Eine Hand reicht der Hand einer anderen Person eine gelbe Blume.

Illustration: Eva-Maria Gugg

Reaktion auf Heft 2/2021: Ferdinand Klein über handlungsbezogenes Handeln

Der Beitrag von Stephan Ellinger und Oliver Hechler „Entwicklungspädagogische Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns“ in MENSCHEN 2/21 (S.17-24) erinnert Ferdinand Klein an den pädagogischen Grundbegriff des handlungsbezogenen Handelns, den sein akademischer Lehrer Wolfgang Sünkel (1934-2011), einer der bedeutenden pädagogischen Grundlagenforscher, aus historischer Perspektive entwickelt hat.

1. Einleitung

Vorhaben

Der Beitrag fokussiert einen pädagogischen Grundsachverhalt, der mit dem Fundamentalbegriff des handlungsbezogenen Handelns erörtert wird (Klein 2004). Er weist auf die Vermittlungsarbeit des Lehrers hin, die auf das Interesse des Schülers und seine Aneignungsarbeit gerichtet ist. Aus historischer Perspektive wird mit dem Begriff des handlungsbezogenen Handelns ein formulierbares Verhältnis gefunden, das den alten Gegensatz zwischen der pädagogischen Idee der Führung und der pädagogischen Idee der Selbsttätigkeit überwindet und beide Ideen als Einheit sieht. Am Beispiel eines Gerichtsprojekts mit geistig behinderten Schülern und Schülerinnen wird gezeigt, wie Schulforschung mit pädagogischen Begriffen erfolgen kann und für den inklusiver werdenden Lern- und Bildungsort bedeutsam ist.

Im Zentrum steht die Vermittlungsarbeit des Lehrenden

Mit Nachdruck macht die traditionsbewusste Pädagogik darauf aufmerksam, dass ihr bald der totale Verlust des begrifflichen Instrumentariums droht, weil sie ihre zentralen Vorstellungen nicht mehr bearbeitet. Pädagogik hat ihre eigene Logik und Rationalität weitgehend soziologischen und psychologischen Annahmen geopfert. Dem steht aber die Komplexität und Vieldimensionalität pädagogischer Sachverhalte gegenüber (Hopfner/Winkler 2004, 9 ff. und 155 ff), die der Begriff des handlungsbezogenen Handelns offenlegt. Im Zentrum steht die Vermittlungsarbeit des Lehrers, d.h. der methodisch gestaltete Unterricht (Klein 1985 und 1989).

Geboten ist die strukturelle Einheit von Praxis, Forschung und Lehre

Auch wenn es zwischen der Reflexion des Unterrichts und dem praktischen Tun des Lehrers keinen unmittelbaren Ableitungszusammenhang gibt, sei an Erich Mollenhauer erinnert, der in seiner Göttinger Abschiedsvorlesung 1996 diesen Zusammenhang an den Begriffen Individualität und Autonomie wie folgt analysiert hat: „Diese ideellen Konstrukte könnten wir zwar nicht empirisch verifizieren als etwas, worauf Verlass wäre; sie sind nur mental gegeben als Vorstellung, nur schwach konturiert. Wir können sie deshalb auch nicht normativ, in Erziehungs- und Bildungstheorien, zur Geltung bringen, als Handlungsempfehlung etwa, denn dann müssten wir über prognostisches Wissen verfügen. Individualität und Autonomie sind [...] im strengen Sinne dieser Rede ‘kontrafaktische’ Ideen, die auf keine Wirklichkeit, sondern nur auf Möglichkeiten verweisen, auf Hoffnungen einer Gattung, die sich noch nicht aufgegeben hat“ (Erziehungswissenschaft 2000, 67).
Mollenhauer kritisiert das leichtfertige Verknüpfen der wissenschaftlichen Reflexion mit dem praktischen Handeln, weist aber auf Ermöglichungsräume hin. Sein Verständnis ist bei der Erörterung des pädagogischen Fundamentalprinzips des handlungsbezogenen Handelns zu beachten, bei dem es um das Herstellen einer Verbindung zwischen der Theorie mit dem sozialen Miteinander in der Praxis geht und damit um das scheinbar Unverknüpfbare doch zueinander zu bringen. Das weist auch auf die in der Rehabilitationspädagogik ursprünglich gepflegte Einheit von Forschung, Lehre und Ausbildung in der Erzieherausbildung hin, in deren Zentrum die Praxis steht. Diese strukturelle Einheit von Praxis, Forschung und Lehre erinnert an Kurt Lewins Methodik des Erkennens: Nach Lewin sollten Handeln, Forschen und Erziehen als Dreieck betrachtet werden, das um jeder seiner Ecken willen zusammenzuhalten ist (Klein 1997, 354).

2. Zum Begriff des handlungsbezogenen Handelns

Der Begriff des handlungsbezogenen Handelns ist die abkürzende Bezeichnung eines pädagogischen Prinzips, das Wolfgang Sünkel und seine Schüler in der Erlanger Schule entwickelt haben. Das unterrichtliche Handeln des Lehrers ist Vermittlungsarbeit. Seine Arbeit hat in der Aneignungsarbeit des Schülers ihr Handlungsziel. Dieses ganzheitliche Prinzip überwindet die strikte Trennung der pädagogischen Ideen des Führens und der pädagogischen Idee der Selbsttätigkeit. Wird eine dieser Ideen absolut genommen, so hebt sich der Sinn der Erziehung auf. Es kommt vielmehr darauf an, die Natur des Verhältnisses von Führung und Selbsttätigkeit zu bestimmen. Über Theodor Litt hinausgehend, dessen Analyse dieses Problems in “Führen oder Wachsenlassen“ (1967) mit dem Spiel und Gegenspiel ewig rivalisierender Antriebe endet, legt die Erlanger Schule ein formulierbares Verhältnis vor.

3. Einheit von Führung und Selbsttätigkeit

Zum heuristischen Begriff des Unterrichts

In geschichtlicher Perspektive lässt sich ein Begriff des Unterrichts offenbar nur auf heuristischem Weg finden (Sünkel 2011). Geht man davon aus, dass das Phänomen der Arbeit in der Reproduktion der menschlichen Gattungsexistenz und das Phänomen der Erziehung in der Generationsfolge gründen, dann kann man sagen: Arbeit und Erziehung existieren seit dem Bestehen der Menschheit, Unterricht dagegen nicht. Unterricht ist im geschichtlichen Prozess entstanden „und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, als das objektive Problem entstand, welches zu seiner Lösung Unterricht erforderlich machte“ (Sünkel 2002, 32).
Der Rekonstruktionsprozess der Phänomene Arbeit, Erziehung und Unterricht kann – mangels Quellenkenntnis – von seinem Anfang an nicht nachgezeichnet, wohl aber begrifflich erschlossen werden. Auch wenn die konkrete Geschichte des Entstehens des Unterrichts nicht bekannt ist, kann die Bogenschnitzerparabel als Erkenntnisinstrument dienen. Eduard Spranger hat die Parabel erzählt, um das Wesen des Unterrichts zu veranschaulichen. Die Parabel zeigt die historische Geburt des Unterrichts: Irgendwann und irgendwo schaut ein Knabe dem Bogenschnitzer bei seiner Arbeit zu. Der Knabe entwickelt wachsendes Interesse, will den Bogen schnitzen und orientiert sich an der Kunst des Bogenschnitzers. Er probiert, macht Fehler und bemerkt die Kompliziertheit des notwendigen systematischen Arbeitens. Wie kompliziert diese Arbeit ist ,wird dem Bogenschnitzer klar, als er sich erinnert, wie viel er selbst probieren und verwerfen musste, um den Stand seiner Kunst zu erreichen. Bald zeigte sich, dass dieses Ganz-von-vorn-Beginnen eine bestimmte Zeit braucht. Der Knabe kam, der Bogenschnitzer unterbrach seine Arbeit und widmete sich der Unterweisung des Knaben. Er führte ihn
- in die Kenntnis der Materialien ein und wie man sie gewinnt, sowie
- in die Kenntnisse der Werkzeuge und wie man sie herstellt.

Er zeigte dem Knaben die Handgriffe, Konstruktionen und Schnitte, zuerst die einfachen, dann die schwierigeren und ließ ihn das alles an dem verdorbenen Bogen und anderem wenig wertvollen Material solange üben und anwenden, bis er zu ernsthaften Konstruktionen und Schnitten am wertvollen Material fähig war. Dabei gewann der Bogenschnitzer neue Erkenntnisse und Einsichten in den systematischen Aufbau seiner Kunst. Und wie er früher über Verbesserungen des Bogenschnitzens nachgedacht hatte, so dachte er jetzt darüber nach, wie er den Knaben besser und sicherer in diese Kunst einführen könnte.
Als der Knabe den ersten vollständigen Bogen hergestellt hatte, da freute sich der Bogenschnitzer mit ihm, obwohl der Bogen viel schlechter war als der von Meisterhand gefertigte. Er fuhr mit dem Unterrichten fort, der nächste Bogen geriet schon besser. Und nach einigen Jahren hatte der Knabe den Stand der Kunst seines Lehrers erreicht. Von nun an arbeiten beide Bogenschnitzer miteinander. „Die Einsicht in den Aufbau der Bogenschnitzkunst, die sie durch den Unterricht gewonnen haben, nahmen sie zur Grundlage, um neue Verbesserungen der Kunst zu erfinden“ (Sünkel 2002, 37).
Das Beispiel lehrt: Das Interesse des Lernenden ist die bewegende Kraft des Unterrichts. Und das Interesse des unterrichtenden Bogenschnitzers zeigt zwei Richtungen: Es ist auf das Herstellen des Bogens gerichtet; dabei versucht er das Herstellen mit den Augen des Knaben zu sehen. Sein Interesse ist aber auch auf das situative Handeln des Knaben konzentriert. Dieses ambivalente Interesse richtet sich weder auf das Bogenschnitzen-Können noch auf den Knaben direkt, „sondern auf das, was sich zwischen diesen beiden situativen Positionen abspielt: auf das Interesse also und das Handeln des Knaben, welch letzteres seinerseits auch nicht mehr ein Handeln in Bezug auf den Bogen ist, sondern in bezug auf den Komplex der zu seiner Herstellung erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse“ (Sünkel 2002, 63).

Zum Unterricht

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sowohl im Unterricht in inklusiven Klassen als auch in der akademischen Lehre der „sachlich-fordernde und der helfend-entwickelnde Charakter des Lehrens“ (Sünkel 2002, 17) notwendig sind. Die fordernde und helfende Lehrerhaltung hat beim Schüler mit Behinderung die Aneignungsdisposition sorgfältig diagnostisch zu ermitteln. Beim Unterricht in all seinen Erscheinungsformen geht es also um die Leitung und Unterstützung der Selbsttätigkeit des Schülers in intersubjektiven Situationen im Prozess der Selbstkonstitution.

Zum gemeinsamen Unterrichtsgegenstand

Die in der Parabel aufgeworfene Frage kann so beantwortet werden: Unterrichtsgegenstand ist weder der Bogen selbst noch seine Herstellung, „sondern die objektivierte, unabhängig von der realen Bogenproduktion formulierbare Disposition zur Herstellung des Bogens: die Bogenschnitzkunst. Diese besteht aus einzeln identifizierbaren Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven, denn man muss, um einen Bogen zu machen, Bestimmtes wissen, können und wollen“ (Sünkel 2002, 69). Als Aufgabe konstituiert also der Unterrichtsgegenstand in seiner Strukturvielfalt das Handeln des Schülers als Aneignung und das Handeln des Lehrers als Vermittlung. Bei der Vermittlungsarbeit ist vor allem Martin Wagenscheins genetische Methode bedeutsam, der es um ein Zurückverwandeln des Sachzusammenhangs in die Ursprungssituation geht. Hier rekonstruiert der Schüler subjektive Dispositionen für die Aneignung des Gegenstandes (Wagenschein 2008).

Zum Schüler

Unterricht realisiert sich durch die Arbeit des Schülers. Die Schülerarbeit besteht im Aneignen des Unterrichtsgegenstandes, bei der das Interesse des Schülers der Motor ist. „Aneignung des Gegenstands ist die subjektive Rekonstruktion der vorgegebenen objektivierten Tätigkeitsdisposition“ (Sünkel 2002, 81). Diese, im inneren System des Schülers wirksam werdende Selbstkonstitution ist Schülerarbeit. Hier verrichtet der Schüler eine gesellschaftlich notwendige Arbeit. Er ist deshalb ein vollwertiges Glied des Systems der gesellschaftlichen Arbeit. „Seine Würde kommt dem Schüler als Schüler zu, unabhängig von seinem Alter und seinen anderen individuellen Merkmalen“ (Sünkel 2002, 47). Der Schülerarbeit, ganz gleich auf welchem Niveau, kommt also gesellschaftlicher Primat zu. Darauf beruht die Würde des Schülers.

Zum Lehrer

Der Lehrer hat ein zweifaches Vermittlungsinteresse, das sich auf den Unterrichtsgegenstand (gegenständliches Interesse) und auf den Schüler (persönliches Interesse) richtet: Er

- versucht den Gegenstand mit dem Kopf, dem Herz und der Hand des Schülers zu sehen und
- bemüht sich, dem bereits vorhandenen oder vermuteten Schülerinteresse mit Empathie zu entsprechen und zu einem

„vielseitigen Interesse“ (Herbart 1986, 90), das nach allen Richtungen ausgreift, werden zu lassen.
Beim gegenständlichen und persönlichen Interesse des Lehrers handelt es sich eigentlich um ein Interesse, nämlich um das Interesse an der „Aneignungsarbeit des Schülers und der ihr zugrundeliegenden und sie begleitenden Interessebeziehung zwischen Schüler und Unterrichtsgegenstand“ (Sünkel 2002, 99). Bei dieser Ambivalenz des Lehrerinteresses kann eine logotrope Valenz, d.h. eine dem Unterrichtsgegenstand zugewandte Valenz, und eine paidotrope Valenz, d.h. eine dem Schüler zugewandte Valenz unterschieden werden. Bei der logotropen Valenz geht es in der Vermittlungsarbeit um die Artikulation des Gegenstandes, um die didaktische Strukturierung mit der Absicht, dem Schüler das Aneignen zu ermöglichen. Bei der paidotropen Valenz geht es um die Organisation der Aneignungsarbeit, die prinzipiell Sache des Schülerhandelns ist.

Es ist Aufgabe des Lehrers, die innere Welt des Schülers, seine Wirklichkeitskonstruktion, soweit wie möglich zu verstehen und für sich zu rekonstruieren, um auf dieser Grundlage eine Lernumgebung zu gestalten, die es dem Schüler ermöglicht, an seine Wirklichkeitskonstruktion anzuknüpfen und sich nach seiner individuellen Perspektive zu entwickeln. Das Handeln des Lernenden bedarf der planenden Voraussicht, der Hilfe und Unterstützung, der Anregungen und Vorschläge des Lehrers. Deshalb ist der Grundcharakter der Lehrerarbeit als handlungsbezogenes Handeln zu bestimmen.

Zusammenfassung

Im Verständnis des Fundamentalprinzips des handlungsbezogenen Handelns ist das unterrichtliche Handlungsziel des Lehrers, seine Vermittlungsarbeit also, das selbsttätige Handeln des Schülers. Das Lehrerinteresse, sein gegenständliches Interesse und sein persönliches Interesse, ist auf die Aneignungsarbeit des Schülers S und die Interessebeziehung zwischen Schüler und Gegenstand G bezogen. Dieses Interesse oszilliert zwischen beiden Polen (Abbildung) und realisiert sich durch das handlungsbezogene Handeln.

4. Konkretisierung: „Recht und Gerechtigkeit als Gegenstand gemeinsamen Lernens“

Die Struktur des Didaktischen Dreiecks veranschaulicht, dass Lernende des Lehrers bedürfen, „weil sie als relationale Subjekte immer schon auf Andere und anderes bezogen sind und sich erst aufgrund dieser Bezüglichkeit als Eigenrelation kennen lernen können“ (Stinkes 2001, 277). Diese Bezüglichkeit zeigt das folgende Beispiel, das auf das Hamburger Projektstudium zurück geht: Thomas Hoffmann hat das Gerichtsprojekt „Recht und Gerechtigkeit als Gegenstand gemeinsamen Lernens“ mit geistig behinderten Schülern und Schülerinnen gewagt, das sich aus Spielsituationen 11- bis 12jähriger Kinder entwickelt hat. Hoffmann ließ sich dabei von Korczaks Idee des Kameradschaftsgerichts mit seinen 99 verzeihenden und 10 bestrafenden Paragraphen und Piagets Gedanken zum „Self-Government“ leiten (Beckmann/Hoffmann/Zimpel 2001).
Die pädagogische Aufgabe wurde nicht darin gesehen „die Kinder zu einem bestimmten sozialen Lernziel zu führen, sondern ihrem erwachten Interesse für das Thema ’Recht’, die geeigneten kulturellen Mittel zur Verfügung zu stellen“ (ebd., 3). Hoffmann konnte zeigen, dass die Schüler und Schülerinnen ein Verantwortungsgefühl und Urteilsvermögen entwickelten, die in dieser Intensität nicht erwartet wurden: Mit großem Ernst suchten und fanden sie in den Verhandlungen gerechte Urteilssprüche. Offenbar wurde ihr Gefühlsquotient angesprochen, der sie zur sozialen Orientierung und zum sozialen Handeln motivierte. Damit konnte ein Vorurteil widerlegt werden, dass jungen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein mangelndes Verantwortungsgefühl und geringes Urteilsvermögen zuschreibt. Hoffmann machte Entdeckungen, die an Herbarts „Charakterbildung zur selbstbewussten Persönlichkeit“ (Herbart 1986, 60 ff) erinnern. Das Protokoll einer Sitzung, das den Ablauf einer Gerichtsverhandlung illustriert, lässt eine basale Didaktik erkennen, die an den Interessen der Lernenden anknüpft und Interesse am Gegenstand erzeugt. Das Gerichtsprojekt lehrt, wie den jungen Persönlichkeiten ermöglicht werden kann, ihre Interessen in die gemeinsame Situation einzubringen und zu einem vielseitigen Interesse zu entwickeln.

5. Fazit: In intersubjektiven Zusammenhängen lernen, lehren und forschen

a. Überträgt man die eben erörterten intersubjektiven Erfahrungen auf die allgemeine Unterrichtssituation, dann kann man sagen: Der Erwachsene (Lehrende, Unterrichtende, Erziehende, Begleiter, Betreuer) hat sich dem anderen Menschen (Lernenden, Schüler, Zu-Erziehenden) bei seiner Aneignungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Er bildet für ihn eine nahe Umgebung dergestalt, dass sich der Lernende die gegenständliche Welt aus eigenem Interesse aneignen kann. Die nahe Umgebung ist nichts anderes als die Beschaffenheit der handelnden Erzieherpersönlichkeit. Diese Sichtweise übersteigt das traditionelle Verständnis von Unterricht als herstellendes Machen und begleitendes Wachsenlassen und lässt sich in intersubjektiven Lernsituationen als Selbstkonstituierung des Menschen-mit-dem-Menschen begreifen.
b. Die oben skizzierte pädagogische Praxis und Forschung zeichnet eine erkennende Einstellung und Haltung aus. Bekanntlich hat Jörg Schlee (2001) der sonderpädagogischen Wissenschaftsentwicklung eine ausgesprochene Rückständigkeit bescheinigt: Ihre Theoriebildung sei defizitär, weil sie beschreibende (deskriptive) und bewertende (präskriptive) Begriffe miteinander vermenge. Schlee geht von der Annahme aus, dass die Pädagogik durch Begriffe anderer Disziplinen in ihrem wissenschaftlichen Anspruch aufgewertet werde. Das Gegenteil ist der Fall.
c. Praxis, Lehre und Forschung, die sich am pädagogischen Fundamentalprinzip des handlungsbezogenen Handelns orientieren, ermöglichen das Erörtern unterrichtlich bedeutsame Lebens- und Lernzusammenhänge mit pädagogisch relevanten Begriffen in einem immer wieder sich erneuernden Prozess. Dabei darf im Hinblick auf die heute im Zentrum der wissenschaftlichen und praktischen Diskussion stehenden inklusive Erziehung und Bildung nicht übersehen werden: Solange die Allgemeine Pädagogik und Didaktik Kinder mit Behinderungen aus ihren Überlegungen ausschließt, „lässt sie das Bemühen vermissen, einen umfassenden Begriff ihrer selbst und den reinen Begriff der Erziehung auch nur suchen zu wollen“ (Klein 1979, 308 und 1985).

LITERATUR

Beckmann, W./Hoffmann, Th./Zimpel, A. F. (2001): Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Unveröffentlichtes Manuskript. Universität Hamburg.
Erziehungswissenschaft (2000): Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: Ernst-Christian-Trapp-Preis, In Erziehungswissenschaft 11, Heft 22, 66–67.
Herbart, J. F. (1986): Systematische Pädagogik. Eingeleitet, ausgewählt und interpretiert von Dietrich Benner. Stuttgart, Klett-Cotta.
Hopfner, J./Winkler, M. (2004): Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft. Weinheim, Juventa.
Klein, F. (1979): Die häusliche Früherziehung des entwicklungsbehinderten Kindes. Ein Beitrag zur pädagogischen Praxis. Bad Heilbrunn, Klinkhardt.
Klein, F. (1985): Janusz Korczak – Hilfe bei der Suche des reinen Erziehungsbegriffs für die heilpädagogische Schulpraxis. In Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 54, Heft 1, 3-14.
Klein, F. (1989): Unterricht mit geistig behinderten Schülern. Erörterung grundlegender Strukturzusammenhänge unter besonderer Berücksichtigung der Methode. In Geistige Behinderung 28, 88-101.
Klein, F. (1997): Heilpädagogik in der ‘Wendezeit‘ – Perspektiven der Rehabilitationspädagogik. In Zeitschrift für Heilpädagogik 58, 354-360.
Klein, F. (2004): Das pädagogische Fundamentalprinzip des handlungsbezogenen Handelns. In Schnoor, H./Rohrmann, E. (Hrsg.), Sonderpädagogik: Rückblicke – Bestandsaufnahmen –Perspektiven (341–350). Bad Heilbrunn, Klinkhardt.
Litt, Th. (1967): Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Stuttgart, Klett-Cotta.
Schlee, J. (2001): Ist die sonderpädagogische Forschung in Deutschland provinziell und rückständig? In Zeitschrift für Heilpädagogik 52, 331-334.
Stinkes, U. (2001): Das Kind als „Subjekt seines eigenen Handelns“: Kritische Anmerkungen zur Illusion einer Subjektpädagogik. In Schell, H. (Hrsg.), Selbstgestaltung in der Sonderpädagogik. Begegnungen mit Hansjörg Kautter (269-279). Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter.
Sünkel, W. (2002): Phänomenologie des Unterrichts. Grundriss der theoretischen Didaktik. 2. Aufl., Weinheim, Juventa.
Sünkel, W. (2011): Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung. Band 1, Weinheim, Juventa.
Wagenschein, M. (2008): Verstehen lehren. 4. Aufl., Weinheim, Beltz.

Ferdinand Klein, Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c.
Ferdinand Klein, geb. 1934, Volksschullehrer, Heil- und Sonderpädagoge, heilpädagogische Praxis (1963-1980), Rektor der Erlanger Lebenshilfe-Schule und Ausbildungsleiter für heilpädagogische Fachkräfte im Regierungsbezirk Mittelfranken. Tätig an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg (Aufbaudirektor des Instituts für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen. Nach Emeritierung (1997) Gastprofessor an der Masaryk-Universität Brno, Comenius-Universität Bratislava und von 2005 bis 2014 an der im Jahre 1900 gegründeten weltweit ältesten Hochschule für Heilpädagogik: der Gusztáv-Bárczi-Fakultät für Heilpädagogik der Eötvös-Loránd-Universität Budapest.

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