Eine junge Frau mit roten Haaren und gestreiftem Top lächelt neben einem Spiegel, der ein trauriges Mädchen zeigt. Die beiden Figuren haben ähnliches Aussehen, aber unterschiedliche Emotionen. Dunkelblaue Töne im Hintergrund schaffen eine ernste Stimmung.

Cover zum Buch "Wenn Kinderarmut erwachsen wird ..."

Foto: © Anika Benkhardt
aus Heft 1/2024 – Forschung
Irina Volf

Kinder- und Jugendarmut

Welche Spuren lassen sich bis zum jungen Erwachsenenalter feststellen?

Im Rahmen der AWO-ISS-Langzeitstudie werden seit 1997 die Armutsverläufe und Lebenslagen von rund 900 Kindern aus 60 bundesweit verteilten Kindertageseinrichtungen in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt e. V. untersucht. In der wegweisenden Studie wurde seitens des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS e. V.) erstmals ein kindbezogenes Armuts- und Lebenslagenkonzept in Deutschland erprobt und bis ins junge Erwachsenenalter fortentwickelt. Das mehrdimensionale Konzept umfasst die materielle, kulturelle, soziale und gesundheitliche Lage und unterscheidet zwischen drei Lebenslagetypen: Wohlergehen, Benachteiligung und multiple Deprivation. Bereits in der ersten Studienphase stand fest: Armut stellt ein erhebliches Risiko für eine altersgemäße Entwicklung der Kinder dar. Die Lebensverläufe der Kinder wurden in fünf weiteren Studienphasen nachverfolgt. In der fünften Phase (2017–2019) wurden 205 mittlerweile erwachsene Studienteilnehmende zu ihren aktuellen Lebenslagen und Armutserfahrungen befragt. Im Fokus der Analyse standen die Rekonstruktion der Armutsverläufe seit der Kindheit sowie der Übergang ins junge Erwachsenenalter. In der sechsten Phase (2020–2021) wurden die Erkenntnisse zu Übergang und Armutsverläufen anhand von Interviews mit acht Studienteilnehmenden vertieft und um die Ergebnisse hinsichtlich der Bewältigung der Corona-Krise ergänzt.

Einmal arm – immer arm?

Eine Längsschnittuntersuchung der Armutserfahrungen der Studienteilnehmenden ergab, dass jedes dritte Kind, das im Alter von sechs Jahren in einer armen Familie lebte, auch mit 25 Jahren noch von Armut betroffen war. Gleichwohl gelang es zwei von drei der jungen Menschen aus den armen Familien, im Alter von 25 Jahren nicht mehr in einer Armutslage zu sein. Rund die Hälfte dieser jungen Menschen konnte die Familienarmut erst am Übergang ins junge Erwachsenenalter hinter sich lassen. Das eigene Armutsrisiko im jungen Erwachsenenalter ist durch das Aufwachsen in Armut zwar deutlich erhöht – für die Mehrheit stellt Armut jedoch keinen geschlossenen Teufelskreis dar.

Wie geht es den armen jungen Erwachsenen mit 25 Jahren?

Armut im jungen Erwachsenenalter aus der Querschnittsperspektive, d. h. nur im Hinblick auf den aktuellen Armutsstatus der jungen Menschen, geht vor allem mit massiven Einschränkungen in der materiellen Grundversorgung und Teilhabe sowie schlechter psychischer Gesundheit einher. Das heißt konkret, dass armutsbetroffene junge Erwachsene schlechter mit materiellen Gütern wie Kleidung, Schuhen, Essen ausgestattet und in ihrer Mobilität, ihren Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt sind. Sie zeigen häufiger psychosomatische Symptome, treiben seltener Sport und haben deutlich öfter eine chronische Erkrankung als finanziell bessergestellt junge Erwachsene. Einschränkungen in kulturellen und sozialen Lagen sind bei den armen jungen Erwachsenen im Durchschnitt zwar weniger stark ausgeprägt als jene in anderen Bereichen, kumulieren jedoch häufiger bei Einzelpersonen, die in Armut leben. Das heißt konkret, dass die Armutsbetroffenen oft keinen festen Freundeskreis und in sehr vielen Fällen keine einzige Person im privaten Umfeld haben, mit der sie über persönliche Probleme und Sorgen sprechen können. Im kulturellen Bereich lässt sich feststellen, dass den Armutsbetroffenen die Möglichkeiten der non-formalen Bildung und der Weiterqualifizierung im Lebensverlauf gänzlich fehlen.

Welche Langzeitfolgen der Kinder- und Jugendarmut lassen sich statistisch belegen?

Werden die Armutserfahrungen in der Kindheit und/oder der Jugendzeit hinsichtlich ihrer Folgen im jungen Erwachsenenalter analysiert, so stellt man fest, dass diese sich vor allem in der kulturellen und der gesundheitlichen Lage manifestieren. Junge Erwachsene mit Armutserfahrung haben im Alter von 25/26 Jahren häufig (noch) keinen beruflichen Abschluss erworben, sind schlechter in den Arbeitsmarkt integriert und unterliegen damit höheren Risiken einer Verfestigung von Armut. Die qualitativen Aussagen der jungen Menschen mit Armutserfahrung zeugen von einer großen Orientierungslosigkeit in der Phase der Berufswahl, die durch Angebote der Schulen und Arbeitsagentur nicht ausgeglichen wird. Das ist besonders bedeutsam, weil diese jungen Menschen auch im privaten Bereich oft keine Vorbilder haben und die Eltern ihnen aus Mangel an eigener Erfahrung vielfach keine Unterstützung bieten können.

Weitere Langzeitfolgen der Kinderarmut sind schlechte psychische Gesundheit und ein riskantes Gesundheitsverhalten. Diese zeichnen sich insbesondere durch eine depressive Symptomatik, geringe sportliche Aktivität, Tabakwarenkonsum, längere Krankheitsdauer, Unzufriedenheit mit der eigenen Gesundheit sowie Einschränkungen in Beruf, Ausbildung oder Studium aufgrund der gesundheitlichen Probleme aus.

Nach welchen Mustern verläuft der Übergang ins junge Erwachsenenalter bei jungen Menschen mit und ohne Armutserfahrungen?

In Bezug auf den Übergang ins junge Erwachsenenalter konnten die Studienteilnehmenden vier Übergangstypen zugeordnet werden: Verselbstständigte, Nesthocker, Spätzünder und junge Eltern. Diese wurden bei 205 Teilnehmenden im Alter von 25 Jahren anhand ihres Bewältigungsstands von fünf Entwicklungsaufgaben – mindestens ein beruflicher Abschluss, Erwerbstätigkeit, Auszug aus dem Elternhaus, feste Partnerschaft und Kinder – empirisch ermittelt. Demnach konnte die größte Gruppe der jungen Menschen als Verselbstständigte (63 %) beschrieben werden. Kennzeichnend für diese Gruppe war, dass sie mehrheitlich über einen beruflichen Abschluss verfügte, in den Arbeitsmarkt integriert und aus dem Elternhaushalt ausgezogen war sowie eine feste Partnerschaft ohne Kinder hatte. Die jungen Menschen in einem weiteren Übergangstyp, der sogenannten Nesthocker-Gruppe (16 %), unterschieden sich wenig von den Menschen des ersten Übergangstyps. Ausschlaggebend war allerdings das Leben bei ihren Eltern. Jeweils jede zehnte Person wurde den Übergangstypen Spätzünder (10 %) und Junge Eltern (10 %) zugeordnet. Spätzünder waren junge Menschen, die den Übergang ins junge Erwachsenenalter (noch) nicht vollzogen hatten und mit vielen Herausforderungen beim Erlangen eines beruflichen Abschlusses, bei der Ablösung von den Elternhaushalten und/oder Aufbau einer festen Partnerschaft konfrontiert waren. Große Belastungen im familiären Umfeld, gesundheitliche Sorgen und bescheidene Zukunftsperspektiven waren für die jungen Menschen dieses Übergangstyps charakteristisch. In der Gruppe der jungen Eltern ging die Bewältigung mehrerer Entwicklungsaufgaben gleichzeitig vonstatten und war somit von großer Belastung geprägt. In der Regel mussten Aufgaben wie das Erlangen eines beruflichen Abschlusses, Erwerbstätigkeit und die Erziehung der Kinder parallel bewältigt werden. Erwartungsgemäß waren die Gruppen der Spätzünder und der jungen Eltern am stärksten von Armut im jungen Erwachsenenalter betroffen (58 % bzw. 40 %). Aufgrund der überwiegend gelungenen Arbeitsmarktintegration der Verselbstständigten und der Nesthocker lagen die Armutsquoten in diesen Gruppen mit 14 % bzw. 27 % auf einem deutlich niedrigeren Niveau (vgl. Volf et al. 2019, 87 ff.).

Was wünschen sich die jungen Erwachsenen mit Armutserfahrungen von der Politik?

Einer der zentralen Wünsche der jungen Menschen ist eine bessere schulische Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben. Neben der Berufsorientierung sind dabei für sie alltägliche Themen wie Steuererklärungen, Mietrecht, Sozialrecht, Finanzen oder Versicherungen besonders relevant. Dieses Wissen fehlt vor allem denjenigen, die in armen oder zerrütteten Familien aufgewachsen sind. Sie stehen am Übergang ins Erwachsenenleben im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen und Altersgenossen vor vielen zusätzlichen Herausforderungen.

Fazit

Kinderarmut wirkt sich bis ins Erwachsenenalter negativ aus: Arme Kinder sind als junge Erwachsene in ihren Lebenslagen eingeschränkt, sie erreichen schlechtere Bildungsabschlüsse und sind öfter psychisch belastet. Sie bewältigen die zentralen Entwicklungsschritte am Übergang ins junge Erwachsenenalter mit Verzögerungen und zeigen häufiger gesundheitlich riskantes Verhalten. Gleichzeitig haben sie selbst eine Vielzahl von Ideen, wie jungen Menschen mit Armutserfahrungen eine umfassendere Teilhabe ermöglicht werden kann. Sie wünschen sich Sicherheit für ihre Zukunft und dass ihre Wünsche und Lebensrealitäten politisch gehört und in konkreten Reformen berücksichtigt werden.

Literatur

Volf, I., Sthamer, E., Laubstein, C., Holz, G., Bernard, Ch. (2019): Wenn Kinderarmut erwachsen wird … AWO-ISS-Langzeitstudie zu (Langzeit-)Folgen von Armut im Lebensverlauf. Endbericht der 5. AWO-ISS-Studie im Auftrag des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt. Frankfurt a. M.

Autorin:

Dr. Irina Volf ist Politologin und promovierte Psychologin. Sie leitet die Themenbereiche „Armut“ und „Radikalisierungsprävention“ am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Zeilweg 42, 60439 Frankfurt am Main, irina.volf@iss-ffm.de