Ein Sportler mit Prothesen an beiden Beinen springt mit Wanderstöcken über steiniges Gelände. Er trägt eine rote Sportweste und eine Sonnenbrille. Im Hintergrund sind unscharfe Bergkonturen sichtbar.

Der paralympische Athlet Andrea Lanfri hat als erster Mensch mit Mehrfachamputationen den Gipfel des Mount Everest erstiegen.

Foto: © Ilaria Cariello
aus Heft 1/2024 – Serie
Udo Sierck

Sport, Spiele, Sensationen

Der fünfte Teil der MENSCHEN-Serie „Körperkult und Behinderung“ fragt danach, ob wohlmeinende Berichte über behinderte Personen bei genauer Betrachtung nur die Faszination über „die anderen“ abbilden.

Anlässlich der Weltausstellung 1904 in St. Louis fanden die zweiten Olympischen Spiele der Neuzeit statt – allerdings nur für weiße Sportler. Parallel dazu wurden „anthropologische Spiele“ organisiert mit Ureinwohnern aus verschiedenen Kontinenten und Kolonien, die untrainiert Wettkämpfe absolvierten. Das weiße Publikum strömte herbei, amüsierte sich über die sportlichen Darbietungen „der Wilden“ und fühlte sich in seiner Überlegenheit bestätigt. Gleichzeitig waren die Zuschauer:innen fasziniert von dem Aussehen der Fremden, ihren Bemühungen und einzelnen Höchstleistungen.

Der gegenwärtig zu beobachtende Enthusiasmus über sportliche Leistungen bei den Paralympics übersieht gern, dass auch dieses Event eine Sonderveranstaltung ist und regelmäßig einige Wochen nach dem Ende der olympischen Sommer- oder Winterspiele stattfindet. Neben der Parallele der organisierten Trennung drängt sich der Gedanke auf, ob die Begeisterung über die Darbietungen ähnlich motiviert ist.

Denn der ungewöhnliche Körper genügt auch in der Gegenwart freiwillig und unfreiwillig zur Sensation. Während zur Zeit der Weltausstellung der ungewöhnlich stark behaarte „Löwenmensch“ das Publikum in seinen Bann zog, ist es heute der „Fischmensch“, ein „Krüppel“ mit Arm- und Beinstümpfen, der in gut 13 Stunden den Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien durchschwamm (vgl. Veiel 2012, 39).

Und als im Mai 2022 der paralympische Athlet Andrea Lanfri als erster Mensch mit Mehrfachamputationen den Gipfel des Mount Everest erreichte, jubelte seine Ausrüstungsfirma über dieses „Symbol der Selbstverwirklichung“ und des „eisernen Willens“ mit einer skurrilen Meldung: Lanfri habe „vier Weltrekorde gebrochen: erster Athlet, der mit mehreren Amputationen den höchsten Gipfel der Welt erklommen hat; erster Athlet, der auf unseren Cheetah Xtreme die höchste Meile der Welt auf 5 190 Metern in nur 9 Minuten und 48 Sekunden gelaufen ist; erster Botschafter, der unser Össur-Logo auf den höchsten Gipfel der Welt gebracht hat; unsere Prothesenfüße Pro-Flex LP Align und Pro-Flex XC erreichen den höchsten Gipfel der Welt.“ Sein Traum, den „Himmel mit drei Fingern zu berühren“, wurde wahr.1 Das Geschäftsmodell mit faszinierenden Leistungen von Personen mit Beeinträchtigungen scheint zu funktionieren. Die Spielregeln von Kommerz und Konsum lassen es zu. Seltsam wird es, wenn die Storys als ermutigende Beispiele für die allgemeine Inklusion herhalten sollen.

Mit dieser Intention meldet wie etliche andere Medien die Mitteldeutsche Zeitung am 8. September 2020 in ihrer Online-Ausgabe aufgeregt: „Nackt im Playboy: Paralympic-Star Elena Krawzow trotzt ihrer Behinderung.“ Um dann fortzufahren: „Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, warum Elena Krawzow anders ist als die Frauen, die sonst auf der Titelseite des Playboys zu sehen sind. Auch erkennt man nicht sofort, warum Elena an den Paralympics teilnimmt.“2 Dieses Rätsel wird auch der zweite Blick nicht lösen. Denn Krawzow lebt mit einer starken Einschränkung ihrer Sehfähigkeit, optisch unterscheidet sie nichts von anderen Playboy-Models. Allein die verbale Verbindung von Nacktheit und Behinderung erklärt somit die mediale Aufregung, vom angedeuteten, trotzig emanzipatorischen Akt bleibt außer der Sensation wenig übrig. Fortan heißt es in der Berichterstattung über Krawzows sportliche Leistungen im Brustschwimmen etwa augenzwinkernd: „Macht nicht nur im Wasser eine gute Figur“ (FR 2021). Eine andere Facette der Faszination löst der „Prothesen-Sprinter“ Johannes Floors aus: Er darf sich nach seinem Olympiasieg „schnellster Mann ohne Beine“ (ebd.) nennen. Assoziationen zur Freakshow sind unvermeidlich. Ganz ähnlich der Bericht über Maximilian Schwarzhuber: Seitdem ihm die Unterschenkel amputiert wurden, beweist er sich als Extremsportler. Er läuft mit Prothesen die Marathonstrecke, absolviert den Triathlon und fährt per Rad in 24 Stunden von München nach Venedig. Sein Projekt, in 48 Stunden von Flensburg nach Oberstdorf zu radeln, wurde so angekündigt: „Ohne Füße quer durch Deutschland“ (Stillbauer 2022, 34).

Auch Tina Deeken, die „Behindertensportlerin des Jahres 2023“, möchte anderen Mut machen. Die Lehrerin betreibt Eisschwimmen, eine Extremsportart, bei der das Wasser im Wettkampf unter fünf Grad kalt ist. Kein ungefährliches Unterfangen für Herz und Kreislauf, weshalb die Schwimmer und Schwimmerinnen immer mit einer Rettungsboje um den Körper unterwegs sein sollten. Bei der Para-Weltmeisterschaft gewann Deeken sieben Titel und kam in das Guinnessbuch der Rekorde als schnellste beeinträchtigte Eisschwimmerin der Welt (Nording 2023, 34). Welche allgemein ermutigende Wirkung diese Leistung haben soll, bei der sich nicht wenige verstohlen an die Stirn tippen werden, sei dahingestellt. Eine Auszeichnung für jemanden, der oder die mit großer Anstrengung eine Boccia-Kugel in die gewünschte Richtung bewegt, wäre überzeugender.

Faszination und Exotik

Auch jenseits von Sport und Spielen entkommen Menschen mit auffälligen Körpern nicht der Sensationslust. Das Porträt in einer Berliner Tageszeitung über die Menschenrechtsaktivistin und Professorin Theresia Degener erinnert fast wörtlich an die Schilderungen aus der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ über das „armlose Wunder“ Carl Herrmann Unthan vor gut 140 Jahren. Heute liest es sich so: Degener schließt „das Fenster mit dem Kinn. Dann klappt sie mit den Füßen ein Tischchen auseinander, das ihr befreundete Architekten konstruiert haben. Hier kann sie ihren Laptop abstellen, mit dem Fuß einen Stift führen, auf dem Handy tippen. Je niedriger, desto besser. Es dauert etwa zwanzig Minuten, bis man vergisst, dass Degener keine Hände hat. Dass ihr Sakko ärmellos und ihre Uhr um den Knöchel gestülpt ist, ihr Ehering am Zeh steckt. Ein paar Minuten der Verwunderung darüber, wie sie mit der Nase Knöpfe drückt, damit die Leinwand für den Unterricht herunterfährt, die Ferse in die Luft stößt, um zu unterstreichen, was sie sagt. Degener hat ja Hände – sie hat Füße.“ (Prosinger 2014, o. S.) Ungewöhnliche Körper und Bewegungen lösen offenbar nach wie vor Staunen aus. Ihr Anblick lässt die Schauenden schwanken zwischen Bewunderung, Neugierde und Fehlverhalten. Bei jeder beliebigen Professorin mit einem gewöhnlichen Erscheinungsbild wäre es nicht von Interesse, wo sie Uhr und Ehering trägt oder wie sie das Fenster schließt, sondern vielmehr, was sie zu sagen hat.

Das Staunen ist garantiert, wenn das Ungewöhnliche mit der Exotik ferner Länder verknüpft wird. Ein halbseitiges Farbfoto auf der Panorama-Seite der Frankfurter Rundschau zeigt den Lesenden einen großen Mann und eine kleine Frau, die nebeneinanderstehen, im Hintergrund eine ägyptische Pyramide. Der Text dazu lautet: „Zwischen ihnen liegen rund 188 Zentimeter Größenunterschied, ihre Probleme sind aber oft die gleichen: Mit 62,8 Zentimetern Körpergröße gilt die Inderin Jyoti Amge als kleinster Mensch der Welt, der Türke Sultan Kösen mit 251 Zentimetern als größter. Ungläubige Blicke ziehen wohl beide jeden Tag auf sich, passende Möbel und Kleider zu finden ist fast unmöglich“ (FR 2018). Die Zeilen können ebenfalls als moderne Variante der Werbezettel für eine Freakshow durchgehen.

Blickfang lädierter Körper

Eine andere Variante der Vereinnahmung lädierter Körper bot „RAL 6010 – Magazin für Nachhaltigkeit und Verantwortung“: Auf dem Titelblatt einer der Ausgaben lachen der Leserschaft zwei Frauen entgegen, beide haben nur ein Bein und stützen sich auf eine Krücke. Über ihre Schultern bis zu den Hüften hängt eine Schärpe mit der Aufschrift „Miss Landmine“. Ob hier der schwarze Humor den Hintergrund bildet oder ob die beteiligten und namenlos bleibenden Frauen aus Angola die Auszeichnung als Ermunterung verstehen, bleibt ungeklärt. Der Künstler Morten Traavik kommentiert seine Aufnahme mit dem Satz: „Jeder hat das Recht, schön zu sein.“ Zu Füßen der abgebildeten Frauen ist in großen Lettern zu lesen: „War das mein Geld? Was gute Zinsen statt blutiger Rendite bringt“ (RAL 6010, 2012, 1 f.). Dieser Zusatz drängt die schönen Frauen in die Opferrolle, um an das schlechte Gewissen des Publikums zu appellieren. Zurück bleibt ein Aufmacher als Blickfang der Werbung für ethisch vertretbare Finanzprodukte.

Sicher nicht zufällig wirbt der Dokumentarfilm „Body Positivity“ über das neue Selbstverständnis vom eigenen Körper mit einem Standbild, auf dem eine Frau sich ihre Handprothese vors Gesicht hält. Die attraktive Frau mit einer künstlichen Hand passt perfekt zur Masche, nach Blickfängen zu suchen, die beim flüchtigen Schauen überraschtes Innehalten provozieren. Dasselbe Foto mit der real fehlenden Hand würde dagegen peinliche Irritation hervorrufen. Die Prothese wirkt als Ergänzung zur ertragbaren Normalität und kann deshalb faszinieren, gleichzeitig dient sie der Vertuschung der Wirklichkeit.

Ob das offensive Zeigen der Prothese schon als ein Akt der Emanzipation gelten kann, wäre zu hinterfragen. Denn der Blick auf das gleiche orthopädische Hilfsmittel dient dem Bundesverkehrsministerium in einer aktuellen Plakatserie für Landstraßen und Autobahnen als Warnung vor den Folgen von schrecklichen Unfällen. Ganz ähnlich das Plakat mit der Abbildung eines Mannes im Rollstuhl und dem Kommentar: „Weil der andere ein Bier hatte.“ Bei beiden Plakaten dient der lädierte Körper als Abschreckungsmodell, er wird degradiert zum „Eyecatcher“, wie es in der Werbebranche heißt. Es ist schwer vorstellbar, wie ein und dieselbe bildliche Darstellung überzeugend Warnung und Attraktivität zugleich vermitteln kann. Letztlich geht es allein um die Faszination für die futuristisch anmutende Prothese. Damit bleibt im Kern die Distanz zu den anderen übrig, zu einem Leben, das man so nicht führen möchte.

Literatur:

FR (2018): Frankfurter Rundschau vom 29. Januar 2018, Panorama.

FR (2021): Frankfurter Rundschau vom 6. September 2021, Nr. 206, Sport, S. 7.

Nording, W. (2023): Eiskalte Leidenschaft. In: Frankfurter Rundschau vom 9. März 2023.

Prosinger, J. (2014): Radikal normal. In: Der Tagesspiegel online vom 4. Dezember 2014.

RAL 6010 (2012): Magazin für Nachhaltigkeit und Verantwortung, Ausgabe 5, Oktober 2012.

Stillbauer, Th. (2022): Ohne Füße quer durch Deutschland. In: Frankfurter Rundschau vom 8. April 2022, Nr. 83.

Veiel, A. (2012): Der Fischmensch. Ohne Arme und Beine schwimmt Philippe Croizon durch die Weltmeere. In: Frankfurter Rundschau vom 14. Mai 2012.

Wasmuth, V. (2021): Body Positivity – Das neue Bild vom eigenen Körper: Dokumentarfilm, ZDF/3SAT vom 2. Dezember 2021.

Autor:

Udo Sierck ist Dozent und Publizist. Er tritt seit Jahrzehnten für Emanzipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen ein. In seinen Büchern und Artikeln, Vorträgen und Seminaren analysiert er das Normalitätsdenken und versucht, die Denkmuster über „die Behinderten“ aus der Welt zu schaffen.

E-Mail:  udosierck@web.de