Thema der Ausgabe 6/2021:

Autistische Lebenswelten

 Frage von Patricia Josefine Marchart:
„Was ist das Unteilbarste der Welt?“
 Antwort von Marko Zohmann:
„Das Menschenleben.“

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Autistische Lebenswelten

„In meiner Sprache geht es nicht darum, Wörter zu entwerfen, die von Menschen interpretiert werden können, nicht einmal visuelle Symbole. Es geht darum, mit jedem Aspekt meiner Umgebung in ständigem Austausch zu stehen. Auf alle Teile meiner Umgebung zu reagieren.“

Novina Göhlsdorf analysiert eindrucksvoll ein Video von Mel Baggs. Nach Baggs’ Meinung besteht Autismus nicht in der Ummantelung des Selbst, sondern im Offenhalten von Türen, die vielen Menschen verschlossen sind.
Diese Welt blieb zunächst auch Patricia Josefine Marchart verschlossen. „Anfangs war ich auf der Suche nach dem Trennenden und dem Verbindenden in unserer Kommunikation, versuchte zu verstehen, wie autistische Personen denken, was sie fühlen, so tappte ich in die Falle meiner Vorstellungen. Ich war Opfer meiner eigenen Interpretationen geworden. Ich verstand nicht, dass es dabei gänzlich um ‚die Begegnung‘ ging und in jedem Moment der Austausch stattfand.“
Lassen Sie sich auf die Impulse, Emotionen, Erlebnisse und Gedanken von Lukas, Raffael, Marko und Markus ein. Die Texte muss man einfach nur wörtlich nehmen, alles richtet sich an die, die sie empfangen. Sie sind so geschrieben, wie es ist. Es steht nichts zwischen den Zeilen, nichts wird interpretiert.

Hajo Seng, der dieses Heft mit seiner ganzen Erfahrung kuratiert hat, führt in seinem Beitrag in die Lebenswelt autistischer Personen ein. Sie erleben ihr Denken, das sich vom sprachlichen Denken unterscheidet, als etwas Verbindendes. Der Zusammenhang von Hören und Sehen fußt offensichtlich auf einem Erleben, in dem sich die beiden Sinneswahrnehmungen nicht so leicht voneinander unterscheiden lassen. Jedenfalls ist der Übersetzungsaufwand von Gedanken in Sprache eine Höchstleistung.
Serena Hasselblad, Dennis Hansson und Hanna Bertilsdotter Rosqvist schlagen vor, Autismus als eine Methode zu betrachten, die innere und äußere Welt aus der Perspektive von Autistinnen und Autisten zu entdecken und zu erleben. Sie sehen Autismus nicht als pathologisches Studienobjekt, sondern als eine wertvolle epistemische Fähigkeit und eine Daseinsart in der Welt. Im autistischen Raum finden sie neue, sinnvolle Wege, sich selbst und andere zu verstehen, indem sie miteinander diskutieren und Gedanken und Erfahrungen austauschen.
Man muss beim Autismus-Spektrum nicht den irreführenden Begriff der geistigen Behinderung bemühen, so André Frank Zimpel. Dieser Begriff sagt mehr über unser Unverständnis aus als über die tatsächlichen Leistungen von autistischen Menschen. In einer exzellenten Studie weist er nach, dass beim Autismus-Spektrum ein vergrößerter Aufmerksamkeitsumfang vorliegt, was einer der Gründe für eine erhöhte „Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems“ sein könnte.

Julia Tierbach schaut hinter die so schön klingenden Forderungen nach Vielfalt und (Neuro-)Diversität. Wenn alle gleichermaßen unterschiedlich sind, werden Unterschiede individualisiert und die eigenen kulturell geprägten Interpretationen von Verschiedenheit werden nicht mehr hinterfragt.

Die Lebensverläufe autistischer Erwachsener und die Elternsicht hat Georg Theunissen erforscht. Die Eltern werden alleingelassen, die professionellen Hilfen erweisen sich als recht einfallslos, den Leistungsträgern geht es oft um die Frage, wohin die Betroffenen am besten „passen“, ein schier endloser Weg voller Brüche, die viele Eltern verzweifeln lassen.

Wenn wir uns auf die Begegnung mit autistischen Menschen wirklich einließen, könnten wir neue Ebenen der Beziehungen und des Menschlichen entdecken.

 

Inhalt:

Artikel
"Wenn es mir wirklich schlecht geht, umarmen sie mich"
Aua! Schmerzen?
Intensitäten statt Symbole
Nationaler Aktionsplan Behinderung (NAP)
Autistische Welten
Autismus aus einer lebensweltlichen Perspektive
Autismus von innen als Alternative zu Autismus von außen
Autismus- und Neurodiversitätsspektren
Autismus und Wissenschaft - die Angst vor dem Fremden
Der Umgang mit (Neuro-) Diversität im Kontext einer teilhabeorientierten Pädagogik
Kritische Lebensverläufe autistischer Erwachsener unter Berücksichtigung der Situation und Sicht von Eltern
Als Autist unterwegs in fernen, fremden Welten
Mathis' Weg ins Berufsleben
Inklusive Videokonferenzen
Angriffe auf das Pflegegeld
Wohlfühlfaktor Arbeitsplatz
Kommt sie oder kommt sie nicht?
Verdrängung und biedere Fröhlichkeit
Jörg schreit
InTaKT - Inklusives Tanz-, Kultur- und Theaterfestival