Thema der Ausgabe 4/5/2020:

Tiefenhermeneutisches Verstehen

„Die Seele ist ein weites Land und ein tiefes Meer.“
(Josef Fragner, Chefredakteur)

 

Intro:

Josef Fragner, Chefredakteur

Tiefenhermeneutisches Verstehen

Die Seele ist ein weites Land, heißt es in Arthur Schnitzlers Stück „Das weite Land“. Sie ist auch ein tiefes Meer, müsste man hinzufügen. Wir versuchen zwar Ordnung in uns Menschen hineinzubringen, wir analysieren und kategorisieren, bewegen uns dabei meist auf einer trügerischen Oberfläche. Die dunklen Ecken und die unendliche Vielfalt unterhalb bleiben dabei verborgen und unverstanden.

Szenisches Verstehen, ein Ansatz des Psychoanalytikers Alfred Lorenzer in den 1970er Jahren entwickelt, soll in tiefere Schichten vordringen und auch Fehler einer naiven Anwendung der Psychoanalyse vermeiden. Jene, die verstehen wollen, müssen mit denen, die verstanden werden sollen, in szenischer, nicht nur sprachlicher Verbundenheit stehen. Aloys Leber hat diese Gedanken in die Heilpädagogik geholt. Er versuchte, hinter Phänomenen wie Behinderungen „eine – wenngleich dem Bewusstsein des Subjekts – verschlossene Bedeutung“ zu entschlüsseln. Manfred Gerspach, der dieses Heft umsichtig kuratiert hat, versammelt hier Autorinnen und Autoren der „Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik“, deren Fokus darauf gerichtet ist, wie wir dem eigenen Denken und Fühlen entfremdet werden, aber auch, wie wir uns den herrschenden Verhältnissen entziehen und widersetzen können.
In seinem Beitrag plädiert Manfred Gerspach für ein tiefenhermeneutisches Verstehen, das die verborgenen Dimensionen von Phänomenen wie Auffälligkeiten und Behinderungen ans Licht bringt, um eine ins Stocken geratene Entwicklung gemeinsam aus der Erstarrung zu lösen.
Die Arbeitsgruppe „Szene und Affekt“ kultiviert in der Gruppe eine Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, die auch auf die eigenen Affekte achtet. Jonas Becker interpretiert biographisch-narrative Interviews, um auf die Spuren des Psychischen im Sozialen zu stoßen.
Carolin Marschall sucht Zugänge und Brücken zu einem fördernden Dialog. Dabei gilt es, die sicher geglaubte Burg des Wissens zu verlassen und sich die eigene Verwundbarkeit einzugestehen. Yandé Thoen-McGeehan vergleicht zwei unterschiedliche Gruppen: eine mit und eine ohne Erfahrung mit dieser Methode. Beide Gruppen lassen sich durch unverstandene Affekte schnell zu einer individuellen Pathologisierung hinreißen, ohne an den Lebensgeschichten den Abdruck der gesellschaftlichen Bewegung zu ergründen.
Anhand eines Interviews mit Mike, der die Diagnose ADHS hat, zeigt Sebastian Jentsch, dass oft nur eine „leere Symptomsprache“ verwendet wird, die eher nach einem Übersetzer fragt als nach Medikamenten. Marian Kratz ist beeindruckt von der Figur der 9-jährigen Benni im Film „Systemsprenger“. Eine emotional hervorgerufene „erträumte Erkenntnis“ kann eine Einstiegsluke zu uns oft fremden Sinnebenen öffnen.
„Wie soll ich das verstehen?“, fragen Gertraud Heigl und Barbara Senckel am Beispiel von Herrn B. Das eigene unmittelbare Erleben dient oft zur Entschlüsselung von Verhaltensweisen anderer. Dabei verstricken wir uns in ein schier unauflösliches Gewirr von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen. Diese psychische Dynamik gilt es im Dialog reflexiv auszuleuchten.
Umrahmt wird der Themateil wieder von einem bunten Magazinteil. Schillernd – für manche sogar schrill – die Gruppe Drag Syndrome, vorgestellt von Fabian van Essen. Die Mitglieder dieser Gruppe bewegen sich in einer Welt, in der unsere herkömmlichen Bilder verfließen. Wir brauchen solche Bilder, die durch Risse einer betonierten oberflächlichen Wahrheit hervorlugen, eine Melodie vernehmen lassen, die wir noch nie zuvor gehört haben. Vielleicht entstehen hier Erzählungen, die zu einer gemeinsamen Geschichte anwachsen, weil sie auf Gemeinsamkeiten aufbaut.

 

Inhalt:

Artikel
Tiefenhermeneutisches Verstehen in der Sonderpädagogik
Szene und Affekt
Spuren des Psychischen im Sozialen
„Man muss ja immer noch professionell sein“
Abwehr und Widerstand im Forschungsprozess
Tiefenhermeneutik und Analysepraxis
Erträumte Erkenntnis
Wo Ärzte auch Kartoffeln schälen
Wollen wir Social Robots oder Social Humans?
Stumme Kinder
Wer bezahlt polizeilich veranlassten Rettungseinsatz?
Scheitern heißt begegnen und Begegnung ist ein Gewinn
Mutter
Machu Picchu im Regen – oder wie ich lernte, Inka-Cola zu lieben
„Vorurteile mag ich überhaupt nicht!“
Ein Weg zur inklusiven tertiären Bildung
Engagierter Einsatz und langer Atem
Selbstbestimmt leben – 100 Jahre Behindertenbewegung
Wie wirksam sind Schlichtungen?
Andy und Andi – Zwei Schwimmer auf Erfolgskurs
Geheimnisse des Weltalls über das Gehör entschlüsseln
Herr Groll will auswandern
Drag Syndrome bricht Tabus und macht Mut
„Wenn ich mit anderen Kindern spiele – das macht mich glücklich