Beschreibung

Foto: Eva Gugg
aus Heft 6/2021 – Theatergruppe Dreamteam
Susanne Berg

Jörg schreit

Anfangs wurde die Nürnberger Theatergruppe Dreamteam, damals noch ein Volkshochschulkurs, als peinlich bezeichnet. Doch Dranbleiben und wilder Spieleifer zahlten sich aus. 2019 erhielt die Gruppe den Kulturpreis der Stadt Nürnberg. Mittlerweile sind Premieren häufig ausverkauft, und es gibt mehr Zulauf an Schauspiel-Interessent:innen als Plätze.

Jörg schreit auf. Laut, unvermittelt. Ich erschrecke kurz. Die anderen neun lesen weiter ihre Rollen; Heidrun ihre mit ruhiger Stimme als Oma. Jörg schreit wieder auf. Ich erschrecke nicht mehr. Oma soll „Home-Schooling“ machen, fühlt sich aber zu alt dafür. Ihre Enkelin muss Mathe-Hausaufgaben machen. Und Englisch. Die Enkelin „Tiffany“ spricht jetzt Tiago. Tiago spricht langsam, manchmal stockend. Tiago ist ein junger Mann mit Trisomie 21.

Es ist Dienstag: Die Nürnberger Theatergruppe Dreamteam trifft sich im Bildungszentrum der Stadt Nürnberg. Den ganzen Tag wird das neue Stück mit dem vorläufigen Titel „Die Nudelpest“ geprobt. Es verarbeitet die Corona-Situation in verschiedenen Alltagssituationen, natürlich ins Groteske überzogen. Die nächste Szene: Heidrun, Tiago und Frank sind jetzt drei Viren in einem depressiven Menschen. Frank kann manche Konsonanten nicht so deutlich aussprechen. Jörg ist jetzt auch dran und liest mit. Manchmal schreit er dazwischen auf. Jörg (51) erzählt gerne von sich und seiner Arbeit, seinem Leben. Er arbeitet in einer Werkstatt, die Arbeit macht ihm Spaß, er fühlt sich gefordert. Neben dem plötzlichen lauten Aufschreien hat er eine Lernbehinderung. Den Text für die Stücke lernt er mühelos.

Zur Theatergruppe gehören 15 Personen, mit und ohne Behinderung und fünf Coachingpersonen. „Die nächste Szene mit dem Depressiven und dem Spaßvogel ist auch optional“, geleitet Regisseur Jürgen Erdmann die Gruppe durch Probe und Text, „es kann sein, dass wir hier auch reduzieren müssen auf der Bühne“. Frank (Trisomie 21) fragt nach der richtigen Seite, dann hat er es gefunden. Jürgen Erdmann, Heidrun und Jörg sprechen die drei Viren. Jörg spricht manche Konsonanten anders aus, als man es gewohnt ist. Erdmann fragt ihn: „Wie ist das Wort Mundhöhle für dich, ist das besser als Rachen?“ Jörg probiert und spricht die Wörter aus. „Mundhöhle“ geht gut. „Rachen“ klingt wie „Rappen“.

Von wilder Improvisation zu eigenen Stücken

Entstanden ist die Theatergruppe vor über 20 Jahren aus einem Theaterkurs, den Jürgen Erdmann 1983 am Bildungszentrum der Stadt Nürnberg im Fachbereich Behinderte und Nichtbehinderte gab. „1998 ließ ich mich überreden, das Ganze einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren, das war quasi die eigentliche Geburtsstunde des Theater Dreamteam.“ Die Anfänge waren turbulent. Kein Plan hatte funktioniert; die Schauspielerinnen und Schauspieler machten einfach, was sie wollten, wie die 20-Jahr-Jubiläumsbroschüre verrät. Aber wie so oft wird eine scheinbare Schwäche auch hier zur Stärke. Denn jeder Akteur entwickelt seine Rolle selbst. Die Gruppe fängt an zu improvisieren. Daraus entsteht ein (übergeordnetes) Thema. Das heizt die Spielfreude weiter an, erste Ansätze für ein Stück bilden sich heraus.

„Aaahh, Spiel oder nicht Spiel, das ist hier die Plage“, spricht Frank in der Rolle des Rainer. In ihren Szenen und Stücken vereint die Gruppe aktuelle Themen, Anspielungen auf klassische Theaterstücke und jede Menge Witz. Ernsthaftes und Unterhaltung gehen Hand in Hand. In dieser Szene treffen Figuren wie Kleopatra und Neymar auf das Thema der Würde des Menschen, die Technik Bluetooth, die im Wortspiel mit Brutus „verwechselt“ wird. Über den Kniff „… mich dünkt, das Stück läuft aus dem Ruder …“ eröffnet Marco in der Rolle des Korrektors Ferdinand Mauerblum eine weitere Ebene. So geht es munter weiter: Tiago (selbst Halbportugiese) in der Rolle des Neymar da Silva Santos Junior (!) kontert: „Ich wollte was Sozialkritisches spielen, in dem das Theater dem Kapitalismus seine eigenen heuchlerischen Werte um die Ohren haut!“ Frank in der Rolle des großen Mimen mit kleinen Textproblemen Rainer Maria Kokottke kontert: „Ihr habt mir meinen Applaus verdorben!“ Frank sei einer, der die große Pose liebe. „Der war schon Hamlet, dann war er Julias Cäsar, dann war er Othello. Der haut mir ein Shakespeare-Stück nach dem anderen raus“, erzählt Jürgen Erdmann. „Der hat seine Rolle gefunden.“

In der nächsten Szene spielen Heidrun und Hans Jürgen (vermutlich mit Lernbehinderung) ein erfahrenes Ehepaar, das versucht, die ohnehin eingefahrene Routine und die durch Corona noch geringeren Möglichkeiten mit dem Basteln von Schmetterlingen aus Klopapier zu begegnen. Die Gattin führt auf, was sie normalerweise an den einzelnen Abenden getan hätte (Origamikurs, Opernbesuch der Frauengruppe usw.) Als sie beim Abend mit Vollmond angekommen ist, fällt ihr unvermittelt ein, dass sie da normalerweise Sex hätten. Der holde Gatte entwindet sich und geht lieber mit ihr auf den Balkon, um mit dem Feldstecher auszuspähen, welche Nachbarn sich nicht an die Coronaregeln halten.

Die Nudel

Noch komischer ist die Szene, in der die Loriot’sche Nudel mit einer Shakespeare-gerechten Antwort, einem Verschwörungstheoretiker und jeder Menge Desinfektionsmittel vermischt werden. „Ich mache das seit ich 20 bin, da hab ich mit den Kursen angefangen, so anspruchsvoll mit Sozialkritik und gesetztem Witz. Aber Monty Python usw. habe ich schon auch gemocht. Das Absurde, den abgedrehten Witz, das habe ich von den Menschen hier gelernt.“ Mitspieler Matthias Egersdörfer könne das perfekt, erklärt Jürgen Erdmann. Der deutschlandweit bekannte Kabarettist und Schauspieler – im Frankentatort als Spurensicherer Schatz – habe eine Szene entwickelt, in der er minutenlang vor Nudelgläsern stehe und über Größe und Unterschiede der einzelnen Nudelform räsoniere.

Vor über einem Jahr hatte das Dreamteam begonnen, am Stück zu arbeiten. Die Akteure hatten je eigene Rollen eingenommen und angefangen, Szenen zu entwickeln. „Da wird wild improvisiert.“ Aus diesen Einzelfragmenten schreibt Regisseur Jürgen Erdmann ein Theaterstück. „Die Szenen lege ich als Karten vor mich auf den Tisch und schiebe die so lange herum, bis ich einen roten Faden finde.“

Es geht Richtung Innenhof. Im zweiten Teil der Samstagsprobe wird nicht nur gelesen, sondern richtig gespielt. Der Innenhof bietet die passende Möglichkeit, coronagerecht an der frischen Luft zu proben. Das Wetter lässt es zu. Alle Akteure wissen, wann ihr Einsatz ist, in jeder Szene spielen Personen mit und ohne Behinderung zusammen.

Die im Juni über die Bühne gegangene Premiere sowie weitere vier Aufführungen im Hubertussaal in Nürnberg waren nahezu ausverkauft. Dann mussten coronabedingt einige Vorstellungen abgesagt werden. Ab Dezember 2021 geht es aber in die nächste Runde: Vom 15. bis 17. Dezember tritt das Dreamteam mit dem Stück „Nudelpest“ in der Kulturwerkstatt Auf AEG in Nürnberg und am 18. Dezember in der Kulturfabrik Bamberg auf.

 

www.theater-dreamteam.de