Der kriegsverletzte Khaled Alafat aus Syrien verlässt in seinem Elektro- Rollstuhl gerade die Therapiestelle.

Für Flüchtlinge mit Behinderung ist die Situation in provisorischen Lagern wie hier in Mavrovouni besonders schwierig.

Foto: Julian Busch
aus Heft 5/2021 – Flüchtling in Griechenland
Franziska Grillmeier

Von Lager zu Lager - Als behinderter Flüchtling in Griechenland

Ein Jahr ist das Feuer von Moria auf der griechischen Insel Lesbos her. Damals war es die größte Angst der Menschen, die aus dem brennenden Lager geflohen waren, abermals in einem Camp isoliert zu werden. Heute, ein Jahr später, hat sich ihre Angst bestätigt. Zwei, die davon erzählen können, sind der Syrer Khaled Alafat, der im syrischen Bürgerkrieg schwer verletzt wurde, und seine chilenische Psychotherapeutin Fabiola Velasquez. Eine Zeitreise über die Monate seit dem Brand von Moria.

September 2020: „Freiheit“ steht auf dem Schild einer der Frauen, die an der Dachkante eines Warenhauses stehen. Hinter ihnen liegt das Dorf Moria. Vor ihnen die dampfende Straße, auf der Tausende Menschen nach dem Feuer von Moria im Freien campieren. Auf Isomatten, auf Bambusblättern, unter Plastikplanen und Ästen. Vier Tage ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass das Lager von Moria bis auf die Mauern des Abschiebegefängnisses abbrannte. Es ist das Ende von fünf Jahren Elendslager Moria. In den ersten Tagen gibt es Hoffnung, auf das Festland transferiert zu werden. Die Angst der geflüchteten Menschen, abermals in ein Lager zu kommen, war damals greifbar. In jedem Gespräch, in jeder Geste ging es vor der Forderung nach Trinkwasser, Essen und Medikamenten immer um die Furcht, wieder in die Verborgenheit zu rutschen. Während die ersten Hubschrauber neue Matratzen und Zelte auf das Militärgelände neben der Straße fliegen, rufen die Frauen in die kommende Nacht: „Es ist besser, für die Freiheit zu sterben, als den ganzen Tag und das ganze Leben in einem Gefängnis zu sein.“

Behinderung durch Kriegsverletzung

April 2021: Khaled Alafat setzt zitternd einen Fuß vor den anderen. Er trägt Knieschoner. „Halte mich vorne am T-Shirt fest“, sagt er zu seinem Cousin, der ihn beim Lauftraining stützt. Die Psychotherapeutin Fabiola Velasquez betritt den Behandlungscontainer. Es sind die letzten Tage, an denen sie ihre Patienten sehen kann, bevor auch diese in das temporäre Lager Mavrovouni gleich nebenan transferiert werden. An diesem Frühlingsmorgen im April leben noch 400 Menschen in dem Familienlager Kara Tepe, das über Jahre hinweg eine würdevollere Alternative zu dem notorisch überfüllten Lager von Moria gab. Viele von ihnen haben einen besonderen Schutzstatus. Auch der 33-jährige Khaled Alafat aus der syrischen Stadt Deir ez-Zor. „Dass du mir nicht aufhörst zu üben“, sagt Velasquez. Sie droht lachend mit dem Zeigefinger. „Immer, Boss“, sagt Alafat. Zwei Jahre ist es her, dass Khaled Alafat zum ersten Mal an den Container von Fabiola Velasquez klopfte. „Whoop“, dachte sich die 41-jährige Therapeutin, „das wird eine Herausforderung.“ Alafat ist ein großer Mann und sitzt im Rollstuhl. Als er Velasquez traf, wog er 130 Kilo und konnte seine Beine kaum bewegen. Kurz nach Kriegsbeginn in Syrien vor zehn Jahren zerfetzte eine Bombe das Dach, unter dem seine Familie in der Stadt Deir ez-Zor wohnte. Sein Bruder starb, Alafat selbst wurde von einem Dachstück schwer am Kopf verletzt. Die Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma, die rechte Körperseite ganz gelähmt, eine spastische Lähmung in den Beinen. Wochenlang lag er im Koma, seither ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch nachdem er es geschafft hatte, auf dem Rücken von Freunden aus Syrien zu fliehen, blieb er ohne medizinische Behandlung. Bis er auf Fabiola Velasquez traf. Seit 2019 hat die Chilenin in Kara Tepe mit Überlebenden von Folter und schweren Traumata in einer ganzheitlichen Physiotherapie zusammengearbeitet. Für Velasquez und ihren Patienten Khaled Alafat ist dieser Vormittag im April eine der letzten Trainingseinheiten im Familienlager. Über zwei Stunden am Tag trainiert er, fast sein ganzer Körper ist spastisch beeinträchtigt. Dabei helfen ihm auch seine beiden Cousins, die den gleichen Weg aus Syrien genommen haben wie er. Einer von ihnen liegt mittlerweile selbst auf dem Behandlungstisch im Nachbarcontainer vor Velasquez. An der Innenseite seines rechten Oberarms hat sich ein tennisballgroßer Furunkel gebildet. Es sei die zweite Entzündung binnen drei Wochen. Der Stress, sagt Velasquez, mache die Menschen krank. Die Ungewissheit, ob man abgeschoben wird oder nicht, wann man seinen Container räumen muss, „da schrumpfen Körper und Geist zu einer Faust zusammen.“ Sie schraubt ein Fläschchen Desinfektionsmittel auf und setzt sich neben den jungen Mann auf die Liege. „Du musst viel trinken“, sagt sie, „dein Körper braucht wieder Kraft.“ Bis zum Jahresende sollen auf Lesbos alle kleineren Hilfsinitiativen geschlossen und die Menschen in das neue temporäre Lager Mavrovouni überführt werden. Dieses hat die griechische Regierung zusammen mit einer neu eingerichteten „Task Force“ der Europäischen Kommission innerhalb weniger Tage gebaut. Mavrovouni, das auf Griechisch „der schwarze Hügel“ bedeutet, liegt nur zwei Kilometer von dem Behandlungscontainer von Fabiola Velasquez entfernt.

Neues Lager mit zu engen Toilettenboxen

„Khaled wird selbst zum neuen Lager fahren. Für den Rollstuhl ist im Bus kein Platz“, schreibt Velasquez ein paar Stunden vor der Räumung des Familienlagers im April per SMS. Warum die Räumung mitten in der Nacht, um 4.30 Uhr stattfindet? Es scheint, als sollten die Geflüchteten schon beim Abtransport nicht mehr sichtbar sein. Am letzten Tag des Frühlingsmonats April bewegt sich kein Auto mehr im Morgengrauen auf der Straße vor dem Familienlager. Nur die Generatoren des nahen Mavrovouni-Lagers brummen durch die Nacht. Im Licht der Straßenlaternen nieselt es. Zwei Polizisten lehnen an einem Streifenwagen vor dem Eingang. Zwanzig Minuten später kommen zwei Busse, gefolgt von zwei Militärwagen. Sie verschwinden hinter der Absperrung. Wenige Minuten später biegen zwei Polizeiautos in die Einfahrt. Neun Polizisten stehen nun mit Kaffeebechern am Eingang. Noch immer ist kein anderes Auto auf der Straße zu sehen. Seit knapp einem halben Jahr gilt auf der Insel bis fünf Uhr morgens eine Ausgangssperre. Journalistinnen und Journalisten ist es nicht gestattet, bei der Räumung von Kara Tepe dabei zu sein. Um 5.50 Uhr fährt ein Mann in einem automatischen Rollstuhl durch das Tor und an den Polizeiwagen vorbei. Er parkt am Rand der Hauptstraße. Als wir auf dem Hügel gegenüber loslaufen, um zu Alafat hinunterzugehen, schreit ein Polizist: „Go!“ Kurze Zeit später kraxeln zwei Beamte die Wiese hinauf, um unsere Presseausweise zu kontrollieren. Aus den Augenwinkeln sehe ich Khaled Alafat die Straße zum neuen Lager hinunterrollen. Zwei Tage später, es ist mittlerweile Mai, sitzt Velasquez in ihrer kleinen Wohnung am Rand der Hafenstadt Mytilini. Sie sei nach der Räumung erst einmal zum Zelten in die Natur gefahren, erzählt sie. Doch selbst das Tauchen im Meer spüle das Gefühl der Ohnmacht nicht weg. „Hier wird Menschen, die schon alles verloren haben, die letzte Würde genommen. Ich frage mich: Wann haben wir aufgehört, einander in die Augen zu sehen?“ Das Wichtigste an ihrer Arbeit sei, den Menschen ein Stück Würde zurückzugeben. Sie nicht als Kriminelle zu behandeln. Sechs Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Fluchtkrise, als in manchen Nächten Tausende Menschen die Küste von Lesbos erreichten, schaut Velasquez auf die weißen Zeltdächer am Horizont, wo Alafat vor zwei Tagen hin transferiert wurde. „Sein automatischer Rollstuhl kommt die Berge nicht mehr hoch und verhakt sich im Geröll“, sagt sie. Er musste ihn gegen einen ohne Motor eintauschen. Oft sitzt er stundenlang ohne Schatten neben den Containern, da niemand Zeit hat, ihn zu schieben. Velasquez wischt auf ihrem Handy Bilder hin und her. „Alleine kann er nicht auf die Toilette gehen“, sagt sie, „die Boxen sind viel zu eng.“ Er braucht die Hilfe von zwei Männern, die ihn auf die Dixie-Toilette tragen müssen.

Ehemaliger Platz für Schießübungen

September 2021: Heute leben in Mavrovouni, auf einem ehemaligen Übungsplatz des griechischen Militärs, über 3500 geflüchtete Menschen. Die Angst, eingesperrt zu werden, hat sich für viele Bewohnerinnen und Bewohner betätigt. Bis zu 300 Polizistinnen und Polizisten sind rund um die Uhr im Einsatz. Doppelter Stacheldrahtzaun und Beton sichern die Eingänge des Lagers. Während die Bars in Mytilini nun wieder Musik spielen dürfen und immer mehr Touristinnen und Touristen auf den griechischen Inseln eine Pause von der Pandemie suchen, dürfen in den ersten Monaten nur ein Fünftel der Campbewohnerinnen und -bewohner pro Tag mit triftigem Grund das Lager verlassen. Inzwischen sind die Ausgangsbestimmungen zwar gelockert worden, sonntags darf das Lager trotzdem nur mit Ausnahmegenehmigung verlassen werden. Als im vergangenen September Hubschrauber erste Zelte auf den alten Armeeschießplatz brachten, schüttelten viele Inselbewohnerinnen und -bewohner den Kopf. Zu viel Wind. Im Boden kann man keine Container befestigen. Das Meer zu nah. Kein Wasseranschluss. Kein Schatten. Im Winter sind die Menschen dem Regen und manchmal gar Schnee ausgesetz„Übergangslösung“, hieß es aus dem Migrationsministerium in Athen. Über 276 Millionen Euro stellte die EU-Kommission für den Bau von fünf neuen Hochsicherheitslagern auf den Inseln im ägäischen Meer zur Verfügung. Anders als auf Samos, wo eines der neuen Lager Mitte September eingeweiht wurde, haben die Bauarbeiten auf Lesbos bis auf eine Betonstraße noch immer nicht begonnen. Dennoch will die griechische Regierung an der Schließung der alternativen Unterbringungsmöglichkeiten noch vor Ende dieses Jahres festhalten. Heute ist es knapp fünf Monate her, dass das Familienlager von Kara Tepe dicht gemacht wurde.

Verschwiegenheitsgesetz

Velasquez hat mittlerweile eine kleine Praxis in der Hafenstadt Mytilini eröffnet. Für NGOs wird der Zugang immer schwieriger. Seit November 2019 haben sich die Anmeldungsregularien viermal geändert. Aber eigentlich war ihr das ganz recht, sie will das System nicht am Laufen halten. „Lieber draußen als drinnen,“ sagt sie. Im Dezember verabschiedete die griechische Regierung eine Neuauflage des sogenannten Verschwiegenheitsgesetzes, das es Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen und Freiwilligen verbietet, öffentlich über Missstände im Lager zu sprechen. Und auch Journalistinnen und Journalisten erhalten nur mehr in geführten Pressetouren unter Polizeibegleitung Zutritt. Damit ist es kaum mehr möglich zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Menschen im Lager leben. In der Isolation verschwinden die Campbewohnerinnen und -bewohner aus dem Blick der Öffentlichkeit. Auch in Brüssel ist man sich der schwierigen Situation für Menschen mit Behinderungen im Lager bewusst. „Von unserer Seite aus sollten Menschen mit hohem Schutzstatus, wie etwa mit Behinderungen nicht auf der Insel sein“, sagt Beate Gminder, Leiterin der EU-Task Force: „Wir weisen die Regierung jede Woche darauf hin, dass die Betroffenen in Wohnungen auf das Festland verlegt werden sollen. Das passiert nach und nach. Dabei muss man auch erkennen, dass Menschen mit Behinderung auch schon im Familienlager beim Besuch der Gemeinschaftstoiletten auf die Hilfe anderer Familienmitglieder angewiesen waren.“

"Warum sind alle so kopflos?"

Für Fabiola Velasquez ist klar, dass Menschen mit Behinderung immer auf Hilfe von außen angewiesen sind: „Es geht darum, die richtige Infrastruktur zu bauen, um diese Hilfe nicht zusätzlich zu behindern.“ Es ginge darum, zu überlegen was das Beste für den Menschen ist. „Es muss doch klar sein, dass ein Mensch mit amputierten Beinen eine Toilette in der Nähe braucht und keinen Berg hinunterlaufen kann. Warum sind alle so kopflos?“ Seit knapp einem halben Jahr ist Khaled Alafat nun in dem neuen Lager. Vier Mal ist sein automatischer Rollstuhl seitdem kaputt gegangen. Viermal hat Velasquez ihn mit ihrem Team repariert. Es gab Zeiten, in denen Alafat nichts aß. Seine Medikamente nicht mehr nehmen wollte. Heute kommt er jeden Tag zu Fabiola, die vier Monate später eine Stadtklinik gegenüber einem bunten Restaurant geöffnet hat. Er hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen, das Lager im Gegensatz zu den mittlerweile nur mehr 3500 anderen Geflüchteten täglich zu verlassen. „Guten Morgen mein Herz,“ sagt Alafat und fährt die Rampe hinauf. Fabiola bereitet ein Glas frischen Saft für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor, dann setzt sie sich vor seinen Rollstuhl. Auch heute müssen sie wieder seine Maße nehmen, um einen neuen Rollstuhl zu bestellen, der geländefähig ist. „Es ist, wie nach Hause zu kommen,“ sagt Alafat. Für zwei Stunden am Tag kann er hier seinen Körper bewegen. Bis der kleine Shuttle von Fabiola ihn zurück ins Lager bringt und er wieder im Zelt festsitzt.

Franziska Grillmeier schreibt vor allem über die Folgen von Flucht und Vertreibung und Gesundheitsversorgung in Krisengebieten. Sie lebt auf der Insel Lesbos in Griechenland, reist für Ihre Geschichten aber immer wieder in den Balkan, Nahen Osten und Zentralasien.
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