Beschreibung

Jede Reise ist für den autistischen Diplom-Geophysiker, SAP-Experten, Autor und Referenten Peter Schmidt wie ein Marathonlauf. Herausfordernd und herrlich zugleich, wie hier am Kilimandscharo.

Foto: Peter Schmidt
aus Heft 6/2021 – Anderswo
Peter Schmidt

Als Autist unterwegs in fernen, fremden Welten

Am Busfenster ziehen vollkommen vegetationslose, bizarre Landschaften voller toller Strukturen vorbei. Ihnen gilt meine ganze Faszination. Oh, wie gern würde ich hier halten und ruhig schauen, aber stattdessen fährt der Linienbus weiter. Haltlos. Durch die menschenleere Atacama-Wüste. Alle anderen Fahrgäste haben die dunklen Vorhänge geschlossen. Sie schlafen oder schauen dem gewaltvollen Kugelhagel im viel zu laut spielenden Busfilm zu.

Als ich endlich von diesem Film erlöst werde, erklingt aus dem Busmikro der Song „Right here waiting“ von Richard Marx. Die Eröffnung „Oceans apart …“ triggert binnen Sekunden bei mir ein tränenreiches Gesichtswetter. Nichts kann besser meine latenten Gefühle zum Ausbruch bringen, ist doch meine Freundin daheim, Ozeane getrennt.
Durch diesen emotionalen Filter blicke ich plötzlich in eine gefühlskalte kahle Landschaft der Leere, die da am Busfenster vorbeizieht. Dort gibt es kein Tanzen, keine Liebe, keine Geborgenheit, kein Grün des Lebens, nur das Nichts. Die klaren, für mich bislang lebendigen Strukturen verwandeln sich plötzlich in das, was andere dort sehen: eine tote Wüste. Erstmalig im Leben stellt sich ein Hauch von Heimweh ein. Sehnsucht nach Nähe in der Ferne.
Wie alles begann
Fremde, bizarre Landschaften faszinieren mich seit eh und je. Alles fing an mit der Frage, die ich meinen am Frühstückstisch sitzenden Vater stellte: „Wo kommt man eigentlich hin und wie sieht es da aus, wenn man immer in diese Richtung geht?“ Dabei zeigte ich durch das Küchenfenster auf die grell aufgehende Sonne. Sie zeichnete lange Schatten kahler Bäume auf den winterstarren Rasen.
Damals war ich vier Jahre jung. Die Antwort meines Vaters war bizarr. Da sei kein Ende der Welt in Form einer abgründigen Tischkante. Stattdessen würde ich irgendwann wieder im Wohnzimmer ankommen, von dem man oft den Sonnenuntergang sehen konnte. Am liebsten wäre ich sofort aufgebrochen, um das Land hinterm Horizont jenseits der Morgenröte zu entdecken!
Kaum konnte ich frei Fahrrad fahren, sammelte ich Orte und Straßen. Für die ersten 10 000 km brauchte ich als Grundschüler nur gut drei Jahre. Orientierung war und ist für mich kein Problem, der Blick auf eine Karte genügt, um zu begreifen, wo ich bin und wie ich fahren muss, um meine Ziele zu erreichen.
Ein Autist auf Reisen, so könnte man meinen, das gehe doch gar nicht. Doch meine so früh geborene Sehnsucht war und ist bis heute größer als die Angst vor Unwägbarkeiten. Und Abweichungen in der Kommunikation auf der Beziehungsebene, die typisch für Autisten sind, fallen weniger auf. Denn im Ausland bin ich Alien per Pass. Das Anderssein ist normal und akzeptiert.
So suchte und fand ich Wege, sammelte Erfahrungen, um Abenteuer in fernen Ländern für mich beherrschbar zu machen. Im Laufe des Lebens entwickelte ich meine Strategie der geplanten Flexibilität. Auf Reisen gibt es immer den Plan A, der beinhaltet, was ich erleben will. Daneben gibt es allerdings auch die Pläne B, C, D, E und F, die viele Szenarien beinhalten. Was zu tun ist, wenn das Hotel voll ist, der Bus nicht kommt, das Geld weg ist und so weiter.
Situationen, die ich in meine Entscheidungen nicht eingepreist habe, für die es also keinen Plan gibt, können bis heute schwere Handlungsblockaden auslösen. Dann ist es am besten, man lässt mich ganz in Ruhe, bis ich mich geerdet habe. Bis ich mit meiner Wahrnehmung wieder Herr der Situation geworden bin. Ich hasse Überraschungen aller Art, außer sie sind positiv.
Wie ein Marathonlauf
Man muss auch mal was aushalten können, um etwas zu erreichen, was Glück und Freude bringt. Da ist jede Reise wie ein Marathonlauf. Herausfordernd und herrlich zugleich. Als ich noch Marathon lief, machte ich im wahrsten Sinne des Wortes „Sightseeing im Schnelldurchlauf“, ob in Berlin oder Hamburg. Ich lief die 42 Kilometer in knapp vier Stunden, ohne erschöpft anzukommen, ich hatte Spaß, war nicht auf Rekordzeitjagd. Wenn man dann die Finisher-Medaille in der Hand hielt, lieferte das Energie, von der man jahrelang zehren kann.
Herrliche Flugreisen, die mir immer vorkommen wie ein Leben in einem Leben, beginnen meist schmerzvoll in schlangenvollen, lauten Flughäfen. Im Zielland angekommen, sehne ich mich nach dem Mietwagen, damit ich so schnell wie möglich in die Freiheit fahren kann. Wo ich bestimmen kann, wo es wann wie lang geht. Denn nichts hasse ich so sehr wie Fremdbestimmung, den Absichten und Plänen anderer ohne Mitbestimmung ausgeliefert zu sein.
Gruppenreisen sind schwierig für mich. Werden meine speziellen Bedürfnisse nicht einigermaßen berücksichtigt, kann das sowohl für mich als auch für Mitreisende zum großen Problem werden. Besonders dann, wenn leutevolle, laute Märkte und Teppichläden wertvolle Zeit klauen, sodass andere Sehenswürdigkeiten nur minutenlang gesehen und nicht mehr angemessen ausführlich gewürdigt werden können.
Zum Glück interessiert es mich wenig, was andere Menschen über mich denken, sodass ich meine Bedürfnisse nicht selten mit harten, aber fairen Argumenten in Gruppen gegen Mehrheiten durchsetze. Eine Reise war und ist dann ein Erfolg, wenn ich die Dinge, die ich mir vorgenommen habe, erlebt habe.
Weniger konfliktträchtig und damit ein Kompromiss ist die individuelle, organisierte Tour. Die ist sogar Pflicht am Kilimandscharo. Da gab es Träger, Koch und Führer. So stieg ich nicht nur auf den höchsten Gipfel, auf 5895 m, den Uhuru Peak, sondern ab in die Gipfelcaldera und auch gleich wieder auf zum 5835 m hohen Reusch-Krater. Dahin verirren sich nur wenige Wanderer. Aber da ist es, wo das tiefe große Gipfelloch ist, das jeden Vulkan charakterisiert, wo der Schwefel austritt, wo man also riecht und sieht, dass der Kilimandscharo tatsächlich ein aktiver Vulkan ist!
Herausforderungen
Die größten Herausforderungen beim Reisen sind für mich das Packen und unpünktliche öffentliche Verkehrsmittel. Packen, weil ich einerseits lieber mit leichtem Gepäck unterwegs bin und andererseits für alle Eventualitäten Klamotten haben möchte. Und Züge und Flüge, die Verspätung haben, sind eine Bedrohung für meine Pläne und damit mein Wohlbefinden. Genauso wie Menschenmassen.
Früher konnte ich viele Stellen noch individuell besuchen, die heute aufgrund des Massenandrangs für Touristen gesperrt worden sind, beispielsweise im spannenden Innern der mexikanischen Pyramiden herumlaufen. Immer mehr Orte gibt es, die nur noch mit restriktivem Permit betreten werden dürfen, wie die perfekte Welle, „The Wave“, in Arizona, eine spektakuläre Gegend, die zudem für Reisegruppen tabu ist.
Heute bin ich froh, viele Ziele bereits bereist zu haben, als es den weltweiten Massentourismus noch nicht gab. So war ich als einziger Tourist in der Inka-Stadt Machu Picchu. Auch stand ich einst als einziger westlicher Tourist auf der Chinesischen Mauer bei Badaling. Mittlerweile erlebte ich Staus auf einst einsamen Wanderwegen, zum Beispiel auf dem Weg zur Trolltunga in Norwegen. Besonders Instagram scheint vielen attraktiven, fotogenen Zielen „den Rest“ zu geben.
Am liebsten nehme ich den Landweg. Zum Beispiel mit dem Zug nach Hongkong, mit dem Auto von Alaska nach Feuerland, mit Bussen auf der Seidenstraße oder vom Nordkap in Norwegen zum Nadelkap in Südafrika. Denn Fliegen ist wie Beamen. Man steigt ein, um Stunden später da auszusteigen, wo alles ganz anders ist: die Menschen, ihre Sprache, die Vegetation, die Landschaft. Wie Klimazonen, Kultur und damit der Charakter der Landschaft allmählich ineinander übergehen – das zu erleben, finde ich besonders spannend. Auf der Straße nach Süden kommen erst die Alpen und dann irgendwann entdeckt man sie, die erste Palme!
Lieblingsplätze
Am liebsten war und bin ich in den USA unterwegs. Weil es dort eine immer gleich funktionierende Infrastruktur gibt, auf die ich mich verlassen kann. Wo ich wie mein Essen bekomme, wo ich wie übernachten kann und vieles mehr. Bereits 1987 war mir dort aufgefallen, dass es in nahezu jedem Naturpark rollstuhlkompatible Wanderwege gab.
So manches „einfache“ Motel in den USA würde von mir schon allein wegen der geräumigen Zimmer mehr Sterne kriegen als das eine oder andere 5-Sterne-Hotel, das mich allein beim Einchecken überfordert. Weniger ist mehr.
Würde ich die Bewertung von Hotels vornehmen, würde zum einen so manches große 5-Sterne-Haus einige seiner Sterne verlieren und zum anderen so manches kleinere Hotel einige Sterne mehr bekommen. Denn die Kriterien, die für mich relevant sind, um über die Qualität eines Hotels zu entscheiden, orientieren sich nicht vordergründig an der Ausstattung, sondern am Wohlbefinden.
Da gibt es notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Für mich ist es beispielsweise wichtig, dass die Zimmer hell, leise und nicht zu eng sind. Freies, verlässliches und performantes Wifi, früher kein Kriterium, ist mittlerweile Pflicht.
Wenn es sich um eine Anlage für einen längeren Urlaub handelt, dann erwarte ich ein geordnetes, gutes Frühstücksbuffet. Beim Essen darf es nicht wirr und laut sein. Weiterhin ist ein großzügiger, warmer Süßwasserpool, idealerweise in einer palmigen Gartenlandschaft, Voraussetzung für viele Sterne. Es spielt dagegen keine Rolle, wie groß die Anlage ist, ob es abendliches Unterhaltungsprogramm oder ob es eine Bar gibt oder nicht.
Ich habe alle Landkreise Deutschlands und alle 50 Bundesstaaten der USA wortwörtlich erfahren und mittlerweile 124 Länder bereist. Besonders anregend finde ich spektakuläre, strukturreiche Canyonlandschaften. Ein Orchester der Natur mit einem reichhaltigen Farben- und Formenspiel. Nicht minder spannend sind Wanderungen durch das Land der Kakteen. Sie faszinieren mich seit frühester Kindheit. Denn es sind bizarre Pflanzen mit besonderen Blüten und Bedürfnissen. Sie brauchen viel mehr Sonne als andere Blumen, sie brauchen nur wenig Wasser und stehen solitär im lichten Wald. Allein, aber nicht einsam!

Dr. Peter Schmidt ist Diplom-Geophysiker, SAP-Experte, Autor und Referent. Im Alter von 41 Jahren fand er – ohne danach zu suchen – heraus, dass er Autist ist. Auf die Frage an Fachärzte, ob das denn stimme, hieß es, bei ihm sei Autismus in Form des Asperger-Syndroms geradezu klassisch ausgeprägt, völlig untypisch dagegen sei das, was er damit aus seinem Leben gemacht habe.
Als Autor von Büchern, durch Beiträge im Fernsehen und in anderen Medien sowie durch viele Vorträge zum Thema Autismus wurde Schmidt inzwischen auch über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.
Seit 2008 hält er Vorträge zum Thema Autismus, zunächst in Deutschland, später auch im Ausland, besonders häufig in Polen und in der Schweiz, aber auch in den USA, Japan und in Namibia war er schon in Sachen Autismus unterwegs. Und natürlich war auch Österreich bereits mehrfach dabei.
Darüber hinaus gab es bereits unzählige Berichte in verschiedenen Printmedien sowie im Radio und Fernsehen, die seine Geschichten und Wahrnehmungen darstellten.
2012 debutierte er mit seiner Autobiografie „Ein Kaktus zum Valentinstag“. Das Buch über seine Sicht auf die Liebe mit Autismus erreichte Platz 19 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. 2013 folgte „Der Junge vom Saturn“ über seine Kindheit, Jugend und Schulzeit, und 2014 „Kein Anschluss unter diesem Kollegen“ über sein Berufsleben.
2016 erschien mit „Der Straßensammler“ seine Wahrnehmung auf Reisen. Mit „Aus dem Rahmen gefallen – praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss“ legte der Autor 2020 sein erstes Fachbuch zum Thema Autismus vor.  
„Aus dem Rahmen gefallen – praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss“, mit einem Vorwort von Prof. Dr. Dr. Vogeley, Uniklinik Köln, erschienen 2020 im Patmos-Verlag, Ostfildern.

Info: www.dr-peter-schmidt.de