Ein junger Mann mit Trisomie 21 sitzt nachdenklich da, während eine Jugendliche ihn tröstend von der Seite umarmt. Der Junge trägt ein weißes T-Shirt und das Mädchen einen grauen Pullover und eine helle Hose.

Olivia und Willi: In Geschwisterliebe verbunden

Foto: © Matthias Wittkuhn
aus Heft 6/2024 – Aus Elternsicht
Birte Müller

Schuld und Verantwortung

Als Eltern tragen wir Verantwortung für unsere Kinder, doch nicht immer im Sinne von Schuld oder Verdienst. Die Frage nach der Schuld für die Behinderung unseres Sohnes Willi hat sich mir nie gestellt, da seine Behinderung keine Schuld erfordert. Dennoch begegnen uns immer wieder Vorwürfe und Unverständnis – sei es von Außenstehenden oder im Umgang mit medizinischen Fachkräften. Diese Erfahrungen zeigen, wie wichtig es ist, Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern respektvoll und unterstützend zu begegnen, anstatt zusätzliche Belastungen durch Schuldzuweisungen zu schaffen.

Willi ist nicht das Opfer eines fahrlässigen Unfalls oder eines Behandlungsfehlers, sondern schlichtweg eine Spielart der Natur, wie viele andere, nur eben mit einem Chromosom mehr in jeder Zelle. Natürlich ist mir klar, dass viele Menschen das anders sehen. Für sie bin ich als Mutter verantwortlich für Willis Trisomie 21, denn ich hätte „es“ ja testen können. Wenn ich vorsichtig nachhake, ob sie der Meinung sind, ich hätte Willi lieber abtreiben sollen, reagieren sie meist bestürzt, denn sie hatten den Gedanken oft gar nicht zu Ende gedacht. In Arztgesprächen bin ich weniger tolerant bei unbedachten Äußerungen. Im Gegenteil, ich bin besonders empfindlich. Vielleicht stelle ich an Mediziner:innen höhere moralische Ansprüche als an andere Mitmenschen. Auf jeden Fall erwarte ich, dass sie ihre Aussagen genau bedenken. Viele tun das jedoch nicht, oder wir Eltern behinderter und chronisch kranker Kinder sind übermäßig verletzlich. Beim Austausch über misslungene Arztgespräche hat jedenfalls wirklich jede:r etwas Haarsträubendes zu erzählen.

Bei mir fing es an mit dem Gynäkologen, der sich sechs Wochen nach Willis Geburt bei der Nachuntersuchung entschuldigte, weil er während der Schwangerschaft keine Anzeichen für eine Trisomie 21 entdeckt hatte. Dabei hatte ich ihn im Übrigen gar nicht darum gebeten. Er muss Angst gehabt haben, dass wir „die Schuld“ für Willis Behinderung bei ihm suchen könnten. So sagte er, als er mein Baby zum ersten Mal sah, statt „Herzlichen Glückwunsch“, dass es ihm sehr leidtäte. Später besuchten wir mit Willi regelmäßig ein sozialpädiatrisches Zentrum, in dem Willis Entwicklung untersucht wurde. Die Berichte lasen sich wie eine gigantische Mängelliste. Das war nicht schön, aber weil wir es für die Beantragung von Hilfen brauchten, musste es wohl sein. Es hätte jedoch nicht sein müssen, dass ich jedes Mal das Gefühl bekam, für Willis anstrengendes Verhalten verantwortlich zu sein. Wir kamen immer zu zweit: Einer versuchte, Willi zu beschäftigen, während der andere mit der Ärztin sprach. Trotzdem wirkte sie jedes Mal entnervt, weil Willi war, wie er war: Er schrie, lief herum, versuchte, an ihre Schränke oder den Computer zu gehen, und warf Sachen umher. Sie sagte jedes Mal, dass das so nicht gehe, und ich fühlte mich schuldig. Dabei taten wir wirklich unser Bestes. Doch anstatt Anerkennung dafür zu bekommen, dass wir Willi rund um die Uhr begleiteten, bekamen wir Vorwürfe, weil er Papiere heruntergeworfen oder einen Teddy aus dem Regal gezogen hatte, den man nicht anfassen durfte. Da die Frau ständig mit Kindern mit Behinderung und ihren Familien zu tun hatte, erwartete ich, dass sie unsere tägliche Leistung verstehen würde. Irgendwann verzichteten wir auf die Besuche, weil ich es nicht mehr aushielt, immer wieder das Gefühl zu bekommen, dass mein Kind und ich alles falsch machten, obwohl wir nach Unterstützung suchten.

Die Suche nach Unterstützung für Olivia

Neulich saß ich wieder vor einer Ärztin, die mir, statt Hilfe zu geben, nur das Gefühl vermittelte, zu versagen. Diesmal ging es um unsere Tochter Olivia. Sie ist 15 Jahre alt und leidet unter einer schweren Depression mit starker Schulangst. Seit fast einem Jahr ist sie nun zu Hause. Vielleicht war der Auslöser für Olivias psychische Probleme das Trauma einer schweren Post-COVID-Erkrankung, die sie zwei Jahre zuvor erlebt hatte. Vielleicht war es aber auch der Druck, den Ansprüchen in der Schule zu genügen – ob ihren eigenen, den gesellschaftlichen oder unseren als Eltern. Oder sie ist einfach ein 15-jähriges Mädchen, das in einer schwierigen Welt lebt – ich weiß es nicht. Seitdem suchen wir nach Hilfe, betteln um Termine bei Psychiater:innen, Psycholog:innen und Kliniken, füllen Fragebögen aus und warten. Manchmal treffen wir auf sehr nette Menschen, manchmal auf sehr unangenehme. Doch überall scheint man überlastet zu sein, und alle Angebote sind überlaufen. Ambulante Psycholog:innen haben Aufnahmestopp, sogar für Wartelisten, und raten uns gleichzeitig dringend von stationären Klinikaufenthalten ab, da dort fast nur noch Notfälle, selbst- und fremdgefährdende Menschen, untergebracht seien. Die Wartezeiten betragen bis zu 24 Monate.

Wie Bittstellerinnen saßen Olivia und ich neulich im Vorgespräch einer psychosomatischen Tagesklinik, an die wir endlich weitergeleitet worden waren. Olivia berichtete ehrlich von ihren Ängsten, dem Gefühl, „alles nicht zu schaffen“, und auf Nachfrage auch von den Selbstverletzungen. Die Ärztin wollte ihr jedoch nicht glauben, dass sie keine Essstörung habe. Weiters sprach Olivia von einem guten Verhältnis zu mir, was der Ärztin höchst verdächtig erschien. Dann wurde ich gefragt, ob es in unserer Familie andere Vorerkrankungen gäbe. Ich erwähnte den behinderten Bruder, was mit hochgezogenen Augenbrauen auf einem Block notiert und unterstrichen wurde. Die Ärztin erkundigte sich nach psychischen Problemen, und ich erzählte, dass mein Vater an einer bipolaren Störung leidet und ich jeweils nach der Geburt beider Kinder eine Depression hatte. Auch mein Mann hatte bereits zwei Burn-outs hinter sich und war momentan sehr erschöpft, aber das erwähnte ich lieber nicht. Ich merkte, dass die Frau glaubte, eine hoffnungslos kaputte Familie vor sich zu haben. Sie machte Notizen, schüttelte den Kopf und stellte fest: „Bei Ihnen ist ja so einiges los.“ Sie blickte mich nicht mitfühlend, sondern vorwurfsvoll an und sagte, ich wüsste ja sicherlich, wie sehr „das Risiko“ dadurch steige. Dabei wies sie auf Olivia, die mittlerweile wie ein Häufchen Elend neben mir saß. Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Also fragte ich, ob sie meine, dass ich das Risiko für psychische Erkrankungen an meine Tochter vererbt habe. Sie erwiderte, es gehe nicht um Schuld. Kinder von Müttern, die keine Liebe zeigen könnten, seien jedoch stark gefährdet, ebenfalls psychisch zu erkranken. Wie sie auf die Idee gekommen war, ich hätte meinen Kindern keine Liebe zeigen können, wusste ich nicht und ich fragte auch nicht nach, denn die ungeheuerliche Unterstellung dröhnte so sehr in meinem Kopf, dass ich kein einziges Wort herausbrachte.

Die Ärztin äußerte, dass meine Kindheit mit einem manisch-depressiven Vater mit Sicherheit auch traumatisch gewesen sei. Langsam wurde ich wütend, denn meine Kindheit war nicht unglücklich – ganz im Gegenteil. Bis heute bin ich überzeugt, den besten Vater der Welt zu haben. Natürlich war und ist es schlimm zu sehen, wenn es ihm schlecht geht, aber das ist nun mal Teil unseres Lebens; es hat uns als Familie eng zusammengeschweißt. Mein Vater trägt keine Schuld daran, dass auch ich Depressionen erlebt habe. Jeder Mensch trägt sein Päckchen, und in jeder Familie gibt es Probleme, ob es nun Erkrankungen, Trennungen, Todesfälle oder Geldsorgen sind. So ist das Leben nun einmal, und es ist der Stoff, der uns zu den Menschen macht, die wird sind – mit unseren Problemen und unseren Stärken.

Als Nächstes machte mich die Ärztin dafür verantwortlich, dass mein Kind nicht zur Schule geht. Was sollte ich dazu sagen? Olivia geht nicht zur Schule, weil sie krank ist. Darum waren wir ja auch gekommen – auf der Suche nach Hilfe. Ich glaubte, meiner Verantwortung als Mutter nachzukommen, indem ich Olivia eben nicht in die Schule zwang (ich hätte auch nicht gewusst wie), mir alle Zeit für sie nahm und mich hier und jetzt um eine Behandlung kümmerte. Ich selber hatte eher ein schlechtes Gewissen, mein Kind nicht schon viel früher vom Schuldruck befreit zu haben. Ich begriff nicht, welchen Zweck die Vorwürfe in einem Vorgespräch haben sollten, und das auch noch im Beisein meines Kindes. Mich so in die Ecke gedrängt zu sehen, brachte Olivia in eine noch schwierigere Situation, und auf die nächste Frage antwortete sie nur noch: „Ich habe das Gefühl, egal, was ich sage, es wird gegen mich verwendet.“ Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn eine Psychologin meint, es sei für Olivia oder mich hilfreich, etwas aufzuarbeiten, ob nun im Zusammenhang mit dem behinderten Bruder oder den Folgen von psychischen Erkrankungen innerhalb der Familie, dann bin ich gerne dazu bereit. Jedoch befanden wir uns nicht in einer Therapie, und es wurde uns auch keine angeboten. Das Verhalten der Ärztin – die nicht einmal in der Tagesklinik arbeitete, wie ich später erfuhr – schien eine Machtdemonstration zu sein, deren Sinn sich mir bis heute entzieht.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Natürlich mache ich als Mutter nicht alles richtig. Wie soll das auch gehen? Manches entscheidet man bewusst, anderes passiert einfach. Manches ist in einem Kind drin, und anderes wird durch die Erziehung oder die jeweiligen Umstände geformt. Wir werden nie erfahren, was für Menschen wir oder unsere Kinder unter anderen Bedingungen geworden wären. Aber alle, die mit Familien zusammenarbeiten, müssten wissen, dass es in den allermeisten Fällen der innigste Wunsch der Eltern ist, für ihr Kind das Beste zu tun. Auch ich versuche das und kann dabei als Mutter nur meinem Bauchgefühl folgen. Wenn jemand meint, ich liege falsch, dann möge man mir bitte einen besseren Weg aufzeigen und uns dabei begleiten. Ein depressives Kind zu Hause zu haben, mit den Ängsten und der Isolation, die damit einhergehen, ist nicht leicht auszuhalten. Oft wünsche ich mir professionellen Rat. Aber ich kann mit Ärzt:innen und Therapeut:innen nur auf Augenhöhe zusammenarbeiten, wenn man mich als Expertin für meine Kinder ernst nimmt – dann kann ich auch deren Expertise annehmen. Zu glauben, dass in Familien mit Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten alle Probleme automatisch darauf zurückzuführen seien, und dabei auch noch ein schlechtes Gewissen zu vermitteln, statt praktische Hilfe anzubieten, empfinde ich als diskriminierend und nicht hilfreich. Es führt nur dazu, dass es mir immer schwerer fällt, ehrlich zu sein und um Unterstützung zu bitten.

Autorin:

Birte Müller, geboren 1973 in Hamburg, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Seit sie Kinder hat (eins davon mit extra Chromosom), schreibt die ausgebildete Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Kolumnen – zurzeit für die taz über ihre „Schwer mehrfach normale Familie“. Sie erschienen auch in Buchform unter dem Titel „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“.

E-Mail: birte@illuland.de