Thema der Ausgabe 6/2020:

Inklusive Sozialgestaltung

Sobald jemand jedoch anthroposophisch orientierte Gemeinschaften näher kennenlernt, wird er stutzig. Wird hier nicht Inklusion gelebt, von der so oft nur gesprochen wird?
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Inklusive Sozialgestaltung

Es gibt viele Gründe, sich mit der Idee der Anthroposophie nicht zu befassen oder sie abzulehnen. Sie ist in einem speziellen historischen Kontext entstanden, ihre Diktion ist manchmal irritierend und es gibt Verfechter der „reinen Lehre“, die unnahbar erscheinen. Sobald jemand jedoch anthroposophisch orientierte Gemeinschaften näher kennenlernt, wird er stutzig. Wird hier nicht Inklusion gelebt, von der so oft nur gesprochen wird? Die vorbehaltlose Anerkennung der Individualität spürt man in jeder Begegnung. Die Qualität der Beziehung steht im Vordergrund, nicht die eine oder andere Eigenschaft des einzelnen Menschen. Wir finden Lebensformen, die nicht für jemanden, sondern gemeinsam geschaffen werden, eingebunden in den Rhythmus der Zeit, verwoben in sinnvoller Arbeit, künstlerischem Tun und einer hohen Ethik für das Lebendige.

Dan McKanan öffnet uns die Tür zu einer Camphill-Gemeinschaft. Camphill war anfangs ein Experiment der radikalen Inklusion. Heute ist es eher ein Modell der „umgekehrten Inklusion“, das den Blick in die Zukunft erweitern muss. Diese Vision einer heilenden Gemeinschaft setzte vor 80 Jahren eine kleine Gruppe von Flüchtlingen aus Wien rund um Karl König in die Tat um. Richard Steel zeichnet den Weg dieser Pioniergruppe nach, deren Geist heute weltweit konkrete Formen angenommen hat.
Vor knapp 100 Jahren hat Rudolf Steiner den „Heilpädagogischen Kurs“ in der Schreinerei neben dem abgebrannten Goetheanum in Dornach gehalten. In seinem Vorwort zur kürzlich erschienenen chinesischen Ausgabe hebt Wolf-Ulrich Klünker Steiners Neubestimmung des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein, Erleben und Leben hervor. Das Ich wird in seinem Denken als leibschaffende Kraft begriffen, was jüngste hirnphysiologische Forschungen untermauern.
Jan Göschel skizziert die gemeinsame Zukunft der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Sie liegt weniger in einem Programm, sondern in einer inneren Haltung und Orientierung auf den Menschen hin, die individuelle soziale Kreativität ermöglicht und freisetzt.
Rüdiger Grimm bringt Individualität, Selbstbestimmung und soziales Selbst in Beziehung. Es gehört zu den Entwicklungsdimensionen des „Ich“, dass es sich immer mehr zu einem „sozialen Ich“ entwickelt, das die freie Begegnung mit dem anderen Menschen ermöglicht.
Die anthroposophische Heilpädagogik entwickelte sich aus der Einsicht, dass der Mensch ein „geistiges Wesen“ sei, das in seiner Individualität gar nicht behindert oder krank sein könne, so Ulrike Barth. Daher gibt es auch keine behinderungsspezifische Anthropologie, doch es ist auch Zeit, sich heute um neue Lebensformen zu bemühen.
Wie wird aus dem Anderen eine Freundin, ein Freund? Diese Frage beschäftigt Christiane Drechsler. Dabei genügt nicht die Abschaffung physischer Barrieren – erst durch Gemeinsamkeiten entstehen jede Menge Geschichten über das Leben miteinander, über Annäherung und Entfremdung, aber auch über den Gewinn, den ein Mensch für sein Leben haben kann, wenn er sich auf Unbekanntes einlässt.
Inklusion erweist sich als die soziale Dimension der großen Idee von Ökologie, so Manfred Schulze. Es reicht aber nicht, ökologisch und inklusiv zu denken, sondern es sind dazu auch die notwendigen Handlungsfähigkeiten auszubilden und zu üben.
Wir benötigen Ideen für die Zukunft, Richtkräfte einer neuen Gesellschaft. Anhand der Tafelbilder von Joseph Beuys und Rudolf Steiner ruft Walter Kugler zu neuen Sichtweisen auf, unser Denken nicht durch eine Informationsflut überwuchern zu lassen, sondern es mit Wärme, Imagination und Intuition anzureichern. Für Steiner sollte der Labortisch zum Altar werden, für Beuys finden die Mysterien am Hauptbahnhof statt. Für beide gibt es kein Begreifen des Göttlichen ohne die Andacht zum Kleinsten – zum Alleralltäglichsten.
Ein informatives Kaleidoskop zeichnet Gerhard Einsiedler. Es sind vielstimmige Blicke in das Gemeinschaftsleben. Er wird am Loidholdhof warmherzig empfangen und fühlt sich dort sichtlich wohl. Wir erfahren von neuen, oft außergewöhnlichen Wegen, von Werkstatt-Räten und vom Einsatz für andere, von beispielhafter Arbeitsintegration und persönlichen Glücksgefühlen.
Inklusion und Partizipation erfordern viele Zugänge. Es gibt nicht den einen Weg. Was wirklich zählt, ist, dass wir eine eigene Haltung gewinnen, die unser Handeln stützt.
Distanz ist in diesen Zeiten die neue Nähe, Berührung gilt als Quelle der Bedrohung. So notwendig derzeit Abstand ist, so zeigt sich immer deutlicher: Der Mensch braucht Nähe und Berührungen. Wo könnte das intensiver stattfinden als in solchen Gemeinschaften?

 

Inhalt:

Artikel
Inklusive Sozialgestaltung
Individualität, Selbstbestimmung und soziales Selbst
Inklusion als Orientierung – Transformation von Sozialräumen
Inklusionspartnerschaften als Modell einer gelebten Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung
Inklusion groß denken
Richtkräfte einer neuen Gesellschaft
Camphill und die Zukunft
Vision einer heilenden Gemeinschaft
Vorschläge aus dem Beratungsalltag
Schuld sind immer die Eltern? – Eine Erwiderung
Der Heilpädagogische Kurs
Kunst aus der „Malerverksted“
Leben im sozialen Miteinander
Ohne Motivation kein Lernen
Die Dorfgemeinschaft als individuelle Lebensform
Außer wohnlich: Außergewöhnlich
Gemeinsam bei der Feuerwehr
Begegnung auf Augenhöhe
„Ich kämpfe für die Beschäftigten"
Mein Einsatz für andere
Das Humanushaus–ein Lebens-Raum
Ich bin glücklich
Ich will nicht mit Behinderten arbeiten
Auf dem Weg zum wahrhaftigen Ich
Nullschwellen sind Regelfall
Auf dem Golfplatz
Blinde Flecken inklusive?
Atelier Inklusiv