Brauns, Axel (2002): Buntschatten und Fledermäuse. Mein Leben in einer anderen Welt. 8. Aufl. München: Goldmann (Goldmann Sachbücher).

4 Buber, Martin (1979): Das dialogische Prinzip. 4. Aufl. Heidelberg: Schneider.

5 Caspary, Ralf (2012): Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik. 7. Aufl. Hamburg: Nikol.

6 Frances, Allen (2013): Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Unter Mitarbeit von Barbara Schaden. 1. Aufl. Köln: DuMont Buchverlag.

7 Haddon, Mark (2003): Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone. Roman. Taschenbuchausg., 1. Aufl. München: Goldmann (Goldmann, 46093).

8 Kanner, Leo (1949): Problems of nosology and psychodynamics of early infantile autism. In: American Journal of Orthopsychiatry 19 (3), S. 416–426. DOI: 10.1111/j.1939-0025.1949.tb05441.x.

9 Lempp, Reinhart (1996): Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? München: Kösel.

10 Peirce, Charles S. (1986): Die Festigung der Überzeugung und andere Schriften. (Herausgegeben und eingeleitet von Elisabeth Walter). Baden-Baden: Agis Verlag.

11 Preißmann, Christine (2007): Psychotherapie bei Menschen mit Asperger-Syndrom. Konzepte für eine erfolgreiche Behandlung aus Betroffenen- und Therapeutensicht. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.

12 Rödler, Peter (2000): Die Theorie des Sprachraums als methodische Grundlage der Arbeit mit 'schwerstbeeinträchtigten' Menschen. In: Peter Rödler, Ernst Berger und Wolfgang Jantzen (Hg.): Es gibt keinen Rest! Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Neuwied: Luchterhand (Beiträge zur Integration), S. 86–101.

13 Rödler, Peter (2019): Bindung und Autismus – eine Kontradiktion ? In: Zeitschrift für Heilpädagogik (zfH) 70. (8), S. 360–374.

14 Rödler, Peter; Berger, Ernst; Jantzen, Wolfgang (Hg.) (2000): Es gibt keinen Rest! Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Neuwied: Luchterhand (Beiträge zur Integration).

15 Singer, Peter (1979/1979): Praktische Ethik. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam.

16 Tammet, Daniel (2007): Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Taschenbucherstausg. München: Heyne.

17 Williams, Donna (1994): Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern. Eine Autistin überwindet ihre Angst vor anderen Menschen. Vollst. Taschenbuchausg. München: Droemer Knaur.

18 InternetdokumentMorrison, Christian (1996): The Political Feasibility of Adjustment. Hg. v. OECD (POLICY BRIEF, No. 13). Online verfügbar unter http://www.oecd.org/dev/1919076.pdf, zuletzt geprüft am 05.11.2018.

19 Wanka, Johanna; Meyer, Heino von (2017): Deutschland ist OECD-Spitze in der MINTBildung. Pressemitteilung: 107/2017. Hg. v. BMBF. Online verfügbar unter https://www.bmbf.de/de/deutschland-ist-oecd-spitze-in-der-mint-bildung-4783.html, zuletzt aktualisiert am 12.09.2017, zuletzt geprüft am 13.09.2017.

 

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