Der rollstuhlfahrende Autor hat seine Freundin am Schoß. Beide lachen freudig und zeigen in die Landschaft. Hinter den beiden sieht man die Felsfor...

Unendliche Weiten, bizarre Felsformationen und dramatische Schluchten - die Reise führte Reinfried und Brinda durch atemberaubende Szenerien tief in den Südwesten der USA.

Foto: Reinfried Blaha
aus Heft 2/2018 – Grenzenlos Reisen in den USA
Reinfried Blaha

Ein Roadtrip auf acht Rädern

Inspiriert von den Karl May Geschichten faszinierten mich die Landschaften der US-amerikanischen Nationalparks schon als Kind. Fast 30 Jahre später mache ich mich mit meiner Freundin Brinda auf, diesen Teil der Welt zu erobern. Allerdings kann ich ihn nicht erkunden wie Winnetou. Ich sitze nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Rollstuhl.

Die sommerliche Nachmittagssonne wärmt meinen Körper. Ich rekle mich in meinem Liegestuhl, die Beine dem kleinen Pool entgegengestreckt und warte auf Brinda, die gerade von einem Spaziergang zurückkommt. Erschöpft von den abenteuerlichen Ereignissen der letzten Wochen gönnen wir uns hier in Ouray eine kleine Auszeit von unserer Reise durch den Südwesten der USA.

Ouray war ein Stammesführer der in den Bergen Colorados ansässigen indigenen Bevölkerung der Utes. Europäische Goldgräber, die hier wertvolle Erzvorkommen erschlossen, benannten zwar die kleine Bergbaustadt nach ihm, nahmen den Native Americans aber ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage. Die kleine Stadt liegt am Fuße des Million Dollar Highways und ist heute für die pittoreske Lage und ihre Thermalbäder bekannt. Die heiße Quelle in der unterirdischen Zeremonienhöhle der Utes (über die weiße Siedler vor rund 250 Jahren ein Badehaus bauten) kennen wenige Touristen. 

Als die Sonne hinter den mächtigen Bergrücken der Rocky Mountains verschwindet und es kühler wird, wollen Brinda und ich dorthin. Nur eines gilt es noch zu klären: Wie komme ich in diese Felsgrotte hinunter? Ich bin seit einem Schiunfall im Jahr 2006 von meiner Brust abwärts gelähmt, rolle mit einem Rollstuhl durch mein Leben und komme ohne starke Tragekraft sicher nicht ans Wunschziel.

Gerade als ich mich aus dem Liege- in den Rollstuhl schwinge, höre ich jemanden mit breitem amerikanischen Akzent rufen: „Rainfraiiid??“ Ich schaue auf und in das Gesicht eines Fremden: „It’s David – from Arches!“ Ich fasse es nicht! Dieser kräftige, junge Mann hat mich vor einer Woche (mit Sonnenbrille und Hut getarnt) auf und ab durch den Arches Nationalpark geschoben. So konnte selbst ich den Landscape Arch, einen 100 Meter langen natürlichen Felsbogen inmitten einer bizarren Gesteinslandschaft, aus nächster Nähe bewundern. Auch diesmal ist es David, der mich mühelos die engen Treppen hinab in die Stille der dunklen, dampfenden Becken trägt, wo ich zwischen bizarren Felsformationen die 1000-jährige Mystik dieser heiligen Räume inhaliere. Ich bin dem Universum für diese Fügung unglaublich dankbar – und fühle mich wie Chief Ouray selbst. 

Mit dem Rollstuhl zu reisen bedeutet immer, Kompromisse zu machen. Vieles ist möglich, vieles nicht. Ganz klar ist das im Voraus nie und zeigt sich oft erst direkt vor Ort. Über die Jahre lernte ich, mit den Blickwinkeln zufrieden zu sein, die sich mir als nicht-gehendem Besucher bieten, auch wenn mir der Besuch von so mancher Sehenswürdigkeit verwehrt bleibt. Aber ich fand auch heraus, dass ich mich von unmöglichen Situationen nicht abschrecken lassen darf. Viele Barrieren sind real und solide, aber andere scheinbar unüberwindliche Situationen existieren oft nur in unseren Köpfen. Ich werde niemals wissen, was alles möglich ist, wenn ich es nicht einfach ausprobiere. Das Vertrauen, dass es schon irgendwie klappen wird, manifestierte sich bereits öfters in überraschend auftauchenden Lösungsansätzen, hilfsbereiten Mitmenschen oder bislang unentdeckten Hintertürchen.

Barriere-Freiheitsgefühl

Von Los Angeles ausgehend fuhren Brinda und ich vier Wochen lang immer weiter ostwärts in die Tiefen des Kontinents hinein. Vorbei an Las Vegas, der Hauptstadt des Glückspiels und des „Ein-Bisschen-Zu-Viel-Von-Allem“, führte uns unsere Reiseroute entlang der legendären Route 66 nach Arizona, dann quer durch Utah und Colorado, um uns schließlich in die Wüstenstadt Santa Fe, New Mexico zu bringen.

Meine Erwartungen hatte ich diesmal bewusst niedrig gehalten, denn die Hauptziele unserer Tour waren Naturschönheiten in Nationalparks, die sich am besten zu Fuß erwandern ließen. Wir staunten nicht schlecht, wie barrierefrei sich dann die einzelnen Parks präsentierten. Überall gab es gut geschultes und informiertes Personal, für Rollstühle ausgeschilderte Wanderwege oder Shuttlebusse, die mit fahrzeuggebundenen Hebeliften ausgerüstet waren. Wenn das nicht der Fall war, bekamen wir gleich die PKW-Einfahrtserlaubnis für die Bereiche, wo ansonsten keine privaten Fahrzeuge erlaubt waren. So genossen wir am Hopi Point im Grand Canyon einen der einprägsamsten Sonnenuntergänge unseres Lebens in einer der majestätischsten Landschaften dieses Planeten, ohne uns zur Rückreise für den Shuttlebus anstellen zu müssen. Die Reise durch die USA war außerdem die erste, bei der ich mir keine Sorgen machen musste, ob bzw. wo ich das nächste Mal in ein stilles Örtchen passen würde – jede einzelne Toilette war rollstuhltauglich, egal ob in Casinos, Tankstellen, Supermärkten, Sport-Clubs oder Restaurants. Selbst die Plumpsklos auf einsamen, verlassenen Parkplätzen in der Wüste entsprachen den ADA-Standards. 

Americans with Disabilities Act 

ADA – ein Zauberwort! Der Americans with Disabilities Act ist weltweit eines der umfassendsten Gesetze für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Ermutigt vom Civil Rights Movement und angefeuert durch die versehrt heimkehrenden Veteranen des Vietnamkriegs, begann die Behindertenrechtsbewegung in den USA bereits in den 60er Jahren für Gleichberechtigung, Barrierefreiheit und selbstbestimmtes Leben zu kämpfen. Während Österreich und Deutschland (teilweise zahnlose) Gleichstellungsgesetze im Jahr 2006 verabschiedeten, ist der ADA mit all seiner Durchschlagskraft bereits seit 1990 ein wirksames Werkzeug für Veränderung in sämtlichen Lebensbereichen! Während die OIB-Richtlinien, welche in Österreich unter anderem die bauliche Barrierefreiheit von Gebäuden regeln, noch immer nicht in allen Bundesländern für verbindlich erklärt wurden, sind in den Vereinigten Staaten öffentliche Gebäude schon seit 1968 (!) barrierefrei zu gestalten und öffentliche Verkehrsmittel seit 1970. In diesen Belangen sind uns die Vereinigten Staaten weit voraus.

Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dieser Thematik auf einer breiten gesellschaftlichen Basis prägt nicht nur die Barrierefreiheit von Gebäuden, sondern war für Brinda und mich auch in einem sozialen Aspekt spürbar: Es gibt eindeutig weniger Berührungsängste. Oft sprachen mich fremde Menschen direkt an und fragten, warum ich im Rollstuhl sitze. Diese Offenheit kenne ich in Mitteleuropa nur von Kindern, deren frischen, unkomplizierten Umgang mit scheinbarer oder offensichtlicher Andersartigkeit ich sehr schätze. Gleichzeitig fühlte ich mich im öffentlichen Raum „normaler“ weniger beobachtet oder speziell behandelt. Das war für mich ein Ausblick in eine mögliche Zukunft, in der sich diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit besonderen Menschen auch in unserer Gesellschaft entwickeln könnte. 

Where The Streets Have No Name“

Obwohl sich das Reisen durch die USA komfortabler als in weniger entwickelten Ländern gestaltete – ohne Brindas tatkräftige Unterstützung wäre diese Reise für mich undenkbar gewesen. Als Accessibility-Scout prüfte sie die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit unserer Übernachtungsmöglichkeiten, hob und schob mich über Stufen, Stock und Stein, be- und entlud das Auto und schleppte meine Koffer. Diese kamen jedoch zuerst gar nicht in Los Angeles an! Ich bin auf solche Eventualitäten vorbereitet und trage alles bei mir, was ich kurzfristig benötige. Als meine Reisetaschen trotz heftiger Intervention nach drei Tagen noch immer nicht angekommen waren und sich mein Vorrat an Kathetern und Insulin zu Ende neigte, machte ich mir ernsthafte Sorgen, ob ich in Kürze nicht in der Notaufnahme des nächsten Spitals landen würde. Gerade als ich mir das bildhaft auszumalen begann, trudelten sie ein – und unser Roadtrip konnte beginnen!

Wie kann man sich das vorstellen? Ein Mietauto (selbstverständlich mit Automatik und eingebautem Handbetrieb), wüstenhafte Landstriche, Außentemperaturen um die 40 Grad Celsius, wenig Verkehr und extrabreite Straßen, die stundenlang geradeaus führten, eine Portion Kingsize-Pommes aus dem letzten Drive-through am Schoß, ein Bulletproof-Take-Away-Kaffee, ab und zu eine verstaubte Tankstelle mit Diner am Straßenrand, so wie wir es aus Hollywood-Filmen kennen, und der Song „Where The Streets Have No Name“ lautstark in der Stereoanlage des Autos. Ganz langsam verschmolz unser Urlaubsgefühl bei wehendem Haar mit dem Freiheitsgefühl aus Easy Rider. 

Utah-stisch

Je tiefer wir in den Kontinent eindrangen, desto beeindruckender wurden die Landschaften. Speziell der Bundesstaat Utah ist wie von einem anderen Stern! Jetzt waren wir definitiv im Wilden Westen angekommen! Euphorisiert von der atemberaubenden Schönheit der Szenerie durchkreuzten wir die Weiten des Landes mit unseren 75 Pferdestärken wie einst Butch Cassidy and the Sundance Kid auf zweien. Mit einer Begeisterung, die kein Ende nehmen wollte, blieben wir so oft am Straßenrand stehen, um wortlos die Erhabenheit der Natur zu bewundern, dass wir auf unseren Tagesetappen erst dann richtig Kilometer machten, wenn die Sonne im Westen versunken war und die Dunkelheit unser Blickfeld auf den Scheinwerferkegel unseres Autos limitierte.

Als wir in einem Straßencafé unseren Proviant auffüllten, staunten wir über noch etwas ganz Anderes: Die altertümlich gekleideten Frauen mit ihren merkwürdigen Wellenfrisuren, die uns hier bedienten, schienen einem Kostümfilm entsprungen! Rund 60 % der Bevölkerung Utahs sind Mormonen. Die meisten der weltweit über 15 Mio. Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (so der offizielle Name der Glaubensgemeinschaft) wohnen hier. Wie wir später herausfanden, gehörten die freundlichen Damen wohl einer Splittergruppe an, deren Kleidungscodex sich an den der 20er Jahre anlehnt. 

Farbenfroh in Colorado

Nach all den schweißtreibenden Temperaturen statteten wir einem Herzensfreund, den ich vor zwei Jahren in Brasilien kennengelernt hatte, in seiner ausgebauten Scheune in den angenehm frischen Bergen Colorados einen Besuch ab. Wir durften in Michaels Töpfer-Atelier zwischen Säcken an Ton und 100en Stücken halb- bis präsentierfertiger Keramik für ein paar Tage übernachten. Darüber waren wir mehr als froh, denn wir waren in einer der teuersten Gegenden der Welt gelandet: Aspen, ein Nobelschiort, in dem sich die High-Society der Welt trifft. Die Kleinstadt ist nach den birkenähnlichen Espen benannt, die hier die Vegetation bestimmen. Einen Monat später durfte ich – inzwischen schon ganz woanders – erleben, wie sich ganze Espen-Wälder in ein malerisches Goldgelb verwandelten.

Die allergrößte Attraktion des farbenfrohen (span. colorado) Bundesstaates wartete allerdings in einer anderen Form auf mich: Ein Exo-Skelett! Dabei handelt es sich um einen Gangroboter, dessen Motoren und Gelenke als Außenskelett über die Kleidung angelegt werden. Science-Fiction? Nein! Nach kurzer Einführung (und anfänglich intensiver Unterstützung) machte ich fast zwölf Jahre nach meinem Unfall die ersten selbstständigen Schritte! Halleluja! Als ich mich wieder in meinen Rollstuhl setzte, hatte ich Tränen in den Augen, Brinda und Michael ebenso. Dank dem Engagement von Amanda Boxtel, einer guten Bekannten von Michael, und ihrer Non-Profit-Organisation Bridging Bionics werden zwei dieser Roboter querschnittgelähmten Trainierenden zur Verfügung gestellt. In drei Sessions konnte ich meine Schritttechnik und Balance üben, bis ich – nur mit Krücken – ganz alleine unterwegs war. Eine Körper, Geist und Stimmung erhebende Erfahrung!

Mariachis, Burritos und ein Abschiedslied

In den südlichen, an Mexiko grenzenden Bundesstaaten der USA hörten wir immer wieder Menschen spanisch sprechen. Diese Gebiete waren bis 1848 mexikanisches Territorium. In New Mexico machen Hispanics rund die Hälfte der Bevölkerung aus. Ein Großteil der Zugezogenen ist schon in der zweiten oder dritten Generation hier und spricht sowohl Spanisch als auch Englisch. Das äußert sich speziell bei Jugendlichen in lustig klingenden Sprachvermischungen: Sie nennen es Spanglish

Nach vielen weiteren wunderbaren Reiseerlebnissen kommen wir schließlich am Endpunkt unserer Reise an: Santa Fe. Als wir an unserem letzten Abend unserer Reise bereits hungrig durch die Altstadt flanieren, schnappt uns ein älterer Galerist und schließt für uns kurzerhand seinen Laden. Über einen barrierefreien Umweg führt er uns in ein Restaurant, wo gerade traditionell gekleidete Mariachis mexikanische Klassiker zum Besten geben. Während wir uns an einen Tisch setzen und vegane Burritos bestellen, flüstert er der Band etwas ins Ohr und verschwindet mit einem Augenzwinkern. Nur wenig später stellen sich die Musiker feierlich rund um unseren Tisch auf und singen Brinda ein romantisches Geburtstagsständchen. Was für eine Performance! Hier hat zwar niemand Geburtstag, aber die Überraschung war gelungen! 

Das war vorerst einmal ein würdiger Abschied. Doch längst haben wir beschlossen, wieder zu kommen. Zu viele spektakuläre Orte warten noch darauf, von unseren Beinen und Rädern entdeckt zu werden!