Eine gemaltes Bild, wo eine junge Frau mit dem Rücken zum:zur Betrachter:in in einem mittelalterlichen Kleid einen linken Arm in Richtung eines Astes hebt, um dort einen Apfel zu pflücken. Der Baum befindet sich rechts von der jungen Frau.

Foto: © privat
aus Heft 3/2023 – Serie
Michael Brockmann

Lebensthemen von Kindern in Märchen

Kinder sind in ihrem Heranwachsen mit verschiedensten Lebensthemen und Herausforderungen konfrontiert, mit und an denen sie wachsen: Sie treten in Beziehung zu ihren Erziehungsberechtigten, Geschwistern, weiteren Verwandten und nahestehenden Personen, prägen Haltungen und damit verbundene Handlungsweisen aus, positionieren sich ihren Mitmenschen gegenüber und fällen bewusste und unbewusste Entscheidungen bezogen auf ihr inneres und äußeres Verhalten. Das heißt, sie wachsen mit Blick auf ihre soziale und emotionale Entwicklung, wobei auch Verweigerungen oder Stagnationen dazugehören.

Für die Unterstützung und Begleitung von Kindern in ihrer biografischen Entwicklung können Pädagog:innen unter anderem auf Märchen zurückgreifen, die ein breites Spektrum an Themen und Beispielen liefern, an denen Momente von persönlicher Bewusstwerdung, Klärung, Reflexion und Entscheidungsfindung deutlich werden. Märchen erlauben es den Kindern, ihre persönlichen Lebensthemen und -situationen wiederzuerkennen und diesen aus der notwendigen Distanz oder der zugelassenen Nähe zu begegnen, je nachdem, wie es für sie stimmig ist.

Wie in dieser Reihe bereits deutlich gemacht wurde, können Märchen zudem zur Krisen- und Konfliktverarbeitung, auch bei körperlichen Beeinträchtigungen, herangezogen werden. Im sechsten und letzten Teil der Reihe „Kinderschicksale in der Märchensammlung der Gebrüder Grimm“ steht neben den vielfältigen Lebensthemen von Kindern das Thema Ausgrenzung im Kontext einer Sinnesbeeinträchtigung am Beispiel des Märchens „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ im Vordergrund. Wie aus Interviews mit ehemaligen Schüler:innen mit einer Sinnesbeeinträchtigung im Hinblick auf ihre Kindheit hervorging, müssen Kinder mit individuellem Förderbedarf noch mehr Kraft und Engagement aufbringen, um ihre Selbstständigkeit und eine autarke Lebensweise zu erreichen. Es sind nicht nur, wie eingangs beschrieben, die vielschichtigen Lebensthemen zu meistern, sondern neben diesen muss auch die Akzeptanz und die Überwindung der bestehenden Beeinträchtigungen gelingen (vgl. Brockmann 2021).

Kinder mit Besonderheiten in der Sinnesentwicklung – „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“

„Sie sprachen […]: ,Du mit deinen zwei Augen bist nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns.‘“ (Grimm 1978, 612, Herv. des Verf.).

Kurzfassung des Märchens

Die drei Schwestern mit den Namen Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein – die jüngste hat ein Auge, die mittlere zwei und die älteste drei Augen – wachsen bei ihrer Mutter auf. Wegen ihres gewöhnlichen Aussehens unterstellen die beiden anderen Schwestern Zweiäuglein, dass sie sich für etwas Besseres halte. Daher quälen sie Zweiäuglein, indem sie sie hungern lassen. In ihrer Not erscheint Zweiäuglein beim Hüten der Ziegen eine Frau, die ihr eine Ziege schenkt. Mithilfe eines Spruches lässt diese Ziege Zweiäuglein einen reich gedeckten Tisch erscheinen.

Als Zweiäugleins Schwestern und ihre Mutter davon erfahren, ersticht die Mutter die Ziege. In ihrer wiederkehrenden Not erscheint Zweiäuglein erneut die geheimnisvolle Frau und rät ihr, die Eingeweide der Ziege zu vergraben. Dies geschieht und aus den Eingeweiden wächst alsdann ein Baum mit silbernen Blättern und goldenen Früchten, die nur von Zweiäuglein gepflückt werden können; vor den Schwestern und der Mutter weichen die Früchte zurück. Ein Rittersmann erlöst Zweiäuglein dann von ihren Leiden der Unterdrückung, indem er sie auf sein Schloss mitnimmt, und auch der silberblättrige Baum findet seinen Platz vor dem Schloss. Zweiäugleins Schwestern verarmen über die Jahre völlig und treffen eines Tages bettelnd vor dem Schloss wieder auf Zweiäuglein, die sie aufnimmt und pflegt. Ihre Taten aus der Kindheit bereuen die Schwestern nun von Herzen.

Interpretation des Märchens

Das Märchen „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ bietet viele Lebensthemen, die Anlass für Gespräche und Reflexionen im pädagogischen und biografischen Kontext zulassen. Im Vordergrund steht das Thema Ausgrenzung bei „Besonderheiten in der Sinneskonstitution“. Bemerkenswert ist, dass Zweiäuglein von ihren Schwestern aufgrund körperlicher Eigenschaften diskriminiert wird, da sie nicht besonders, wie sie, sondern „gewöhnlich“ ist: „Weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden […]“ (Grimm 1978, 612). Sie sieht sich der Eifersucht, den Unterstellungen, der Ausbeutung und Unterdrückung der eigenen Familie ausgeliefert, denn diese „[…] taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten“ (ebd.). Es zeigt sich jedoch, dass die jeweiligen Gedanken, Haltungen und Verhaltensweisen aller Schwestern ihren jeweiligen Lebensweg prägen. In der Leiderfahrung erfährt Zweiäuglein Hilfe in Form der ihr erscheinenden Frau, der Ziege und des Ritters. Sie entwickelt trotz des ihr angetanen Leids keine Rachegefühle, sondern Mitgefühl und ist in der Lage, ihren Schwestern zu verzeihen. Der Reichtum des Baumes kann als innerer Reichtum interpretiert und der Schutz der Burg als beständige Sicherheit im Leben verstanden werden. Überheblichkeit, Verachtung, Ausgrenzung und Erniedrigung, die keine Beständigkeit haben, stehen Vertrauen in das Leben, gesundem Selbstwert, Selbstvertrauen und Selbstachtung gegenüber. Einäuglein und Dreiäuglein ihrerseits erfahren als Konsequenz ihrer niederen Haltungen und Verhaltensweisen Leiderfahrungen bis zur vollkommenen Verarmung. Dieser Entwicklungsweg beinhaltet jedoch die Möglichkeit der inneren Erkenntnis und der damit verbundenen Reue. „Zweiäuglein aber hieß sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also daß die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.“ (Ebd., 619)

Die Lebenssituation von Zweiäuglein ist nicht nur aufgrund der Unterschiedlichkeit der Schwestern mit Blick auf den Sehsinn bestimmt. Die Familiensituation der drei Schwestern eröffnet weitere bedeutsame Themen. Zweiäuglein und ihre Schwestern werden von ihrer Mutter alleine großgezogen. Die Mutter solidarisiert sich mit der jüngeren und der ältesten Tochter und bringt ihrer mittleren Tochter, so wie die Schwestern, Verachtung entgegen, obwohl sie selbst zwei Augen hat. Alle drei erhöhen sich selbst und empfinden sich gegenüber Zweiäuglein als etwas Besseres. Zweiäuglein ist als „Sandwichkind“ und Schwester zweier Geschwister mit außergewöhnlichen Sinnesmerkmalen weiteren herausfordernden Situationen ausgesetzt, die sie in ihrer Entwicklung maßgeblich prägen. Sie scheint das vergessene Kind zu sein, das um Aufmerksamkeit und Zuneigung kämpfen muss. Es bedarf Menschen, die es im Leben stärken und begleiten.

Ähnliches berichtet eine ehemalige Schülerin (Elisa F.) mit einer Sinnesbeeinträchtigung in einem narrativen Interview zum Thema Freundschaft und Vertrauen. Sie schildert einen Schicksalsschlag, der ihr in der Volksschulzeit im dritten Schuljahr im Alter von acht Jahren widerfuhr – Diagnose Hirntumor. Die Folge waren unter anderem eine dauerhafte Einschränkung der Sehfähigkeit, Gesichtslähmungen und ein Angewiesensein auf den Rollstuhl. Über diese und weitere äußere Merkmale hinaus entstanden jedoch die für sie markantesten Veränderungen in ihrem Inneren (vgl. Brockmann 2021).

„Von heute auf morgen entstand ein Misstrauen dem Leben gegenüber, […] da mir der Boden unter den Füßen also weggezogen wurde. Erst schrittweise konnte ich wieder Vertrauen in das Leben fassen. Neben meiner Familie haben mir auch meine Freunde dabei geholfen, wieder Vertrauen zu fassen.“1

Die Ausführungen von Elisa F. zeigen, welche Bedeutung und positive Beeinflussung Mitmenschen (insbesondere auch pädagogische Fachkräfte) auf das Leben von Kindern mit einem Lebensschicksal haben können.

„Andere Menschen haben mir geholfen, wieder Vertrauen zum Leben zu fassen – zu einem Leben mit allen Facetten, mit allem, was dazugehört.“2

Literatur

Brüder Grimm (1978): Kinder- und Hausmärchen. Darmstadt: Winkler, 612–619.

Brockmann, M. (2021): Gelebtes Vertrauen in Freundschaftsbeziehungen. Über die Bedeutung der Vertrauensbildung in Freundschaftsbeziehungen bei Kindern mit einem individuellen Förderbedarf. In: Forum für Extratexte, Menschen. Fachzeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten. Online unter URL: https://www.zeitschriftmenschen.at/content/view/full/119247 (letzter Zugriff: 03.04.2023)

Fußnoten

1 Interview mit Elisa F. zum Thema Freundschaft und Vertrauen vom 23.08.2021.

2 Ebd.

Autor: 

Michael Brockmann M. A. ist Leiter des Zentrums für Pädagogisch-Praktische Studien der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems und lehrt insbesondere im Bereich der Lehrer:innenprofessionalität im Bachelorstudiengang der Primarstufe. Zudem war er mehrere Jahre als psychosozialer Berater in der Begleitung von Studierenden tätig.

michael.brockmann@kphvie.ac.at