Ein beinamputierter Bettler liegt auf einer Straße in Kalkutta. Vor ihm steht ein Teller,  Leute gehen vorbei, im Hintergrund ist eine Straßenbahn....

Behinderung als Erbe göttlicher Strafe ist in Indien alltäglich. Lässt sich vor diesem Hintergrund wirklich auf gravierende Änderungen hoffen?

Foto: Achim Pohl
aus Heft 1/2018 – Grenzenlos
Oliver Schulz

Behinderung als Erbe göttlicher Strafe ist in Indien alltäglich

Das Oberste Gericht in Indiens Hauptstadt New Delhi wies im Januar dieses Jahres die Zentralregierung und die Regierungen der Bundesstaaten an, einen Zeitplan vorzulegen, um alle öffentlichen und privaten Busse in den kommenden Monaten behindertenfreundlich zu gestalten. Eine Reihe von Richtlinien soll dazu beitragen, dass „zehn Prozent der staatlichen Fahrzeuge im öffentlichen Personennahverkehr bis März 2018 vollständig zugänglich werden“. Das Gericht verhandelte den Fall eines sehbehinderten Mannes aus Nordindien.

Die neuen Vorgaben folgen auf eine Serie von Berichten und Beschwerden von behinderten Menschen, denen die Reise in öffentlichen Verkehrsmitteln verweigert wurden. Sie sind aber auch lange notwendige, rechtliche Schritte für einen fairen Umgang mit behinderten Menschen in einem Land, in dem diese bis heute traditionell vielfach missachtet werden. Behinderte Menschen in Indien werden bis heute offen ausgegrenzt, versteckt und nicht selten schwer misshandelt. 

In Indien leben heute 27 Millionen Menschen mit Behinderung. Nach staatlichen Angaben aus dem Jahr 2011 hatten 2,2 Prozent der indischen Bevölkerung eine Behinderung. Die meisten von ihnen leben in bitterer Armut – das Kastensystem, Klassendenken und die Unterdrückung von Frauen verschärfen das Problem. Weniger betroffen sind nur Menschen aus der dünnen Mittel- und Oberschicht. Zusätzlich verschlechtert wird die Situation durch einen erschwerten Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten und durch einen Mangel an Sicherheit für Frauen.

Besonders schwierig ist die Situation für Menschen mit Lernschwierigkeiten in dem südasiatischen Land. Nur ein kleiner Teil von ihnen bekommt eine angemessene Behandlung, wie die medizinische Fachzeitschrift „The Lancet“ 2016 konstatierte. Indien hat demnach 443 staatliche Nervenkliniken, aber sechs Bundesstaaten – hauptsächlich in den nördlichen und östlichen Landesteilen – verfügen nicht über ein einziges entsprechendes Krankenhaus. Trotz steigender Zahl der Betroffenen wird nur etwa einer von zehn Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung behandelt.

Kampf gegen Diskriminierung

Menschen mit Behinderungen in Indien kämpfen bis heute gegen die Diskriminierung, die aus althergebrachten Denkweisen resultiert. „Das Denkmuster für Behinderungen im indischen Kontext ist sehr stark von religiösen und kulturellen Dogmen beeinflusst“, schreibt der Anthropologie-Professor Anuradha Saibaba Rajesh aus Kolkata in dem Buch „Human Rights and the Third World“ im Jahr 2013. Auch strukturelle Faktoren – etwa Armut, Analphabetismus oder Hunger – seien entscheidend. Aber: „Die Vorstellung von Behinderung als Erbe göttlicher Strafe ist alltäglich, allgegenwärtig und weitgehend unangefochten. Die Schriften der Hindus erklären Behinderungen als Widerspiegelung schlechter Taten im vorherigen Leben. Und es ist dieses Karma, das es der Familie mit einem behinderten Kind oder einem anderen behinderten Familienmitglied vorschreibt, sich zu schämen und sich schuldig zu fühlen und es zu vermeiden, an der äußeren Welt teilzunehmen.“ Generell haben Menschen mit Behinderung, so Rajesh, ein geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, „denn sie haben die anhaltend negativen Bilder, die die Gesellschaft malt, selbst verinnerlicht. Schlechte und irrationale soziale und kulturelle Konstrukte von Behinderung können Schranken errichten, die nicht von Gesetzen versetzt werden können“.

Nicht zuletzt wegen dieser kulturellen Hintergründe ist die Stigmatisierung bis heute extrem. Noch bis vor ein paar Jahrzehnten war es komplett undenkbar, dass behinderte Menschen in Indien ein unabhängiges Leben führen. Auch die Filmindustrie von Bollywood hat die Vorurteile gegenüber behinderten Inderinnen und Indern über Jahrzehnte reproduziert. Nur langsam deutet sich jetzt ein Wandel an. Aber wie nachhaltig ist der?

Kleine Schritte

Heute verfolgt das für Menschen mit Behinderungen zuständige Department of Empowerment of Persons with Disabilities (DEPwD) nach eigenen Angaben „die Vision, eine inklusive Gesellschaft zu errichten, in der es gleiche Chancen für die Entwicklung von Menschen mit Behinderung gibt, damit diese ein produktives, sicheres und stolzes Leben führen können“. Das indische Programm zur Unterstützung von behinderten Menschen mit Fördermitteln und technischen Hilfsmitteln – das so genannte ADIP Scheme – wurde 1981 mit dem zentralen Ziel eingerichtet, die verschiedenen Beteiligten, wie nationale Behörden, regionale Zentren und NGOs, mit Subventionen zu versorgen. Dadurch sollen die behinderten Bürgerinnen und Bürger im Land physisch, gesellschaftlich und psychologisch rehabilitiert werden. Mit der Accessible India Campaign hat sie sich besonders den Ausbau der Barrierefreiheit auf die Fahnen geschrieben.

Zudem setzt Indien – bekannt als Land der Informationstechnologie und der Softwareentwickler – auf Lösungen, die mit den digitalen Medien zusammenhängen. So hat das Ministry of Social Justice and Empowerment kürzlich die Einrichtung einer Online-Bibliothek angekündigt, die Menschen mit Sehbehinderungen nutzen sollen. Möglicherweise bietet die neue digitale Technologie wirklich beste Möglichkeiten, Entwicklungen von vornherein auf Menschen mit Behinderung auszurichten – und ihnen so das Leben in zahlreichen Bereichen zu erleichtern: von Bildung über den Beruf bis hin zu Alltagshilfen. Zumal in einem Land, in dem im Jahr 2016 – staatlich subventioniert – das billigste Smartphone der Welt auf den Markt gebracht wurde. Weniger als umgerechnet 3,30 Euro kostet es – ausgestattet mit Android und wenigen Apps.

Diskussion geht am Alltag vorbei

Doch tatsächlich bleibt offensichtlich vieles beim Alten. So ist Barrierefreiheit in vielen entwickelten Ländern ein – wenn auch selten ausreichend erreichtes – Ziel. In Indien dagegen steckt die Umsetzung dieser Idee noch in den Kinderschuhen. „Nur eines von 250 Hotelzimmern in Indien ist für behinderte Menschen zugänglich. Weltweit ist das Verhältnis 1 zu 50“, klagt Javed Abidi, Direktor des National Centre for Promotion of Employment for Disabled People (NCPEDP).

Und überhaupt geht die Diskussion um Barrierefreiheit zu einem gewissen Teil an der indischen Alltagsrealität vorbei. „Viele Medien-Berichte zum Thema Behinderung in Indien drehen sich um den Zugang zu bestimmten Bereichen wie etwa zu Flugzeugen“, betont Michele Friedner, Medizin-Anthropologin von der US-amerikanischen Stony Brook University. „Sehr bekannt wurden Fälle von Menschen mit Behinderung, denen das Recht zu fliegen verwehrt wurde und die aus den Flugzeugen heraus eskortiert wurden. Aber diese Fragen sind an der Basis gar nicht so wichtig – da geht es mehr um Dinge wie die Pension, Beschäftigungsquoten, Quoten im Bildungssystem.“ Zudem gäbe es, so Friedner, besonders in viel engeren sozialen Kontexten Diskriminierung. Auch würden behinderte Menschen außerhalb der Megastädte wie Delhi und Bangalore marginalisiert.

Veraltete Gesetze

Vor allem aber ist der gesetzliche Rahmen für eine umfassende Emanzipation der Menschen mit Behinderung in Indien veraltet. So gilt das aktuelle Gesetz zum Schutz der Rechte von behinderten Menschen in Indien von 1995 als überholt. Das Gesetz hat eine sehr enge Definition von Menschen mit Behinderungen – und es gibt dem Staat wenige Verpflichtungen. Inwieweit für Barrierefreiheit gesorgt werden soll, wird etwa von der ökonomischen Situation des Staates abhängig gemacht.

Zwar soll das Gesetz zum Schutz der Rechte von behinderten Menschen, das Ende 2016 vom indischen Parlament verabschiedet wurde, diese Lücken schließen. Doch Kritiker bemängeln, dass es im Bereich der Inklusion nicht ausreicht. Tatsächlich werden in dem Regelwerk statt wie bisher nur 7 jetzt 18 Formen von Behinderung aufgeführt und es sieht eine freie Ausbildung bis 18 Jahren vor. Auch werden darin behinderten Inderinnen und Indern mehr Arbeitsplätze in öffentlichen Institutionen als bisher (fünf statt drei Prozent) zugeschrieben – doch das gilt nur für Menschen, die wenigstens zu 40 Prozent behindert sind.

Behinderung als „göttliche Gabe“?

Anthropologin Michele Friedner kritisiert nicht nur diesen Punkt. Sie fordert in einer globalisierten Welt zudem Regulierungen auch für den privaten Sektor: „Ich finde es furchtbar, dass zum Beispiel ein Unternehmen mit Sitz in den USA sich dort an entsprechende Regeln halten muss, in Indien aber keine entsprechenden Pflichten hat.“ Vor diesem Hintergrund überrascht wenig, dass an der Haltung der indischen Zentralregierung Kritik laut geworden ist. Zuletzt richtete sie sich gegen die Bezeichnung Divyanjang – zu Deutsch etwa „göttlich“, die die Regierung Narendra Modis für Menschen mit Behinderung eingeführt hat. Mit einer Protestnote hat die National Platform for the Rights of the Disabled auf die Umbenennung des Ministeriums für Menschen mit Behinderungen reagiert. Behinderung, so die Organisation, sei aber keine göttliche Gabe. Die Namensgebung trage nicht zur Entstigmatisierung bei.

Der Umgang mit behinderten Menschen in Indien mag sich besonders durch den Einfluss der Moderne ändern – bedenklich stimmen muss aber, dass die Tradition, ihre Situation schön zu reden, jünger ist, als man meinen möchte. Lässt sich vor diesem Hintergrund wirklich auf gravierende Änderungen hoffen?